• 26.02.2010 11:11

  • von Dieter Rencken

Di Grassi fordert: "Eine Extrasession für Rookies"

Virgin-Rookie Lucas di Grassi im exklusiven Interview über den Sprung in die Formel 1, die Probleme der Neuling und die Stärke der Brasilianer

(Motorsport-Total.com) - Lucas di Grassi hat auf dem Weg in sein erstes Formel-1-Rennen viele Hürden zu meistern. Der Brasilianer kommt als Rookie in die Szene, sein Team Virgin hat keine Formel-1-Erfahrung und der neue VR-01 erlaubte aufgrund technischer Probleme nur wenige Testkilometer. Dennoch ist der Teamkollege von Timo Glock voller Vorfreude auf seine erste Saison in der Königsklasse. Im Interview mit 'Motorsport-Total.com' schildert der 25-Jährige seine Erfahrungen und Ansichten.

Titel-Bild zur News: Lucas di Grassi

Lucas di Grassi geht am 14. März in Bahrain in seine erste Formel-1-Saison

Frage: "Lucas, wo hast du beim Wechsel aus der GP2 in die Formel 1 die größten Unterschiede ausgemacht?"
Lucas di Grassi: "In Sachen Fahrtechnik ist der Unterschied gar nicht mal so groß. Da sind GP2 und Formel 1 wirklich vergleichbar, auch in Bezug auf Abtrieb und Power ist es eigentlich recht ähnlich. Aber die Formel 1 ist natürlich in allen Bereichen einen Schritt weiter, alles ist auf einem höheren Level."#w1#

"Es gibt keinen markanten Unterschied in einem einzelnen Bereich, sondern es ist von allen Elementen des Autos bis hin zu allen Bereichen des Fahrens einfach besser. Man muss als Fahrer in allen Belangen eine Steigerung hinlegen, um ein Formel-1-Auto effizient und so schnell wie möglich bewegen zu können.

Frage: "Wenn man die für das Fahren entscheidende Elemente nimmt - Leistung, Abtrieb, Handling und alles weitere -, wo ist der Sprung zur Formel 1 am größten?"
Di Grassi: "Es gibt da keinen einzelnen Bereich, den ich nennen könnte. Die Leistung der Bremsen ist deutlich besser, aber es verhält sich proportional zum erhöhten Abtrieb. Auch die Traktion nimmt gleichermaßen zu wie das Drehmoment und die Power. Das alles geht Hand in Hand. Generell bietet ein Formel-1-Auto deutlich mehr Grip. Die Leistung ist nicht deutlich viel größer, aber der Griplevel schon."

Mehr Chancen für Testpiloten

Frage: "Wie empfindest du die verschiedenen Reifenmischungen?"
Di Grassi: "Ich habe bisher nicht genügend Runden fahren können, um ein genaues Bild von den verschiedenen Reifenmischungen bei unterschiedlichen Spritmengen haben zu können. Was man in der Formel 1 nun erstmal lernen muss, ist der Umgang mit den verschiedenen Benzinlasten. Das wirkt sich erheblich mehr auf das Verhalten des Autos aus als die unterschiedlichen Reifenmischungen. Man muss sich mit seinem Fahrstil immer wieder optimal auf die Bedingungen einstellen können. Wenn du mehr Variablen hast, wird es eben komplexer. Daher ist ein Formel-1-Auto eben komplizierter als ein GP2-Auto."

Frage: "Für dich wird alles neu sein. Dein Team Virgin ist neu dabei und du bist ein Neuling als Einsatzpilot. Muss man sich etwas einfallen lassen, um Rookies einen besseren Einstieg zu ermöglichen? Immerhin hast du nur sehr wenige Testsessions zur Vorbereitung..."
Di Grassi: "Ja, ich war zwar zwei Jahre lang Testfahrer bei Renault, habe aber nur selten im Auto gesessen - vielleicht sechs oder sieben Tests in zwei Jahren. Ich bin der festen Überzeugung, das man etwas tun muss. Optimal wäre es, wenn man den Ersatzpiloten eine Session am Rennwochenende zugestehen könnte."

"So könnten die Ersatzfahrer wenigstens etwas Zeit im Auto verbringen und auch gleichzeitig die Strecken kennenlernen. Obwohl ich zum Beispiel schon etwas Testerfahrung in der Formel 1 habe, komme ich bald nach Australien, Malaysia und China und kenne die Strecken überhaupt nicht. Ich muss also unser Auto kennenlernen, die Formel 1 insgesamt kennenlernen und auch noch die neuen Strecken lernen. Und auch unser Team muss lernen, weil wir aus dem vergangenen Jahr keine Referenzwerte haben, um das Auto schnell abzustimmen."

"Für uns ist es enorm schwierig, weil für uns alles neu ist. Die Problematik hat insgesamt zwei Seiten. Auf der einen Seite ist es gut, wenn man mit einem neuen Team dabei ist. Man geht gemeinsam durch einen intensiven Lernprozess. Als Fahrer drehe ich nicht nur meine Runden, sondern ich kann aktiv an der Entwicklung des Teams und des Autos mithelfen. Dabei kann man viel lernen und sich als Fahrer verbessern."

Lucas di Grassi

Sorgen: Der Virgin-Cosworth lief bislang nicht besonders zuverlässig Zoom

"Die negative Seite ist, dass es einfach unglaubliche viele Unbekannte gibt - im Bereich Setup, Fahrstil, neue Strecken. Einige unserer Ingenieure waren noch nie auf den Strecken, die wir bald befahren werden. Das macht die Setuparbeit mit dem Auto natürlich deutlich schwieriger, als es bei einem etablierten Team mit erfahrenen Leuten der Fall ist."

Frage: "Wenn man deine Renault-Tests hinzuzählt, dann gehst du am 14. März mit etwa 4.000 Kilometern Formel-1-Erfahrung in dein erstes Rennen. Reicht das?"
Di Grassi: "Das ist zu wenig, ganz klar. Das sind mal gerade zehn Prozent dessen, was die früheren Testpiloten pro Jahr abgespult haben. Daher fände ich es eben gut, wenn man den Ersatzfahrern am Rennwochenende zumindest eine halbe Stunde oder eine Stunde Fahrzeit einräumen könnte. Die Rolle des Testfahrers wird dadurch auch wieder wichtiger. Man gibt den Piloten dann die Chance, aktiv am Setup für die jeweilige Strecke mitzufeilen. Außerdem können die Ersatzpiloten auch einen Leistungsdruck für die Stammpiloten aufbauen, wenn sie einen guten Job machen."

Testpiloten sollen Druck machen

"Zusätzlich lernen die jungen Piloten dann die Strecken kennen. Die Fahrer wären also zumindest in einer halbwegs guten Situation, falls sie mal für einen der Stammfahrer einspringen müssten. Sie wären wenigstens ansatzweise vorbereitet, anstatt wirklich ins kalte Wasser geworfen zu müssen."

"Mein Vorschlag wäre zum Beispiel, dass man im ersten Freien Training am Freitag immer den Testpiloten und den weniger erfahrenen Stammfahrer ins Cockpit lässt. Und wenn dann jemand den Ersatzfahrer nicht fahren lassen will, dann kann er eben nur ein einziges Auto in die Session schicken. Eine solche Lösung würde nicht mehr Kosten produzieren, gleichzeitig wäre es eine tolle Gelegenheit für die Testpiloten."

"So sollte es meiner Ansicht nach sein. Natürlich wäre das für uns bei Virgin in unserer aktuellen Situation gar nicht gut. Wir haben bislang so wenige Kilometer fahren können, sodass jede einzelne Runde für Timo und mich in Bahrain - auch im ersten Freien Training - extrem wichtig ist. Das ist für die Entwicklung des Autos sehr wichtig. So gesehen wäre mein eigener Vorschlag jetzt schlecht für uns."

Frage: "Aber du dürftest doch gemeinsam mit dem Testpiloten fahren, denn Timo hat mehr Erfahrung als du..."
Di Grassi: "Ja, stimmt. Ich dürfte dann trotzdem fahren. Ich finde, ein solcher Vorschlag wäre wirklich praktikabel, wenn man nicht unnötig neue Kosten verursachen will. Wenn man zusätzliches Geld in die Hand nehmen will, dann könnte man wieder ein drittes Auto fahren lassen, oder eben eine eigene Session für die Ersatzpiloten einrichten."

"Ich finde es wichtig, dass die Fahrer sich verbünden und die Dinge besprechen können, die wichtig sind." Lucas di Grassi

Frage: "Bist du Mitglied der Fahrergewerkschaft GPDA?"
Di Grassi: "Ja, bin ich. Ich bin schon 2008 während meiner Renault-Zeit beigetreten. Ich wollte einfach wissen, was vor sich geht. Und ich will mein Feedback geben, wenn es um die Frage geht, wie wir unseren Sport vielleicht verbessern können. Bisher habe ich mich noch zurückgehalten, habe keine aktive Rolle innerhalb der GPDA eingenommen. Aber ich finde es wichtig, dass die Fahrer sich verbünden und die Dinge besprechen können, die wichtig sind."

Warum Brasilien viele Talente hervorbringt

Frage: "Du warst über drei Jahre in der GP2. Erschien es dir zwischendurch schon so, dass ein Stammcockpit in der Formel 1 außer Reichweite ist?"
Di Grassi: "Ja. Die Formel 1 ist einfach die Königsklasse, aber sie ist unglaublich schwierig zu erreichen, weil es eben nur etwas mehr als 20 Plätze für Piloten gibt. Ich habe in der GP2 bestimmt gute Leistungen gezeigt, habe zum Beispiel 2007 gegen Timo um den Titel gekämpft. Auch 2008 habe ich im Titelkampf mitgemischt, obwohl ich drei Rennwochenenden lang gar nicht dabei war."

"Die Ergebnisse stimmten also. Auch als Testfahrer bei Renault habe ich immer mein Bestes gegeben. Da gibt es dann Phasen, wo einem die Formel 1 unerreichbar scheint. Trotzdem hatte ich immer im Hinterkopf, dass ich mit anhaltend guten Leistungen den Sprung irgendwann schaffen würde."

Frage: "Du bist Brasilianer, also sicherlich ein Bewunderer von Ayrton Senna. Nun kommt mit Michael Schumacher jemand, der schon gegen Aytron angetreten ist. Hättest du jemals gedacht, mal gegen jemanden zu fahren, der schon mit Ayrton gekämpft hat?"
Di Grassi: "Nein. Es ist schon ganz speziell, dass Schumacher nun wieder zurückkommt. Ich meine das absolut positiv. Als Michael seinen ersten Titel in der Formel 1 geholt hat, fing ich gerade mit meiner Karriere im Kart an. Wenn ich nicht im Auto sitze, empfinde ich es als große Ehre, dass ich gegen ihn antreten darf. Wenn ich aber im Cockpit bin, dann fahre ich gegen ihn wie gegen jeden anderen auch."

"Als Michael seinen ersten Titel in der Formel 1 geholt hat, fing ich gerade mit meiner Karriere im Kart an." Lucas di Grassi

Frage: "Warum gab und gibt es immer wieder viele Brasilianer in der Formel 1, die auch sehr erfolgreich sind?"
Di Grassi: "Das kann ich nicht genau beantworten. Brasilien hat einfach eine tolle Formel-1-Geschichte. Wir haben tolle Rennen erlebt, haben viele Erfolge gefeiert. Das sorgt dann eben dafür, dass viele Kids im Kart fahren und großen Aufwand in diesem Sport betreiben. Daher kommen immer wieder gute Piloten für die Formel 1 nach."

"Ein anderer Punkt ist, dass die jungen Talente aus Brasilien mit 16 oder 17 Jahren ihre Heimat verlassen und nach Europa gehen. Das war bei mir auch so, ich war plötzlich ganz auf mich allein gestellt. Man konzentriert sich dann ausschließlich auf den Rennsport. Ich habe meine Familie, meine Freunde, die Uni, einfach alles hinter mir gelassen, um mich auf diese eine Sache zu fokussieren. Das ist nicht einfach. Der Wille zum Sieg wird dadurch aber vielleicht erhöht. Das erklärt es wohl zum Teil."

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