• 26.04.2008 09:04

  • von Dieter Rencken

Die große Technologie-FAQ mit Geoff Willis

Red-Bull-Konstrukteur Geoff Willis im Interview über die 2009er-Regeln, KERS, das Comeback der Slicks und denkbare neue Technologien

(Motorsport-Total.com) - Die Formel 1 steht vor ihrer größten Reform der vergangenen Jahre: 2009 tritt ein neues technologisches Reglement in Kraft, das unter anderem das Comeback der Slicks beinhaltet, eine Abrüstung der Aerodynamik sowie vor allem die Einführung von energierückgewinnenden Systemen. Red-Bull-Konstrukteur Geoff Willis erläutert all das für die 'Motorsport-Total.com'-Leser.

Titel-Bild zur News: Geoff Willis

Geoff Willis arbeitet bei Red Bull eng mit Stardesigner Adrian Newey zusammen

Frage: "Geoff, das Reglement für 2009 ist so anders, dass ich nicht glaube, dass man ein aktuelles Auto einfach anpassen kann. Ist das richtig?"
Geoff Willis: "Eine gute Frage. Die aerodynamischen Oberflächen werden jedenfalls ganz anders sein. Das Bodywork darf bei weitem nicht mehr so komplex sein, Frontflügel, Heckflügel und Diffusor müssen ganz anders gestaltet werden. Das ganze Aerodynamikpaket ist anders. Um zu sagen, dass man ein aktuelles Chassis nicht anpassen kann, ist es noch ein bisschen früh. Das ist einmal die aerodynamische Seite."#w1#

Wir wirken sich die Slicks aus?

"Die andere Sache ist die Einführung der Slickreifen. Das wird sich natürlich auf die Lebensdauer der Reifen auswirken, damit auch auf die Strategie und auf die Tankkapazität. Wir müssen abwarten, was unsere Simulationen sagen. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass jemand ein 2008er-Auto auf ein 2009er-Bodywork umbauen will. Gleichzeitig könnte es Teams geben, die sich einen Vorteil darin sehen, den Schritt in zwei Etappen zu vollziehen. Es sind jedenfalls einschneidende Änderungen, das steht fest."

"In ein nicht umgebautes 2008er-Chassis kann man KERS nicht einbauen." Geoff Willis

Frage: "Jetzt hast du KERS gar nicht erwähnt. Könnte man dieses System in ein aktuelles Auto überhaupt einbauen?"
Willis: "Es gibt verschiedene Technologien für KERS. Es gibt einen mechanischen Ansatz und einen elektrischen beziehungsweise elektromechanischen. Man kann KERS vor dem Getriebe einbauen oder vor dem Motor. Wenn man es vor dem Motor einbaut, dann wirkt es sich auf das Chassis aus. Es stimmt also: Man kann nicht einfach ein aktuelles Chassis übernehmen, aber man kann ein aktuelles Chassis schon für diese Installation anpassen. Die schnelle Antwort ist aber: In ein nicht umgebautes 2008er-Chassis kann man KERS nicht einbauen."

Frage: "Was sind für dich die Hauptmerkmale des neuen Reglements?"
Willis: "Die Overtaking-Working-Group hat lange Zeit im Windkanal gearbeitet, um zu erreichen, dass man besser überholen kann, dass die Performance hinter einem anderen Auto nicht so stark beeinträchtigt wird."

Frage: "Wie soll es gehen, den Anpressdruck für 2009 zu reduzieren, aber nicht gleichzeitig mehr Luftwiderstand zu haben?"
Willis: "Die größten Produzenten von Luftwiderstand an einem Auto sind die Räder und der Heckflügel. Der Heckflügel wird 2009 tiefer, aber schmäler sein. Es ist einfach eine ganz neue Aerodynamik, in allen Bereichen. Wir arbeiten momentan sehr hart daran. Im Moment befinden wir uns auf einem sehr guten Weg, wir machen Fortschritte. In den nächsten Monaten müssen wir die Designs optimieren. Ich bin schon gespannt, wie nahe die Teams 2009 beisammen liegen werden - ob es noch genug technischen Spielraum gibt oder ob alle Autos fast gleich sein werden."

Frage: "Dürfte Ferrari mit dem neuen Nasenloch 2009 an den Start gehen?"
Willis: "Soweit ich mich erinnern kann, haben wir uns darauf geeinigt, dass die Nase geschlossen sein muss. Also nein, ich glaube nicht."

Frage: "Im Endeffekt funktioniert dieses Nasenloch ja wie ein weiterer Flügel, nicht wahr?"
Willis: "Sie versuchen damit, den Druck unter der Nase zu reduzieren, indem sie die Luft ableiten."

Gewichtsverlagerung wird nach vorne wandern

Frage: "Du hast vorhin die Auswirkungen der Slicks erwähnt. Gehört dazu auch die Radaufhängungsdynamik?"
Willis: "Die Reifeneigenschaften sind ziemlich unterschiedlich. Wir hatten bisher zwei Streckentests. Die wichtigste Frage ist die statische Gewichtsverteilung. Ich denke, die Aufhängungen bekommen wir mit Anpassungen des Radsturzes hin. Ich glaube nicht, dass die Aufhängungslösungen ganz anders ausfallen werden. Es ist folgendes passiert durch die Slicks: Die Front hat im Vergleich zum Heck weniger Grip gewonnen. Daher gibt es die Überlegung, die Gewichtsverteilung eher nach vorne zu verlagern."

"Ich kann mir gut vorstellen, dass wir stärker variierende Strategien sehen werden als jetzt." Geoff Willis

Frage: "Und dann hast du auch noch andere Strategien und größere Benzintanks erwähnt..."
Willis: "Ich denke, dass wir erstens längere Stints sehen werden - und zweitens sollte es einfacher sein, andere Autos zu überholen. Ich kann mir gut vorstellen, dass wir dadurch wieder stärker variierende Strategien sehen werden als jetzt."

Frage: "Hätte man nicht die Gelegenheit gehabt, auf Profilreifen umzustellen wie im Straßenverkehr? Denn Bridgestone hat kaum Erfahrung mit Slicks, sie haben nur 1997 die Saison bestritten - mit ganz wenigen Teams..."
Willis: "Das stimmt. Als wir erstmals das neue Reglement diskutiert haben, hatten einige den Vorschlag, breitere Reifen einzuführen, diese aber dafür zu profilieren. Ich kenne ehrlich gesagt den Grund nicht, warum das nicht gemacht wurde. Es stand zur Diskussion, wenn auch nur kurz. Vielleicht hatte man das Gefühl, dass das eine zu einschneidende Änderung wäre."

Frage: "Wie wird sich die KERS-Einführung langfristig auf die Formel 1 auswirken?"
Willis: "KERS ist natürlich eine interessante Herausforderung für die Teams. Das ist ein neuer technologischer Bereich. Darüber freuen wir uns Ingenieure natürlich, aber vorerst einmal hat die FIA die Energiespeicherkapazität limitiert, sodass man nicht allzu viel Performance gewinnen kann. Wenn man den Gewinn an Performance gegen die Einbußen an Gewicht, Gewichtsverteilung und so weiter aufwiegt, dann reden wir insgesamt nur von ein paar Zehnteln. Das ist kein gewaltiger Schritt."

"Interessant wird sein, wie sich das alles auf die Rennstrategie auswirkt. Richtig einschneidend wird es aber erst, wenn die FIA großzügigere Limitierungen ausgibt. Dann wird KERS sehr wichtig. Energierückgewinnungssysteme werden ihren Weg in die Automobilindustrie finden, das ist ganz klar. Auf jeden Fall schaffen wir in der Formel 1 Interesse dafür. 2013 soll KERS dann ja alle vier Räder betreffen. Dann wird es ein signifikanter Leistungsfaktor."

Frage: "Hätte die Formel 1 auch über den Dieselantrieb nachdenken sollen?"
Willis: "Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich bin Chassisingenieur, von daher bin ich nicht wirklich qualifiziert, das zu beantworten. Ich weiß auch nicht, ob es politisch gesehen richtig wäre. Ich weiß es nicht."

Kommt irgendwann der Diesel?

"Die Frage ist: Soll die Formel 1 neue Technologien einführen, die dann in die Serie gehen? Das muss man sich überlegen. Meiner Meinung nach muss man darüber diskutieren, ob eine Technologie von der Formel 1 promotet werden sollte oder nicht. Aber klar ist, dass man auch mit einem Diesel leistungsstarke Rennfahrzeuge bauen kann. Das wurde ja bereits bewiesen."

"Die Formel 1 ist eine Gratwanderung zwischen einem technischen und einem menschlichen Kampf." Geoff Willis

Frage: "Welche Technologie würdest du dir am meisten wünschen?"
Willis: "Die Formel 1 ist eine Gratwanderung zwischen einem technischen und einem menschlichen Kampf, und mit menschlich meine ich das Talent der Fahrer. Heute ist es für die Ingenieure möglich, die Fahrer in den Hintergrund zu drängen. Wenn wir wollen, dass die Formel 1 eine Wettbewerbsmischung aus Entertainment, Fahrtalent und Technologie bleiben soll, dann können wir uns vom Status quo nicht allzu weit entfernen."

"Es gibt viele interessante Technologien, aber die meisten davon würden den menschlichen Faktor in den Hintergrund drängen. Ich denke da etwa an aktive Aerodynamik, aktive Radaufhängung, Stabilitätskontrolle und so weiter - all das, was es zum Beispiel auch bei Kampfflugzeugen gibt. Aber man muss sich überlegen, wohin die Formel 1 gehen soll. Rein aus Ingenieurssicht reizt uns natürlich alles, was neu und interessant und schwierig ist."

Frage: "Würdest du sagen, dass das Gleichgewicht zwischen menschlichem und technologischem Einfluss im Moment stimmt?"
Willis: "Wir haben halt jetzt eine bestimmte Balance. Wenn wir uns von dieser Balance entfernen, dann müssen wir es wirklich wollen, aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht ungewollt davon wegdriften. Im Anfangsstadium der aktiven Radaufhängung brachte diese Variante viel Performance, aber sie nahm nicht allzu viel vom menschlichen Input weg. Hätten wir diese Richtung aber weiterverfolgt, dann hätten wir heute Fly-by-Wire (elektronisches Gaspedal), Steer-by-Wire (elektronische Lenkung; Anm. d. Red.) und so weiter. Das wäre dann zu viel des Guten."

"Wenn man eine neue Technologie einführt, dann ist es immer sehr schwierig, diese später wieder wegzunehmen. Ich bin ein Befürworter von neuen Technologien, aber man muss vorher darüber nachdenken, wo das alles in ein paar Jahren hinführen könnte. Aber wir sollten aufgeschlossen sein, was diese Dinge angeht."