• 29.12.2003 15:03

Dupasquier: Sind nicht vom Mitbewerber abhängig

Michelins Motorsportdirektor Pierre Dupasquier analysiert noch einmal die abgelaufene Saison und die weiteren Aussichten in der Formel 1

(Motorsport-Total.com) - Frage: "Herr Dupasquier ? Michelin ist auf nahezu allen erstklassigen Bühnen des internationalen Motorsports erfolgreich aktiv. Warum leistet sich Ihr Arbeitgeber ein so komplexes Engagement?"
Pierre Dupasquier: "Motorsport besitzt für uns einen enorm hohen Stellenwert. Dies liegt in der Geschichte des Unternehmens begründet. Michelin hat einst zwar nicht den luftgefüllten Reifen erfunden, wohl aber zum Beispiel das leicht zu wechselnde Rad ? einer der Gründe, warum Renault 1906 den allerersten Grand Prix der Automobilgeschichte gewann. Später entwickelten wir mit der Radialkarkasse für Straßenpneus eine neue Technologie, die bis heute den Markt dominiert. Anfang der 60er Jahre gab es dann eine Gruppe von Ingenieuren, die das Potenzial des Radial-Konzepts unter extremen Bedingungen erforschen wollte. Eine Anfrage von Citroën und wenig später auch Alpine, sie bei ihrem Rallye-Engagement und nachher auch in Le Mans zu unterstützen, kam da wie gerufen. Doch die Anfänge waren noch sehr bescheiden..."

Titel-Bild zur News: Pierre Dupasquier

Pierre Dupasquier zieht eine überaus positive Saison-Bilanz

Frage: "Und schon wenig später betrat Michelin die Formel 1-Bühne..."
Dupasquier: "Auch dies geht wieder auf die Bitte eines Herstellers ? nämlich Renault ? zurück, die uns anboten, mit Ihnen den Schritt in den Grand-Prix-Sport zu wagen. Für uns stellte dies einen sehr großen Schritt dar. Es dauerte nicht lange, bis mich Herr Ferrari anrief und sich erkundigte, was er tun müsse, um auch Michelin-Rennreifen zu bekommen?"#w1#

Frage: "Was haben Sie geantwortet?"
Dupasquier: "Ich habe ihn gefragt, ob er den damaligen Chefeinkäufer von Fiat kennt..."

Frage: "Eine Hand wäscht die andere...?"
Dupasquier: Michelin betreibt Motorsport nicht aus Marketing-Gründen. Wir kaufen uns nicht ? wie manche unserer Wettbewerber ? mit Geld in bestimmte Rennserien ein. Wir engagieren uns als Partner der Automobilhersteller."

Formel-1-Rückkehr von BMW erbeten

Frage: "Das war auch bei Ihrer Rückkehr in die Formel 1 so?"
Dupasquier: "Ja. Wir gingen 1999 gemeinsam mit BMW in Le Mans an den Start, haben das Rennen gewonnen und wollten uns danach aus dem Sportwagen-Bereich wieder etwas zurückziehen. Doch Karl-Heinz Kalbfell lud François Michelin und mich zu einem Gespräch nach München ein, an dem auch Dr. Wolfgang Reitzle teilnahm, damals als Entwicklungschef auch zuständig für Motorsport. Sie baten uns, sie bei ihrem Comeback in der Formel 1 zu unterstützen. (Lachend:) Was sollten wir da sagen?"

Frage: "Sie hätten auch ablehnen können..."
Dupasquier: "Sicherlich. Aber das wollten wir gar nicht, denn diese tiefgreifende Zusammenarbeit bedeutet auch, dass wir von einem reinen Zulieferer zum Partner aufsteigen. Heute dürfen wir sogar behaupten, dass sich aus dieser Kooperation eine echte Freundschaft zwischen beiden Unternehmen entwickelt hat. Unser Einstieg in die Formel 1 hat viel weniger mit konkurrierenden Reifenmarken zu tun, als die meisten glauben."

Frage: "Oft hieß es in der vergangenen Saison: je wärmer, desto Michelin ? was ist daran richtig?"
Dupasquier: "Es sollte besser heißen, dass wir auch bei hohen Asphalttemperaturen sehr gut sind, denn wir haben uns bei niedrigen Temperaturen keine Blöße erlaubt. Anders herum wird eher ein Schuh daraus: Unser Wettbewerber bekommt größere Probleme als wir, wenn die Quecksilbersäule höher steigt."

Frage: "Der Brasilien-Grand-Prix mit seinen extremen Witterungsschwankungen zeigte größere Unterschiede auf."
Dupasquier: "Ja. Ich habe uns im Vorteil gesehen, wenn die so genannten 'Full wet'-Pneus bei starkem Niederschlag eingesetzt werden konnten oder auch, wenn unsere Rillenslicks auf leicht feuchter Bahn funktionieren müssen. Bei 'Intermediates' sahen wir nicht so gut aus. Doch versprochen: Daran werden wir über den Winter arbeiten. Unser Ziel ist klar definiert: Wir wollen einen Intermediate entwickeln, der rund zwei Sekunden pro Runde schneller ist ? und damit besser als das Produkt unserer Konkurrenz, auch was das Aquaplaningverhalten betrifft, die Haltbarkeit auf trockenem Asphalt und die gleichmäßige Leistungsfähigkeit."

Ferrari zu beliefern, ist kein Thema

Frage: "Mit BMW WilliamsF1, McLaren-Mercedes, Renault, Jaguar, Toyota und ? ab der kommenden Saison ? auch BAR-Honda dürfen Sie sechs der sieben in der Formel 1 aktiven Automobil-Hersteller zu Ihren Partnern zählen. Fehlt da nicht noch Ferrari als Traumkunde?"
Dupasquier: "Nein, denn dann hätten wir keine echte Konkurrenz mehr, und das wäre wirklich ein Desaster. Das Reglement schreibt vor, dass wir auf Wunsch bis zu 60 Prozent des Starterfeldes mit Reifen ausrüsten müssen. Diese Anforderungen erfüllen wir, seitdem BAR-Honda zu uns gestoßen ist. Selbst wenn die Anfrage käme, müssten wir Ferrari nicht beliefern."

Frage: "Der Konkurrenzdruck in der Formel 1 ist enorm hoch. Wie bereitwillig teilen Ihre Partnerteams mit Michelin auch sensible Informationen?"
Dupasquier: "Wir garantieren es allen unseren Partnern, niemanden zu bevorzugen. Jeder kann auf das gleiche Know-how von uns zugreifen. Doch alle sechs Teams arbeiten anders und stellen auch andere Fragen an uns. Da unterscheidet sich zum Beispiel David Whitmarsh von McLaren-Mercedes sehr von Patrick Head und Sam Michael von BMW WilliamsF1. Wir beantworten alle Fragen, die uns zu unseren Reifen gestellt werden."

"Manchmal müssen wir auch Überzeugungsarbeit leisten, wenn zum Beispiel ein von uns neu entwickelter, verbesserter Vorderreifen die Balance eines Autos aus dem Gleichgewicht bringt. Dann drängen wir auf eine Fortentwicklung im Bereich der Hinterachse ? wohl wissend, dass diese neue Lösung woanders funktioniert. Auch wenn darüber zwei bis drei Rennen vergehen können. Doch wir verraten keine Geheimnisse, niemals. Würden wir solch einen Fehler begehen, wären wir sofort weg vom Fenster. Und im Umkehrschluss vertrauen ja auch wir darauf, dass unsere Partner unser Know-how nicht unserem Konkurrenten offenbaren."

Frage: "Unterscheiden sich die Ansprüche der einzelnen Teams sehr?"
Dupasquier: "Alle Rennställe unterliegen den gleichen physikalischen Gesetze und operieren innerhalb desselben technischen Reglements, das alles haarklein definiert. Da alle dem Optimum entgegenstreben, pendelt sich die Entwicklung schnell in die gleiche Richtung ein. Zu Beginn der vergangenen Formel 1-Saison haben wir mit sechs oder sieben unterschiedlichen Konstruktionen begonnen, von denen schon bald nur noch wenige übrig blieben, die allen taugten."

Frage: "Dennoch strapazieren die einzelnen Formel 1-Rennwagen ihre Pneus unterschiedlich?
Dupasquier: "Durchaus. Der Renault R23 zum Beispiel ging mit seinen Reifen extrem sanft um."

"Schlechte Reifensätze gibt es nicht"

Frage: "Woran denken Sie, wenn sich einzelne Fahrer nach dem Rennen über einen 'schlechten' Reifensatz beschweren?"
Dupasquier: "Daran, dass es so etwas gar nicht geben kann, denn Rennreifen werden nicht paarweise produziert. Oftmals liegen die Ursachen für die Beeinträchtigung des Fahrverhaltens ganz woanders: unterschiedliches Aufheizen der Pneus zum Beispiel oder minimale Abweichungen des Luftdrucks, wenn der Reifen seine Betriebstemperatur erreicht hat. Selbst die Art und Weise, wie die Felgen vor der Montage der Rillenslicks gewaschen wurden, kann einen Unterschied ausmachen."

Frage: "Michelin wurde nach dem Großen Preis von Ungarn beschuldigt, Vorderreifen anzubieten, die im Laufe des Rennens eine zu breite Aufstandsfläche entwickeln. Wie beurteilen Sie diese 'Affäre' im Rückblick?"
Dupasquier: "Es existiert bis heute keine Definition, wie die Profilbreite benutzter Formel 1-Pneus nach Rennende vergleich- und nachvollziehbar ermittelt werden soll. Wir bestehen aber darauf, dass diese Problematik gelöst wird. Nie wieder soll jemand ungestraft die falsche Behauptung aufstellen dürfen, Michelin würde sich außerhalb des Reglements bewegen. Das würde auch keiner unserer Partner akzeptieren."

Frage: "Wie konnte es zu diesem Disput kommen?"
Dupasquier: "Ferrari hatte ein Auto gebaut, das zu 100 Prozent auf aerodynamische Effizienz getrimmt war. Darum griff die Scuderia auch nicht auf jene Vorderreifen unseres Wettbewerbers zurück, die ebenso breit bauen wie unsere ? dies hat Bridgestone im Internet selbst eingeräumt. Allerdings wurde diese Website nach wenigen Tagen eiligst wieder gelöscht..."

Frage: "In Monza überraschten Sie dann mit einem 'neuen' Vorderreifen, der sich sogar als schneller erwies als sein Vorgänger."
Dupasquier: "Dieser Pneu besaß lediglich eine leicht geänderte Silhouette, da wir die Schulterkante des Profils etwas steiler ausgeführt haben ? konstruktiv blieb alles beim Alten. Warum dieser Reifen 0,1 bis 0,2 Sekunden pro Runde schneller war, ist uns selbst nicht ganz klar. An der Aerodynamik jedenfalls lag es nicht, da der Pneu nicht schmaler war."

Michelin würde auch als Alleinausrüster bleiben

Frage: "Sind Sie der Meinung, den Faktor Rennreifen komplett verstanden zu haben?"
Dupasquier: "Wir kennen nicht die Antwort auf alle Phänomene, die uns begegnen ? aber immer mehr. Unser Ziel ist es, unser Know-how stetig auf- und auszubauen. Alles was wir unternehmen, dient nur diesem einen Zweck: Wir wollen bis ins letzte Detail begreifen, wie die Dinge funktionieren."

Frage: "In der kommenden Saison warten mit Bahrain und China zwei neue Formel 1-Rennstrecken auf Michelin. Wie bereiten Sie sich vor?"
Dupasquier: "Ein schwieriges Thema. Aber wir haben eine gewisse Systematik entwickelt und können die unterschiedlichen Asphalt-Typen klassifizieren, um anschließend mit Hilfe unserer Hochleistungsrechner bestimmte Situationen simulieren zu können. Doch in Bahrain wird die Strecke erst zwei Wochen vor dem Grand Prix geteert. Die Chance, dass Bridgestone oder auch wir dort komplett verwachsen, ist enorm groß."

Frage: "Zumal der stetig über die Bahn wehende Wüstensand die Bedingungen zusätzlich komplizieren könnte..."
Dupasquier: "Absolut richtig. (Lachend:) Aber damit haben wir ja schon in Zandvoort und Ungarn gewisse Erfahrungen sammeln dürfen."

Frage: "Würde Michelin auch als Alleinausrüster in der Formel 1 bleiben?"
Dupasquier: "Ohne Konkurrenz wäre es natürlich weniger interessant und auch die öffentliche Wahrnehmung geringer. Aber wir machen unser Grand-Prix-Engagement nicht von der Anwesenheit eines Mitbewerbers abhängig. Wir bleiben so lange in der Formel 1, wie wir dort von unseren Partnern aus der Automobilindustrie gebraucht werden. Wir möchten die Kommunikation mit den Herstellern nicht anderen überlassen, denn dabei geht es um weit mehr als nur die Rennerei. Michelin denkt nicht darüber nach, diese Bühne zu verlassen."