• 09.10.2004 11:23

Brawn: "Haben immer Plan A, Plan B und Plan C"

Ferrari-Technikchef Ross Brawn spricht über die Zusammenarbeit mit Bridgestone und die Entwicklung der Rennstrategie

(Motorsport-Total.com) - Frage: "Ross, was war der Wendepunkt zum Erfolg von Ferrari in dieser Saison?"
Ross Brawn: "Der erste Indikator war Melbourne. Über den Winter haben wir natürlich viel getestet. Nach dem sehr schwierigen Jahr 2003 haben wir unsere Ziele erkannt. Im Winter weiß man nicht, was die Konkurrenz macht, man weiß nicht, unter welchen Voraussetzungen sie die Autos fährt. Wir haben aber einfach unser Programm fortgeführt. Gemeinsam mit Bridgestone hatten wir ein sehr strukturiertes Programm für den Winter und Melbourne war dann die erste Gelegenheit für eine Einschätzung. Wir waren konkurrenzfähig und das war ermutigend. Während des Jahres gab es einige weitere Schritte. Ungarn war sehr signifikant, wegen der Niederlage, die wir letztes Jahr dort einstecken haben müssen. Außerdem wurde dort eine neue Bridgestone-Reifengeneration eingeführt, die sehr gut funktioniert. Es gab also mehrere wichtige Punkte, aber Melbourne war der Anfang und Ungarn ragt auch heraus."

Titel-Bild zur News: Ross Brawn

Ross Brawn gestern im verregneten Fahrerlager von Suzuka

Frage: "Wenn sich die Form der Reifen verändert, ändern sich auch die aerodynamischen Anforderungen ans Fahrzeug. Worauf habt ihr dieses Jahr bei der Entwicklung des F2004 besonderen Wert gelegt?"#w1#
Brawn: "Ich glaube, eines der Geheimnisse des Erfolgs von Ferrari in den letzten Jahren ist die enge Zusammenarbeit mit Bridgestone. Auto und Reifen werden gemeinsam optimiert, um in allen Bereichen die bestmögliche Lösung zu finden - Aerodynamik, Radaufhängungsgeometrien, Gewichtsverteilung. Jeder Aspekt des Fahrzeugs wird in Kombination mit dem Reifen entwickelt."

"Es ist also keine Situation, in der Bridgestone mit einem Reifen daherkommt und sagt, 'Versucht das', oder wir mit einem Auto und sagen, 'Schauen wir, wie eure Reifen damit funktionieren', sondern wir entwickeln gemeinsam. Das ist der Schlüssel zum Erfolg der letzten beiden Jahre und darum ist der Anteil von Bridgestone daran auch so groß. Sie machen den Reifen selbst vielleicht gar nicht schneller, aber das Paket. Darin liegt der Wert unserer Partnerschaft mit Bridgestone."

"Können zwischen den Plänen hin und her wechseln"

Frage: "In Frankreich habt ihr mit einer Vier-Stopp-Strategie gewonnen. Wie und wann fallen bei euch die strategischen Entscheidungen?"
Brawn: "Es hat einige Wochenenden gegeben, an denen wir wegen der Reifen einen gewissen Leistungsvorteil hatten, aber wir konzentrierten uns meistens auf das Rennen und standen dadurch im Qualifying manchmal nicht ganz vorne. Wir hatten ein schnelles und konstantes Auto im Rennen, gute Reifen, und wir haben für unsere Fahrer mehrere Strategien ausgearbeitet, um die Performance des Pakets bestmöglich ausschöpfen zu können. Die Strategien sind nicht immer nur die Berechnung, wie ein Fahrer alleine das Ziel am schnellsten erreichen kann, sondern man muss auch gegnerische Fahrzeuge einkalkulieren."

"In Magny-Cours waren vier Stopps nicht die schnellste Variante, aber es hat Michael erlaubt, die freie Strecke vor ihm zu nutzen, um auf Alonso in jener Phase einen Vorsprung herauszufahren. Da konnte er die Performance des Autos und der Reifen ausnutzen. Wir haben immer einen Plan A, einen Plan B und dann auch noch einen Plan C. Wenn sich in einem Rennen gewisse Umstände ergeben, können wir zwischen diesen Plänen hin und her wechseln. Wir bereiten uns immer schon auf verschiedene Szenarien vor und planen entsprechend. Meistens haben wir mehrere Pläne, die wir abhängig von der Entwicklung des Rennens anwenden können."

Brawn über den Mut zum strategischen Risiko

Frage: "Manchmal waren eure Strategien auch mit Risiken verbunden, aber ihr hattet den Mut, sie dennoch anzuwenden. Schreckt das Risiko nicht ab?"
Brawn: "Das hängt immer von den jeweiligen Umständen ab. Wenn man um die Weltmeisterschaft kämpft und jeden Punkt benötigt, wird man vermutlich eher konservativ vorgehen. Das muss aber nicht so sein, wenn man zwei fantastische Fahrer hat, die jede Gelegenheit ausnutzen, wie man zum Beispiel mit Michael in Imola gesehen hat. Manchmal versetzen sie uns an der Boxenmauer mit ihren Leistungen in Erstaunen. Normalerweise schauen wir uns die Vor- und Nachteile an. Manchmal sind die mutigen Entscheidungen gar nicht so mutig, weil man oft im schlimmsten Fall in der Position bleibt, in der man sich ohnehin gerade befindet."

"Das Schöne ist, dass man den Fahrern eine Möglichkeit geben kann, Auto und Reifen optimal auszuschöpfen. In diesem Jahr ist es oft vorgekommen, dass unsere Fahrer aufgehalten wurden. Dann mussten wir ein Fenster suchen, in dem sie die Performance des Pakets kurz voll entfalten konnten. In dieser Hinsicht war es ein großartiges Jahr für uns, aber auch ein leichtes, denn aus unseren mutigen Entscheidungen haben sich nie irgendwelche Positionsverluste ergeben."

Frage: "Wie werdet ihr euch auf nächste Saison vorbereiten?"
Brawn: "Die Regeln für das Auto haben sich ebenso geändert wie für die Reifen. Die Autos werden von Jahr zu Jahr schneller und da ist es einfach notwendig, in regelmäßigen Abständen die Performance zu reduzieren. Für 2005 gibt es einen ziemlich großen Schritt. Der aerodynamische Abtrieb wird um ungefähr 20 Prozent reduziert. Die Motoren müssen gleich für zwei Rennen halten, was mit einer Leistungseinbuße einhergeht, und wir müssen denselben Reifensatz für das Qualifying und das ganze Rennen verwenden. Durch all diese Faktoren werden die Autos um zwei bis drei Sekunden langsamer als dieses Jahr sein."

"Für die Teams und die technischen Partner ist es aber gleichzeitig eine tolle Gelegenheit, wie ein Neuanfang mit einem weißen Blatt Papier. Ich bin sehr optimistisch, denn wir haben mit Bridgestone einen extrem konkurrenzfähigen Partner und ich denke, wir werden die neuen Herausforderungen verstehen. Vor allem reifenseitig wird es schwierig, einen Reifen zu entwickeln, der guten Grip bietet und über eine Renndistanz nicht allzu stark abbaut. Kombiniert mit einem Auto, das 20 Prozent weniger Abtrieb generiert, liegt da eine große Herausforderung vor uns."