• 26.04.2017 11:09

  • von Dominik Sharaf

Aktive Radaufhängung: Lässt die Formel 1 bald (wieder) den Computer lenken?

Weil der Technikstandard explodierte, könnte das Wundersystem von einst eine Renaissance erleben - Kritiker befürchten "Carrera-Bahn-Rennen"

(Motorsport-Total.com) - Technik von vor 24 Jahren scheint in der Formel 1 ungefähr so brauchbar wie ein Maßband zum Fieber messen. Die aktive Radaufhängung, die nach der Saison 1993 verboten wurde, ist da eine Ausnahme. Die raffinierte Technik war früher einfach zu teuer, mittlerweile jedoch sind die nötigen Grundlagen ohnehin in den Autos verbaut - und die Angelegenheit damit nicht nur erschwinglich, sondern sogar kostensenkend? Darüber ist man sich im Paddock uneinig, die Wiedereinführung steht dennoch im Raum.

Titel-Bild zur News: Nigel Mansell 1992

Der Williams FW14B war dank aktiver Radaufhängung der Konkurrenz überlegen Zoom

Zu den Befürwortern gehört Paddy Lowe. Dass seine Mercedes-Truppe die treibende Kraft hinter der Idee sei und sie in den Gremien der Königsklasse auf die Agenda gesetzt hätte, bestreitet der Co-Teamchef aber entschieden. "Angeblich gibt es ein Team, das diese Idee forciert", so der Brite, ohne Ross und Reiter zu nennen. "Ob wir das jetzt vorantreiben werden, ist eine andere Sache." Es deutet vieles darauf hin, denn es gibt aus Sicht der Silberpfeile einige Argumente, die für die aktive Radaufhängung sprechen.

Doch was verbirgt sich eigentlich hinter dem Begriff? Das Problem: In einem Auto gibt es durch die G-Kräfte natürliche Wankbewegungen und Neigung in den Kurven, beim Bremsen und beim Beschleunigen. Das ist nicht gut für die Aerodynamik, weil der von den Ingenieuren eingestellte Idealzustand so zeitweise verändert wird und mit Defiziten zu rechnen ist. Um diese auszugleichen, lässt man den Wagen auf Umstände wie Lenkeinschlag, Bremsdruck, Pedaldruck, Tankinhalt und vieles mehr automatisch reagieren. Es gibt keine Federung. Die gesamte Bewegung des Rades wird über die Hydrauliksteuerung durch den aktiven Kolben übernommen.

"Kein Unterschied wie Tag und Nacht

Ayrton Senna 1987

Einer der Pioniere war Colin Chapman - und später sein Lotus von 1987 Zoom

Dazu wird im Wagen ein sogenannter Aktor installiert. Der erhält allerhand Daten von Computern und Sensoren zu den genannten Parametern, errechnet die erforderliche Kraft an jedem Rad und setzt die Informationen in mechanische Befehle an die "ausführenden" Komponenten der aktiven Radaufhängung um - Änderungen des Nickwinkels oder der Bodenfreiheit sollen vermieden werden. Die richtige Verteilung der Radlastdifferenzen auf Vorder- und Hinterachse kann das Unter- und Übersteuern in Kurven sowie die Traktion beim Beschleunigen verbessern.

Es war Colin Chapman, der die Technik zu Beginn der 1980er-Jahre entwickelte, seine Umsetzung jedoch nicht mehr miterlebte. Erst 1987 kam die aktive Radaufhängung im Lotus 99T erstmals in den Renneinsatz. Ayrton Senna gewann selbst mit einer unausgereiften Umsetzung zwei Rennen. Parallel dazu hatte auch Williams auf die Technik gesetzt, jedoch scheiterte sie vorläufig an den enormen Kosten. Erst Ende 1991 wurde das Projekt in Didcot wiederaufgenommen und zum Erfolg: Nigel Mansell und Alain Prost holten mit überlegenen Autos die WM-Titel, hatten jedoch ein leicht abgewandeltes, vollhydraulisches System mit passiven Federn im Boliden.

"Es wäre kein Unterschied wie Tag und Nacht." Paddy Lowe

Die FIA hatte genug gesehen: Sie verbannte die Sache für 21 Jahre - kommt jetzt die Rolle rückwärts? Lowe, der seine Formel-1-Karriere 1987 als Elektronik-Chef bei Williams begann und selbst für das Projekt verantwortlich zeichnete, sieht gute Gründe dafür, schließlich hätten die Reifen so mehr Auflagefläche. "Man hätte es besser im Griff, den Reifen zu kontrollieren", argumentiert der Cambridge-Absolvent, nennt Leistungsvorteile aber nicht das wichtigste Argument für das Wiederaufleben der Technik. "Natürlich könnte man die Performance verbessern. Ich glaube allerdings nicht, dass der Unterschied wie Tag und Nacht wäre", meint Lowe.

Know-how? Es gab nicht einmal die richtigen Kabel

Start in Imola 1987

In den Achtzigerjahren war die Formel 1 nicht die Atomwissenschaft von heute Zoom

Vielmehr ist für ihn der Kostenfaktor das tragende Argument - also genau das, das der aktiven Radaufhängung Anfang der 1990er-Jahre den Garaus machte. "Es ist eine Industrie, die ein Produkt erzeugt. Wir sollten das Produkt bewerben, das am kosteneffizientesten ist", findet Lowe. "Der wahre Grund war, dass wir einfach überhaupt nicht ausgestattet waren, um so ein komplexes System zum Laufen zu bringen", erklärt er, warum Williams 1988 in einer Nacht- und Nebelaktion zunächst wieder auf die passive Alternative umstieg.

Elektronische Steuereinheiten (ECU) steckten noch in den Kinderschuhen. Die Datenaufzeichnung hatte gerade erst begonnen - auf acht Kanälen bei 32 Hertz. Es gab überall Probleme: Mit der Verkabelung, der Steuerung, den Klappen, der Hydraulik und der Qualität. Lowe und sein damaliger Mitstreiter Steve Wise widmeten sich nicht der Performance auf der Strecke, sondern der Entwicklung der grundlegenden Technik in der Fabrik und der Verpflichtung von geeignetem Personal.


Fotos: Großer Preis von China


Selbst der damalige Williams-Aerodynamikmann Frank Dernie blickte nicht durch: "Wir haben ihm dann gesagt, dass er überhaupt keine Ahnung hat", erinnert sich Lowe breit grinsend. Williams investierte - lange ohne Ergebnisse auf der Strecke zu beobachten - war aber McLaren und Ferrari, die ebenfalls die Bleistifte rauchen ließen, einen Schritt voraus. "Sie haben es verboten, weil...", überlegt Lowe. "Die wahren Gründe waren politischer Natur. Es ging um Leistungsunterschiede, das Kostensparen. Also im Grunde das Gleiche, was wir auch heute noch sehen." Das Verbot nützte Williams' Gegnern.

Weniger Personalaufwand?

Paddy Lowe

Paddy Lowe sieht gleich mehrere gute Gründe für die neue, alte Technik Zoom

Heute sieht Lowe es als erwiesen an, dass sich Geld sparen ließe, weil die Grundlagen ganz andere sind. Die Ingenieure sind versierter, die technische Grundausstattung der Autos höher. Hinter vielen Teams stehen Konzerne mit enormen Mitteln, nicht mehr passionierte Privatiers wie noch vor einem Vierteljahrhundert: "Allein die Tatsache, dass ich einen Cambridge-Abschluss hatte und in der Formel 1 landete, ist ein bisschen verrückt, weil sie die Leute einfach frisch von der Uni engagiert haben", erklärt der 52-Jährige. "Die Formel 1 wurde lange nicht als ernsthafte Industrie betrachtet."

Hinzu kommt, dass die aktive Radaufhängung auch bei Serienfahrzeugen relevanter werden könnte, wenn sich in der Formel 1 zeigt, dass sich eine Effizienzsteigerung erreichen lässt. So wäre ein Argument gefunden, die großen Autohersteller in der Königsklasse zu halten respektive anzulocken. "Wenn man sich anschaut, wie komplex Dämpfer- und Trägheitssysteme sowie die Kinematik geworden sind, dann glaube ich nicht, dass das teurer sein würde", schätzt Lowe und rechnet mit weniger Personalaufwand. "Jede mechanische Änderung benötigt jemanden, der sie einstellt, während eine elektronische rasch und einfach ist. Das kann von jemandem vorgenommen werden, der sich in einem anderen Land befindet."

"Wie zur Hölle soll das Geld sparen?" Martin Brundle

Martin Brundle sieht das anders. Der Ex-Formel-1-Pilot und heutige TV-Experte, damals bei Williams selbst mit aktiver Radaufhängung unterwegs und an der Entwicklung beteiligt, erläutert 'Autosport': "Wie zur Hölle soll das Geld sparen? Man müsste das Auto komplett neu gestalten, um wirklich einen Vorteil zu haben. Paddy weiß das millionenfach besser als ich, aber ich denke, es würde einen ganz neuen Entwicklungshorizont eröffnen." Auch ein FIA-Einheitssystem, von dem gemunkelt wird, schmeckt Brundle deshalb nicht, schließlich hat er weitere Argumente parat.

Kritiker befürchten: Carrera-Bahn statt Rennaction?

Martin Brundle

Martin Brundle ist ein scharfer Kritiker der aktiven Radaufhängung Zoom

Der Brite sorgt sich um die Action auf der Strecke, wenn in Verbindung mit den ab 2017 geplanten 18-Zoll-Rädern ganz neue Aufhängungen entstehen könnten: "Es ist der Traum der Aerodynamiker. Ich habe Bedenken, dass die Autos aussehen wie Modelle auf einer Carrera-Bahn. Sie kleben am Boden." Hinzu kommt, dass auch das Überholen schwieriger werden könnte, wenn die neue Technik deutlich mehr Abtrieb generiert. Wo bleibt dann die fahrerische Herausforderung, fragt sich Brundle? "Das Beste von allem, man fliegt nur noch."

Lowe sieht die Sache allgemeiner und macht den Zeitgeist für den Trend, den Piloten weniger in die Verantwortung zu nehmen, verantwortlich. "Es gibt heute viele automatisierte Bereiche in einem Auto, und die Leute sagen nicht, dass die Fahrer kein Talent mehr haben müssen", meint der Mercedes-Verantwortliche. "Es eine Zeit gab, wo der Pilot den Zündungszeitpunkt selbst abstimmen musste. Und da hat sich niemand aufgeregt, als das automatisiert wurde." Ein Problem, das schon Williams bei der Entwicklung hatte, könnte auch bei einer eventuellen Renaissance wieder akut werden.

Aktive Radaufhängung braucht "Eier"

Nigel Mansell 1992

Nigel Mansell siegte 1992 am laufenden Band: Dank seiner "Eier"? Zoom

Das Team schickte damals Mark Blundell in einem Testwagen aus dem Vorjahr auf die Strecke, konnte das System so aber nicht im Rahmen der aktuellen Konfiguration entwickeln. Außerdem nutzte Williams mit dem FW14B und dem FW15C auch den angeblasenen Diffusor, der heute verboten ist. So ließ sich das Auto mit dem Gaspedal ausbalancieren. "Dafür musste aber der Fahrer verstehen und vorausahnen. Nigel (Mansell; Anm. d. Red.) war dabei besonders gut. Er hatte sehr viel Selbstvertrauen und die Eier", so Lowe. Also doch eine Herausforderung für den Piloten?

Lowe glaubt daran: "Die Kombination Nigel mit diesem großartigen Auto war unschlagbar. Er war mit dem Auto in einer Kurve wie Copse in Silverstone im Qualifying um 25 km/h schneller als im Vormittagstraining. Und er war um 40 km/h schneller als Riccardo (Teamkollege Patrese; Anm. d. Red.). Das waren einfach seine Eier. Nigel war ein Fahrer, der sagte: Was auch immer passiert, ich bekomme das hin. Das war seine Mentalität."