• 23.11.2012 18:09

Brasiliens luftige Höhen bescheren den Motoren Tiefflüge

Interlagos ist für die V8-Aggregate eine besondere Strecke: Sie rufen so wenig Leistung wie auf keinem anderen Kurs, werden aber auch geschont und sparen Sprit

(Motorsport-Total.com) - Eine Woche, nachdem die Formel 1 im Rahmen des spektakulären Grand Prix von Austin ihr vielbeachtetes Comeback in den USA gefeiert hat, erklimmt die Königsklasse des Motorsports in Brasilien neue Höhen - und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Keine andere aktuelle Grand Prix-Strecke liegt so hoch wie das Autodromo Jose Carlos Pace vor den Toren der brasilianischen Metropole Sao Paulo. Das stellt die Motoreningenieure von Renault vor besonders anspruchsvolle Herausforderungen.

Titel-Bild zur News: Jean-Eric Vergne

Kein anderer aktueller Grand-Prix-Kurs liegt so hoch wie Interlagos Zoom

David Lamb weiß, worauf es ankommt: "In Interlagos fahren wir auf einer Höhe von 800 Metern über Normalnull. Das kostet vergleichsweise viel Motorleistung, denn aufgrund des geringeren Luftdrucks gelangt weniger Luft in die Brennräume der Achtzylinder-Saugmotoren. Das Resultat: Weniger Power, denn dem Triebwerk steht weniger Sauerstoff für den Verbrennungsprozess zur Verfügung", erklärt der für das Williams-Team verantwortliche Motoreningenieur von Renault.

Leistungsminderung schont Triebwerke

"Mit diesem unumstößlichen Fakt müssen alle Motorenhersteller in der Formel 1 zurecht kommen. Aufgrund der äußeren Umstände büßt der RS27-V8 zwischen acht und zehn Prozent seiner Maximalleistung ein - ein deutlicher Einschnitt im Vergleich zum vorherigen Rennen in Austin", stellt Lamb fest. "Am vergangenen Freitag erzielten unsere Achtzylinder vermutlich das höchste Leistungsniveau der gesamten Saison, denn die Temperaturen in Texas waren sehr niedrig."

Die Piloten warnt der Renault-Techniker: "Den Unterschied werden die Fahrer hier in Brasilien ohne Zweifel zu spüren bekommen." Der Kurs von Interlagos ist eine echte Power-Strecke, insbesondere auf der langen Bergauf-Geraden vor Start und Ziel kommt es auf maximale Motorleistung an. Um den Nachteil der Höhenlage zu kompensieren, nutzen die Ingenieure von Renault ihr umfassendes Know-how. An den Leistungseinbußen ist nicht aber nicht zu rütteln.


Fotos: Großer Preis von Brasilien, Freitag


"Der Vorteil ist jedoch, dass die Motoren dadurch weniger belastet werden. Daher können wir den RS27 für einen längeren Zeitraum einer höheren Beanspruchung aussetzen", erläutert Lamb eine weitere Auswirkung der Höhenlage. "Der Druck im Zylinder ist geringer als auf anderen Strecken. Somit wirken sowohl auf die Kolben als auch auf die übrigen Bauteile geringere Kräfte."

Stellschraube Gaspedal-Kennlinie

Mit Hilfe der auf Drehmoment basierenden Gaspedal-Kennlinie, der Torque Pedal Map, stellt Renault sicher, dass dem Fahrer über das gesamte Drehzahlband die nötige Motorleistung zur Verfügung steht. Das heißt: Sobald er Gas gibt, liegt sofort Leistung an. Lamb schränkt ein: "Allerdings müssen wir einen Kompromiss eingehen. Denn das physikalische Ansprechverhalten des RS27 soll sich für den Fahrer bei entsprechender Gaspedal-Stellung möglichst genauso anfühlen wie auf einem Kurs ohne Power-Verlust."

"Nehmen wir als Vergleich beispielsweise die Gaspedal-Kennlinie des Circuit of the Americas in Austin, wo die Piloten bei Vollgas rund 300 Newtonmeter abrufen können. Diesen Wert werden sie auf dem Grand-Prix-Kurs von Interlagos nie erreichen", räumt der Williams-Motoreningenieur ein. "Vergangene Woche in Texas riefen wir bei 80 Prozent Vollgas 270 Newtonmeter ab, also rund zehn Prozent weniger als bei komplett durchgetretenem Gaspedal."

Dieser Wert entspricht in etwa dem maximalen Vollgas-Output, den die Achtzylinder in Brasilien erreichen können. "Wenn wir beim Saisonfinale also die Gaspedal-Kennlinie vom Großen Preis der USA nutzen würden, dann stünde das maximale Drehmoment bereits bei einer Gaspedal-Stellung von 80 Prozent zur Verfügung - die restlichen 20 Prozent Pedalweg wären also im Grunde verschenkt", erklärt der Renault-Mann Brasiliens Tücken, die es auszumerzen gilt.

Sprit sparen leicht gemacht

Dennoch profitieren die Teamsauch von der Höhenlage. Ein gewichtiger Vorteil ist der geringere Benzinverbrauch der Triebwerke. "Jeder Motor hat einen bestimmten Wirkungsgrad. Erzeugt ein und derselbe Motor mehr Leistung, dann verbrennt er mehr Sprit - erzeugt er weniger Leistung, benötigt er weniger Kraftstoff. Da die Triebwerke hier in Brasilien wegen der äußeren Bedingungen nicht ihr volles Potenzial ausschöpfen können, reduziert sich auch ihr Kraftstoffverbrauch pro Kilometer", schildert Lamb.

Lotus

Renault tüftelt ganz besonders, wenn es um Interlagos geht Zoom

Ein weiterer Pluspunkt: Die Luft ist dünner, wodurch auch der Widerstand geringer ausfällt. Die Höchstgeschwindigkeit ist trotzdem nicht viel höher als auf Meeresniveau, denn der aerodynamische Vorteil wird durch die reduzierte Motorleistung egalisiert. Im Umkehrschluss bedeutet das für die Fahrer, dass sie in den Kurven mit weniger Abtrieb zurecht kommen müssen. Daher legen die Formel 1-Boliden in Sao Paulo ein recht nervöses Fahrverhalten an den Tag.

Umso wichtiger ist es, dass die Piloten über einen gut fahrbaren Motor verfügen. "Hier nutzen wir unser umfassendes Know-how und minimieren den Wheelspin - also durchdrehende Räder. Das ist insbesondere im zweiten Streckenabschnitt von großer Bedeutung, denn hier kann man viel Zeit gewinnen - oder eben verlieren", macht Lamb klar. Die Prognosen der Meteorologen für das kommende Wochenende lassen erahnen, dass der Wettergott den Ingenieuren das Leben beim Saisonfinale noch zusätzlich erschweren wird.

Renault favorisiert Regenabstimmung

"Sämtliche Wettervorhersagen versprechen trockenes und wunderbar sonniges Wetter, nur für das Qualifying besteht eine geringe Chance auf Regen", so Lamb. "Aber ausgerechnet am Sonntag soll der Himmel dann seine Schleusen öffnen." Wie können sich die Teams auf einen derart heftigen Wetterwechsel vorbereiten und das Setup der Boliden an die komplett unterschiedlichen Bedingungen anpassen? Diese Entscheidung müssen wir bereits vor dem Qualifying treffen", weiß Lamb.

Denn sobald die Autos danach im Parc fermé stehen, darf am Motor und den Kennfeldern laut Reglement nichts mehr verändern werden. "Vermutlich werden wir das Auto bereits vor dem Qualifying auf Regen abstimmen. Eigentlich sollte sich das Ansprechverhalten des RS27 bei trockenen Bedingungen kaum von dem bei Regen unterscheiden. Die Gefahr besteht jedoch darin, dass man zu vorsichtig agiert und eine zu konservative Gaspedal-Kennlinie wählt", warnt Lamb.

"Die vor allem beim ersten Antippen des Gaspedals nur wenig Drehmoment freigibt, damit die Hinterräder nicht durchdrehen. Darüber hinaus müssen wir laut Reglement bereits vor dem Beginn des Trainings die Zündkennfelder und die Drehmoment-Mappings des RS27 bei der FIA einreichen. Dies erschwert die Lage zusätzlich, da wir von Samstag auf Sonntag einen Wetterumschwung erwarten. Wir denken bereits intensiv darüber nach, wie wir auf diese Herausforderungen reagieren und welche Auswirkungen die einzelnen Entscheidungen für das Rennen haben können. Fest steht: Es gilt viele Faktoren zu beachten", so der Renault-Ingenieur.