Doch nicht mehr unnütz: Ricciardo weiß Sim-Racing mehr zu schätzen
Daniel Ricciardo hat von Sim-Racing früher nicht viel gehalten, doch mittlerweile erkennt er die Vorzüge und gibt selbst auch virtuell Gas - Wie real ist das?
(Motorsport-Total.com) - Seit das erste offizielle Formel-1-Videospiel 1995 auf die Playstation kam, war Daniel Ricciardo ein Fan der Spiele. Echte Fahrernamen, Kult-Kommentator Murray Walker, dazu für die damalige Zeit ausgereifte Strecken und Fahrzeugmodelle halfen dem Spiel dabei, einer der bestverkauften Klassiker zu werden.
© Motorsport Images
Daniel Ricciardo konnte mit Sim-Racing nicht viel anfangen Zoom
"Das war grandios. Als Kind habe ich das sehr gerne gespielt", lacht der Australier. Und obwohl sich die Grafik, die Modellierung und das Handling im Laufe der Jahre enorm weiterentwickelt haben und der neueste Titel F1 2021 neue Höchstwerte erreicht, hatte sich Ricciardos Meinung über Rennsimulationen lange Zeit nicht wesentlich verändert. Für ihn waren es immer noch nur Spiele.
Doch der technologische Fortschritt und der neue Grad an Realismus, den die Rennsimulationen bieten, haben Ricciardos Sichtweise stark verändert. Er hat gesehen, wie hochrangige Sim-Racer ihre Fähigkeiten in die echte Welt transferiert haben, und er hat auch gesehen, wie die jüngere Generation an Formel-1-Stars wie Max Verstappen und Lando Norris von ihren Online-Erfahrungen profitiert haben.
Kombiniert man dies mit dem zunehmenden Fokus der Formel 1 auf Simulatoren und den immer stärker werdenden Beschränkungen bei echten Tests, ist es kein Wunder, dass sich Ricciardos Denkweise geändert hat.
Retro: So geil waren die alten F1-Games!
Am 16. Juli erscheint das neue Formel-1-Game. Grund genug, mal in legendäre alte Spiele wie Formula 1 oder Grand Prix 2 reinzuschauen! Weitere Formel-1-Videos
Jetzt zieht er sogar in Erwägung, zum ersten Mal einen eigenen Simulator für zuhause zu kaufen, denn mittlerweile ist er der Meinung, dass Gaming auf einem Level ist, von dem er ebenfalls profitieren kann. "Zuerst hielt ich es nur für einen spaßigen Zeitvertreib, aber ich erkenne jetzt definitiv mehr darin", sagt er zu 'Motorsport.com'.
"Einige Sim-Racer konnten ihre Fähigkeiten mit in das echte Rennauto übertragen. Das hat mir etwas die Augen geöffnet. Wir haben über F1 1995 gesprochen, aber das ist etwas komplett anderes als das, was wir jetzt haben. Mein Kopf dachte die ganze Zeit, dass es nur ein Spiel ist. Jetzt fragt er sich: Was kann ich daraus lernen?"
Lerneffekte für die eigene Karriere
Ricciardo glaubt, dass er bei den Rennsimulationen vor allem dadurch profitieren kann, dass er fokussiert bleibt und sich mental auf die Momente vorbereitet, in denen er im echten Leben Leistung bringen muss.
"Die größte Herausforderung aller Formel-1-Fahrer ist, dass wir an jedem Wochenende nur wenige Chancen bekommen, einen neuen Reifensatz aufzuziehen und die perfekte Runde hinzulegen. Manchmal liegen zwischen den Rennen drei Wochen, und am Ende der Saison sind es zwei oder drei Monate."
"Es ist schon verrückt, dass es bei einem Sport, der so präzise ist und bei dem so viel Technik im Spiel ist, so schwierig ist, jemals wirklich perfekt zu sein, weil wir einfach nicht die nötigen Kilometer bekommen."
© Codemasters
Die neuen Formel-1-Spiele sind zunehmend realistischer geworden Zoom
"Darum bin ich definitiv aufgeschlossener. Ich mochte die Formel-1-Simulatoren immer, aber mit dem ganzen Zeug zuhause in den letzten sechs bis zwölf Monaten geht es darum, immer wieder Runden zu fahren."
"Ich halte das für wirklich wichtig. Selbst wenn das Auto nicht das gleiche Auto ist, es könnte zum Beispiel auch ein GT-Auto sein, geht es darum, sich in diese Umgebung zu versetzen: 'Okay, das ist die Runde, die muss ich schaffen'. Es ist eine mentale Sache, bei der man versucht, sich selbst unter Druck zu setzen."
Vergleich zum realen Leben
Als Botschafter des neuen Formel-1-Spiels konnte Ricciardo einige hautnahe Erfahrungen machen und auch direkt mit den Entwicklern bei Codemasters sprechen. Dadurch kann er perfekt vergleichen, wie sich das neueste Spiel gegen die echte Welt schlägt - sei es ein Grand Prix oder ein moderner Formel-1-Simulator.
Niemand macht sich Illusionen, dass solche Spiele die echten körperlichen Auswirkungen auf den Fahrer reproduzieren können. Doch laut Ricciardo gibt es einige subtilere Bereiche, in denen das Spiel die Erfahrungen der echten Welt wirklich gut wiedergeben kann.
"Früher war alles recht flach, selbst Dinge wie Randsteine und Gras. Du hast über den Controller kein Feedback bekommen. Alle Strecken fühlten sich gleich an und konnten Unebenheiten und solche Dinge gar nicht wiedergeben. Heute ist da mehr Gefühl da."
Sollen E-Sport-Unfälle ernst genommen werden?
Sollte man Unfälle beim Sim-Racing genau so ernst nehmen wie im richtigen Rennsport? Darüber diskutieren Jess und Luke in dieser Woche. Weitere Formel-1-Videos
Auch die physikalischen Modelle sind deutlich besser geworden und stimmen mit dem überein, was die Fahrer bei der Jagd nach einer guten Rundenzeit erleben. "Du hast deutlich mehr Rückmeldung, wenn das Auto beispielsweise rutscht", sagt Ricciardo. Du kannst es besser abfangen. Früher war es mehr Arcade-mäßig, wie ich es ausdrücken würde. Entweder hattest du 100 Prozent Grip oder gar keinen. Es gab kein Gefühl."
"Wir finden eine Menge Rundenzeit über den Kurvenausgang. Wenn du früh auf das Gas gehst, dann hast du mit einem Heckantrieb so viel Leistung, dass sich deine Rundenzeit zu etwas ziemlich Schnellem summiert."
"In Videospielen hast du früher Zeit durch spätes Bremsen und die Hilfe einiger Fahrassistenten gewonnen. Aber jetzt korreliert die Rundenzeit mit der echten Strecke. Wir fahren eher langsam in die Kurve rein und schnell raus. Ich denke, so erreiche ich die beste Rundenzeit. Auch aus der Sicht ist das realistischer."
Aber wie fällt der Vergleich von Spielen wie F1 2021 mit den echten Simulatoren der Teams aus?
Spiel vs. Simulator
"Sie sind näher dran", sagt er. "Es gibt Dinge wie Streckenkarten, die etwas unterschätzt werden, weil sie der realen Strecke sehr nahe kommen können. Hier sind die Simulatoren nahezu perfekt, denn die Formel-1-Teams können alle Messungen an der Strecke vornehmen und alle Erhebungen und Neigungen und so weiter ermitteln. In dieser Hinsicht hat das Spiel eine Menge erreicht, und ich denke, dass es auf den meisten Strecken sehr nah dran ist."
"Selbst bei Dingen wie Verbremsern, Traktion und all dem ist es schwierig, da eine Prozentzahl zu geben. Aber ich habe immer gesagt, wenn die Formel-1-Simulatoren bei vielleicht 80 Prozent zum echten Auto liegen, dann waren die Spiele für zuhause vielleicht bei 30 Prozent. Aber jetzt sind sie bei deutlich über 50 Prozent."
Doch während Ricciardo die Vorzüge und den Spaß von Sim-Racing erkannt hat, gibt es im Motorsport immer noch Menschen, die seinen Enthusiasmus nicht teilen. Zuletzt hatte Filmproduzent und Automotive-Ingenieur James Glickenhaus in der Community für Aufregung gesorgt, als er virtuellen Rennsport als "bedeutungslosen Mist" bezeichnet hatte.
Auf die Frage, ob er eine ähnliche Meinung vertreten hat, gibt Ricciardo zu, dass er zeitweise auch abfällig zum Sim-Racing geblickt hat. Aber jetzt stehen die Dinge für ihn anders. "Ich werde ehrlich sein: Am Anfang war ich auch so, weil ich mein ganzes Leben lang echten Rennsport betrieben habe", erklärt er.
"Ich ziehe daraus meinen Stolz, und wenn man in eine Mauer fährt, dann tut es weh. Im Simulator ist das nicht so. Ich schätze also, es steckt etwas Stolz dahinter. Aber jetzt wo einige Sim-Racer ihr Talent im echten Auto gezeigt haben, da schätze ich sie nicht mehr so gering, dass sie nur Couch-Potatoes wären, die zuhause spielen."
"Da steckt definitiv Talent und Anstrengung dahinter. Das respektiere ich. Und ich bin ehrlich: Es hat mich überrascht, wie gut sie sein können. Selbst wenn sie noch nie in einem echten Auto waren, denke ich, dass sie sich gut schlagen könnten."
"Aber die große Frage ist die Angst", meint er weiter. "Können sie die Angst ausblenden in dem Wissen, dass die Mauer wehtun wird? Aber aus Talentsicht ist das ziemlich beeindruckend."
Aber es gibt auch einen wirklich wichtigen Faktor, in dem die Formel-1-Spiele für Ricciardo unschlagbar sind: die Chance, als er selbst zu spielen. "Ich kneife mich, dass ich in der Formel 1 bin. Aber ich kneife mich auch, dass ich im Spiel bin", lacht er.
"Ich weiß, wie cool das als Kind war, und ich denke gerne daran, dass jedes Kind auf der Welt dieses Spiel zuhause haben könnte und dann sagt: 'Oh, Daniel Ricciardo. Ich möchte heute als er spielen.' So blöd das klingt, aber das ist schon ziemlich cool!"
Neueste Kommentare