• 11.09.2004 18:42

Brawn: "Es gibt einen kulturellen Austausch"

Ferraris Ross Brawn über Reifenpartner Bridgestone sowie Chianti trinken und Sushi essen mit seinen japanischen Partnern

(Motorsport-Total.com) - Frage: "Ross, es war bisher eine unglaublich erfolgreiche Saison, gekrönt mit dem Gewinn des WM-Titels in Spa vor zwei Wochen. Wie sind deine Gefühle in Bezug auf diese Erfolge?"
Ross Brawn: "Das letzte Jahr war ziemlich schwierig für uns, aber andererseits war es der Auslöser dafür, dass wir uns gemeinsam mit Bridgestone angesehen haben, wie wir noch besser zusammenarbeiten könnten. Wir haben seit einigen Jahren eine sehr gute Partnerschaft. Manchmal ist es nett, wenn man wirklich herausgefordert wird, wie es letztes Jahr der Fall war, weil man sieht, wie die Leute reagieren. Bei Ferrari haben wir intern analysiert, was wir besser machen können, und es war fantastisch, wie Bridgestone darauf reagiert und sich ebenfalls verbessert hat. Für mich persönlich war das ein sehr lohnender und faszinierender Zeitabschnitt. Es ist wirklich anregend, mit einer komplett anderen Kultur, der japanischen, zusammenzuarbeiten. Ich denke, es ist umgekehrt auch für unsere Freunde bei Bridgestone interessant, mit einer pseudo-italienisch-britischen Kultur zusammenzuarbeiten. Wir machen manche Dinge unterschiedlich, daran gibt es keinen Zweifel. Zu entdecken, wie wir arbeiten und wie wir noch effizienter kooperieren können, war sehr faszinierend. Der Lohn war der Gewinn der Weltmeisterschaften. Ich habe sicher noch nie eine so enge Zusammenarbeit zwischen zwei Firmen wie zwischen Bridgestone und Ferrari erlebt. Es ist eine Bereicherung für beide Firmen, auf menschlicher und auf technischer Ebene. Letztes Jahr war schwierig, und es hätte dieses Jahr noch schwieriger werden können, aber stattdessen ging es nach oben. Ich bin wahnsinnig erfreut über diese Saison."#w1#

Titel-Bild zur News: Ross Brawn

Ross Brawn vor dem Bridgestone-Zelt im Fahrerlager von Monza

Frage: "Kannst du näher darauf eingehen, was du mit den kulturellen Unterschieden meinst?"
Brawn: "Es gibt ein paar ganz simple Dinge. Wenn zum Beispiel ein Japaner 'Ja' sagt, dann meint er nicht zwingend 'Ja', sondern 'Ich verstehe'. Das muss man wissen und diese Dinge findet man erst nach einer gewissen Zeit heraus. Unsere japanischen Freunde nehmen unsere Fragen außerdem gerne ins Büro mit und besprechen sie erst dort. Sie sind wahrscheinlich weniger impulsiv als Europäer. Wir neigen dazu, eine Entscheidung herbeiführen zu wollen und auf der aufzubauen. Sie wollen lieber erst darüber nachdenken. Der japanische Weg ist oft der, erst sehr lange und sorgfältig nachzudenken, dann aber ganz rasch eine Entscheidung zu treffen. Wir treffen manchmal Entscheidungen schneller, müssen die dann aber anpassen. Manchmal ist es frustrierend, weil man das Gefühl hat, dass die Dinge nicht schnell genug passieren, aber dann sind auf einmal die Reifen an der Strecke. Das finde ich faszinierend. Sie sind liebenswerte Menschen, nette Kollegen. Wir teilen unsere Enttäuschungen und Erfolge. Wir haben viele Japaner, die viel Zeit bei uns in Italien verbringen, und umgekehrt sind viele Ferrari-Mitarbeiter viel in Japan. Die betroffenen Gruppen finden das sehr interessant, denke ich. Die andere Sache ist die, dass Hisao (Suganuma; Anm. d. Red.) jetzt Chianti trinkt und ich Sushi esse. Es gibt also auch einen kulturellen Austausch..."

Ferrari "akzeptiert" die Anwärmphase der Bridgestone-Reifen

Frage: "Dieses Jahr dauert es in der Regel ein bisschen länger, bis die Reifen auf Temperatur kommen, dafür gibt es andere Vorteile. Bist du damit glücklich?"
Brawn: "Sagen wir einfach, wir haben das akzeptiert, weil das Gesamtpaket die richtige Kombination ist. Die Reifen waren fantastisch, konstant, vor allem unter Rennbedingungen großartig. Der Preis dafür ist eben die Anwärmphase, aber das haben wir gewusst. Ich muss nicht extra erwähnen, dass Bridgestone daran arbeitet, diesen Aspekt zu verbessern, denn bei Rennen wie in Spa, mit drei Safety-Car-Phasen, tut uns das sehr weh. Wenn man sich aber die gesamte Saison ansieht, dann ist die Anwärmphase nicht der entscheidenste Faktor. Wir und Bridgestone haben das akzeptiert, aber sie arbeiten daran, ohne dafür die anderen Eigenschaften des Reifens opfern zu müssen, was natürlich nicht einfach ist."

Frage: "In Ungarn hatte Bridgestone einen Entwicklungsreifen dabei. Besteht eine Chance, dass ihr den Reifen dieses Jahr noch einmal einsetzen werdet?"
Brawn: "Das ist ein sehr guter Reifen, ja, aber wir haben damit auf Strecken wie Monza noch nicht ausreichend Erfahrungen gesammelt. Der Reifen wurde zu einem bestimmten Zweck entwickelt, nämlich dafür, in Ungarn zu siegen, und den hat er wunderbar erfüllt. Jetzt muss er aber weiterentwickelt werden, damit er auch auf anderen Strecken eingesetzt werden kann. Wir haben da schon einige Fortschritte gemacht und es ist wahrscheinlich, dass dieses Konzept vor Saisonende noch einmal verwendet wird. Außerdem ist dieses Konzept die Basis für den nächstjährigen Reifen."

Frage: "Stimmt es, dass ihr in Belgien aus Sicherheitsgründen einen etwas konservativeren Reifen ausgewählt habt?"
Brawn: "Ja, denn wir und Bridgestone sehen Sicherheit als oberste Priorität. Wir hätten auch den Ungarn-Reifen nach Spa mitnehmen können, aber wir hatten nicht die nötige Erfahrung und wir sind auch noch nicht genug damit auf schnellen Kursen gefahren, dass wir uns hätten wohl fühlen können. Also haben wir uns für Belgien für einen Reifen entschieden, der sicher und haltbar war, mit dem wir Erfahrung hatten. Es kommt auf die Erfahrung mit den einzelnen Reifentypen an. Der Reifen, den wir in Spa verwendet haben, haben wir letztes Jahr auch schon auf High-Speed-Kursen eingesetzt, also hatten wir damit jede Menge Erfahrung. Wir waren vielleicht ein bisschen vorsichtig, aber ich halte das für die richtige Seite der idealen Entscheidung."

Zwei Vorschläge, wie Reifenschäden vermindert werden können

Frage: "Wie stehst du zur Problematik der Wrackteile auf der Strecke, was zuletzt bei eurer Konkurrenz so viele Reifenschäden verursacht hat?"
Brawn: "Auf lange Sicht sind diesbezüglich zwei wichtige Initiativen angelaufen. Eine Sache ist, dass das Rennen nächstes Jahr hinter dem Safety-Car angehalten werden könnte. Das Safety-Car würde auf die Strecke gehen, die Autos aufsammeln und sie dann in dieser Reihenfolge in die Box bringen. Die Uhr würde weiterlaufen, aber die Autos würden auf der Startaufstellung oder in der Boxengasse stehen bleiben. Die Strecke könnte inzwischen gereinigt werden. Dann würde das Safety-Car eine Runde mit den Autos um die Strecke fahren und dann wieder zurück an die Box gehen und das Rennen freigeben. So könnten wir an den stehenden Autos prüfen, ob die Reifen noch in Ordnung sind, und man könnte Reifenwärmer aufziehen, damit die Temperaturen und Drücke nicht in den Keller fallen. Bei einem schlimmen Unfall mit vielen Teilen auf der Strecke ist das der sicherste Weg. Passiert ein Unfall abseits der Fahrbahn, kann das Safety-Car wie bisher eingesetzt werden, denn dann gibt es ja keinen Bedarf, den Asphalt zu säubern. Die zweite Sache ist eine Initiative der FIA, die an die Teams mit der Idee herangetreten ist, den Aufbau des Bodyworks zu verändern, damit die Teile nicht mehr so sehr zersplittern wie bisher, und darauf gab es schon sehr positive Reaktionen. Die ersten Tests sind ermutigend verlaufen. Wir und Williams haben Versuche unternommen, dabei dieselben Materialien verwendet, sie aber mit einem starken Material wie Xylon oder Kevlar überzogen. Dadurch wird die Zersplitterung extrem gemindert. Man kann so ein Teil einschlagen lassen, aber es bleibt im Ganzen, auch wenn es vielleicht wegbricht. Im Moment ist es so, wenn ein Teil bricht, dann zersplittert es ganz extrem. Es gibt also zwei Initiativen für nächstes Jahr. Die Materialgeschichte betrifft die Frontflügel, die Endplatten der Frontflügel, die Barge-Boards und all die Teile, die bei einem Unfall leicht wegbrechen können. Das wird sicher helfen, die Gefahr der zersplitterten Wrackteile zu vermindern."

Frage: "Was genau testet ihr und Williams?"
Brawn: "Wir bauen Teile auf verschiedene Arten zusammen, lassen sie einschlagen und brechen. Dann untersuchen wir im Nachhinein die Teile und sehen nach, wie viel Splitterung dadurch entsteht. Wir haben Versuche mit einer einzelnen Kohlefaser-Struktur angestellt, während Williams Tests mit Honigwaben-Konstruktionen durchgeführt hat. Diese beiden Teams versuchen, das Problem der Wrackteile auf der Strecke zu lösen, und die Technische Arbeitsgruppe wird über die Fortschritte auf dem Laufenden gehalten. Wie ich schon gesagt habe, sind die ersten Tests sehr ermutigend. Es hat den Anschein, als könnten wir die Anzahl der Wrackteile durch relativ geringe Änderungen relativ dramatisch verkleinern. Ganz ausschalten kann man diese Problematik aber nicht. Bei einem Versuch haben wir eine Röhre aus Kohlefaser gegen eine Wand krachen lassen. Sie ist zu 80 Prozent zersplittert. Mit einem Überzug aus Kevlar konnten wir diesen Wert auf vier Prozent reduzieren. Das ist eine substantielle Veränderung. Williams hat mit einer mit Kevlar überzogenen Frontflügel-Endplatte ähnliche Ergebnisse erzielt. Man kann sich das so vorstellen, wie wenn ein Knüll daraus wird, der keine scharfen Kanten hat."

"Auto und Reifen müssen als Einheit entwickelt werden"

Frage: "Vor zwei Jahren hat es Gespräche darüber gegeben, dass mehr Bridgestone-Ingenieure in Maranello stationiert werden sollen. Was kannst du heute darüber sagen, wie hat sich dieses Projekt entwickelt?"
Brawn: "Wir hatten eine Vision, dass Auto und Reifen als Einheit entwickelt werden müssen. Es hat eine Weile gedauert, bis wir Bridgestone davon überzeugt hatten, und es funktioniert nicht nach dem Prinzip 'Hier ist der Reifen, passt das Auto daran an' oder 'Hier ist das Auto, passt den Reifen daran an', sondern es ist ein gemeinsames Ding. Wir erreichen einen Punkt, an dem das Auto und der Reifen gleichzeitig und gemeinsam entwickelt werden. Die Rückschläge von 2003 haben diesen Prozess noch beschleunigt, denn wir fühlten uns dadurch angestachelt, noch schneller noch bessere Resultate zu erzielen. Die Ergebnisse in diesem Jahr sind sicher ein Ergebnis dieser Zusammenarbeit. In Zukunft werden wir noch stärker. Bridgestone hat Zugriff zu all unseren Daten hinsichtlich Design, Fahrzeugdynamik und Performance, während wir auch auf ihre Daten Zugriff haben. Wir haben eine gemeinsame Vorgehensweise gefunden. Natürlich sind sie weiter verantwortlich für die Reifen und wir für das Auto, aber wir haben ein sehr gutes Verständnis für ihre Reifenphilosophie und sie haben ein sehr gutes Verständnis für unsere Autophilosophie."

Frage: "Wenn man die Eigenschaften eurer Reifen und jener der Konkurrenz betrachtet, denkst du dann, dass die neuen Reifenregeln für 2005 zu euren Gunsten funktionieren werden?"
Brawn: "Das könnte man heute vielleicht so sagen, aber es wird sich ändern. Ich erinnere mich an letztes Jahr, als Michelin der konstantere Reifen war und Bridgestone den besseren Peak hatte. Bridgestone hat diesen Bereich in Angriff genommen und jetzt haben wir einen sehr konstanten Rennreifen. Jetzt ist das das Ziel von Michelin. Wenn man einmal weiß, was das Ziel ist, sind sowohl Michelin als auch Bridgestone kompetente Firmen, die in eine bestimmte Richtung arbeiten können. Vielleicht stimmt die Annahme heute, aber morgen kann es schon ganz anders aussehen. Die Reifen für nächstes Jahr werden ganz anders sein als dieses Jahr. Auf unterschiedlichen Strecken ist der Verschleiß unterschiedlich. Eine Strecke wie Barcelona ist sehr reifenmordend, eine Strecke wie Kanada dagegen nicht. Eine andere Sache ist die Haltbarkeit der Reifen, denn sie werden 350 bis 400 Kilometer halten müssen, was momentan nicht möglich wäre. Daher wird der 2005er-Reifen ganz anders sein als der 2004er-Reifen."

Folgen Sie uns!

Eigene Webseite?

Kostenlose News-Schlagzeilen und Fotos für Ihre Webseite! Jetzt blitzschnell an Ihr Layout anpassen und installieren!