Die große Monza-Analyse mit Norbert Haug

Wie sich Montoya mit angeschlagenem Reifen über die Ziellinie rettete und warum Räikkönen trotzdem der Mann des Rennens war

(Motorsport-Total.com) - Es ist fast schon der Leitsatz zur Saison: McLaren-Mercedes hatte wieder einmal das schnellste Auto, verlor aber in der Fahrer-WM dennoch weiter an Boden - so geschehen diesmal in Monza. Zwar feierte Juan-Pablo Montoya gestern seinen zweiten Sieg im "Silberpfeil", doch Kimi Räikkönen musste sich nach einem völlig verkorksten Wochenende mit Rang vier zufrieden geben.

Titel-Bild zur News: Juan-Pablo Montoya

Juan-Pablo Montoya bei seiner Zieldurchfahrt als Sieger gestern in Italien

Der Finne hat damit bei vier noch ausstehenden Rennen bereits 27 Punkte Rückstand auf WM-Leader Fernando Alonso, womit realistisch gesehen wohl alle Titelchancen dahin sind. Sollte Alonso in sechs Tagen im belgischen Spa vier Punkte mehr holen als Räikkönen, würde dies definitiv eine vorzeitige Entscheidung bedeuten. Dennoch will Mercedes-Sportchef Norbert Haug die Saison 2005 noch nicht zu ad acta legen, zumal die Konstrukteurs-WM ja noch wesentlich offener ist.#w1#

Haug will den Titel auch jetzt noch nicht aufgeben

Die Frage nach dem Aufgeben stellt sich für ihn "solange es eine mathematische Chance gibt" jedenfalls nicht, denn: "Ich habe in der Formel 1 schon die tollsten Dinge erlebt", so der 52-Jährige nach dem Grand Prix von Italien. "Selbst wenn es die theoretische Chance nicht mehr gibt, werden wir genauso weiterkämpfen, oder sollen wir dann plötzlich damit aufhören, Rennen gewinnen zu wollen? Die Frage stellt sich nicht. Wir geben wie immer alles."

"Wenn es sich in Spa entscheidet, dann entscheidet es sich eben in Spa", fuhr er achselzuckend fort. "Wenn Alonso dreimal eine Nullrunde hat und Kimi dreimal gewinnt, sieht es wieder anders aus. Das ist zwar unwahrscheinlich, aber warum sollten wir uns deswegen den Kopf zerbrechen? Wenn ich wetten müsste, sehe ich nur noch Außenseiterchancen für uns, aber auch kleine Chancen werden manchmal wahrgenommen. Genau das versuchen wir."

Zunächst einmal gilt es allerdings, jene Achillesferse in den Griff zu bekommen, welche den ansonsten fast perfekten MP4-20 schon die gesamte Saison über plagt: die Zuverlässigkeit. Haug verweist in diesem Zusammenhang immer wieder darauf, dass seine Truppe in Sachen Leistungsfähigkeit binnen kürzester Zeit den Sprung an die Spitze geschafft hat, doch dass eine ähnliche Entwicklung auch im Bereich der Zuverlässigkeit gelingen kann, bezweifeln viele.

Zuverlässigkeit soll so bald wie möglich verbessert werden

Der Schwabe selbst natürlich nicht: "Wir haben dieses Jahr schon zweimal mit einem Motor zwei Rennen gewonnen. Es ist also nicht so, dass unsere Jungs das nicht können. Trotzdem haben wir unsere internen Prozesse, um diese Probleme zu lösen - und genau wie wir auch unseren Speed wieder hergestellt haben, werden wir auch die totale Zuverlässigkeit wieder herstellen. Wir sind auf dem richtigen Weg", betonte er zum x-ten Mal.

Fast im selben Atemzug führte er bei dieser Gelegenheit auch gleich ein kleines Rechenspiel vor, um zu demonstrieren, dass Mercedes nur eine verhältnismäßig kleine Schuld an den verlorenen WM-Chancen mittragen muss. Räikkönen habe nämlich in Magny-Cours und Silverstone je drei Punkte durch einen Motorwechsel verloren und diesmal in Monza noch einmal fünf - ergibt unterm Strich elf. Doch alleine die beiden Totalausfälle in Deutschland haben glatte 20 Zähler gekostet...

"Die Motorwechsel haben uns elf Punkte gekostet bei Kimi - und das sind elf Punkte zu viel", suchte er aber nicht nach Ausreden. "Wir werden dafür kritisiert, und das ist auch richtig, aber wir müssen die richtigen Zahlen nennen, denn durch einen Stehenbleiber haben wir bei anderen Gelegenheiten auch schon weit mehr Punkte verloren. Das sind dann halt gleich zehn Punkte auf einmal. Es war hier zumindest eine Schadensbegrenzung."

Laut Haug hätte Räikkönen ohne Probleme gewonnen

Haug zeigte sich indes nach dem Rennen felsenfest davon überzeugt, dass Räikkönen ohne seinen Reifenschaden gewonnen hätte: "Für Kimi tut es mir Leid, denn er war ziemlich klar der Mann des Rennens, zum Schluss auch noch deutlich Schnellster trotz seiner Einstoppstrategie. Er hatte trotz des Motorwechsels eine echte Siegchance, deshalb hat er sich große Anerkennung verdient. Ohne sein Reifenproblem wäre er podiums- und siegfähig gewesen", lobte der Deutsche.

Über das neuerliche Pech des "Icemans" konnte sich McLaren-Mercedes immerhin mit dem Sieg durch Montoya hinwegtrösten, der nach seinem Trauerflor-Triumph im Jahr 2001 nach den Terroranschlägen von New York erstmals Champagner im Königlichen Park von Monza versprühen konnte. Der Kolumbianer sah bis fünf Runden vor Schluss wie der sichere Sieger aus, als sich plötzlich der linke Hinterreifen auszulösen drohte - genau wie zuvor bei Räikkönen.

Zittern um den linken Hinterreifen bis zur Ziellinie

"Ich dachte nur: Bitte nicht schon wieder - und bitte nicht wieder in der letzten Runde!" Norbert Haug

"Zittern hilft nicht viel, aber natürlich braucht man das Gefühl nicht, wenn man sieht, dass sich ein Reifenschaden anbahnt", sagte Haug erleichtert. "Das war nichts für schwache Nerven, das ist ganz klar, aber wenn man das schon lange macht und wenn man viele, viele Rennen auf dem Buckel hat, dann kann man es schon irgendwie ertragen. Ich dachte nur: Bitte nicht schon wieder - und bitte nicht wieder in der letzten Runde! Nicht einmal in der Parabolica habe ich die Hände hochgenommen, sondern ich habe nur gehofft: Hoffentlich kommt er durch!"

In jenen angespannten Sekunden wurden am silbernen Kommandostand Erinnerungen an den Nürburgring wach, als Räikkönen ebenfalls mit einem flatternden Michelin-Reifen in Führung liegend die letzte Runde in Angriff nahm - und wenige Meter später in den Leitplanken landete. Der Finne hatte damals ebenso Alonso im Rückspiegel wie Montoya gestern, diesmal hatten die "Silberpfeile" aber das Glück auf ihrer Seite.

Apropos Nürburgring: Damals wurden die Herren Ron Dennis und Co. für ihre Entscheidung, Räikkönen nicht zu einem Sicherheitsreifenwechsel an die Box zu holen, scharf kritisiert - was im Umkehrschluss die Frage zulässt, wie verantwortungsbewusst es ist, Montoya gerade in Monza unter hohem Risiko weiterfahren zu lassen. Wäre der 29-Jährige am Ende der Geraden mit 370 km/h Topspeed abgeflogen, hätte man sich in Woking und Stuttgart bestimmt jede Menge Kritik anhören müssen.

Sicherheitsstopp bei Montoya stand nicht zur Debatte

Wer also ist letztendlich für solche Entscheidungen zuständig? "Es gibt zwei Ingenieure an der Box", antwortete Haug, "die nach dem Juan-Pablo gucken, und genauso ist es bei Kimi. Im Prinzip entscheiden die das, aber wir stimmen uns untereinander ab. Wir sind per Funk verbunden - und wir haben nie diskutiert, ihn bei den paar Runden reinzuholen. Wir wollten unbedingt gewinnen und sahen das nicht als übermäßig großes Risiko an."

"Da muss man auch für Juan-Pablo eine Lanze brechen, denn seit Kanada ist er unterwegs wie einer, der Rennen und auch Titel gewinnen kann", fügte er lobend an. "Er hat das Auto ins Ziel getragen, ist nur noch so schnell gefahren, wie er wirklich musste. Das war eine perfekte Leistung von ihm. Viele haben ihn kritisiert, aber wir haben immer zu ihm gehalten. Er hat jetzt zwei Rennen gewonnen - astrein in England und hier in Monza. Dazwischen hatte er auch sehr viele Siegchancen, beispielsweise in Kanada und in Ungarn, und in Deutschland fuhr er von Platz 20 noch auf Platz zwei."

Seit McLaren-Mercedes mit beiden Autos gewinnen kann, schnuppert man in der Konstrukteurs-WM bereits am Auspuff von Renault - vor dem Grand Prix von Belgien am kommenden Sonntag fehlen nur noch acht Punkte. Haug bleibt jedoch zurückhaltend: "Ich bin nicht der, der Doppelsiege ankündigt", gab er vorsichtig zu Protokoll, aber: "Wir sollten in Spa ordentlich unterwegs sein und wollen die Siegesserie wenn möglich fortsetzen."