Technische Analyse des Mercedes W07: Neue Ideen in Silber
Mercedes hat ein Gemisch aus Evolutionen und neuen Ideen umgesetzt, um die Dominanz in der Formel 1 fortzuführen: Craig Scarborough analysiert den W07
(Motorsport-Total.com) - Nach einigen unscharfen Fotos vom Shakedown hat Mercedes den neuen W07 nun offiziell gezeigt und vorgestellt. Mit diesem Fahrzeug möchte die Werksmannschaft aus Stuttgart mit Entwicklungsstandorten in Großbritannien den dritten Titelgewinn in Serie in der Formel-1-Weltmeisterschaft 2016 einfahren. Während der letztjährige W05 eine reine Evolution des 2014 dominanten Autos war, kommt der neue W07 mit einigen interessanten neuen Lösungen daher - vor allem bei Lufthutze, Finnen am Cockpit und Form der Seitenkästen.

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Mercedes will sich nicht allein auf die Power des Hybridantriebs verlassen Zoom
Unter der Haube hat der Antrieb, dessen neueste Spezifikation 2016 in Monza eingeführt worden war, über den Winter weitere Upgrades bekommen. Auch die mechanischen Systeme, wie beispielsweise die Aufhängungen, sind überarbeitet worden. Mercedes hatte die Latte bei den Antrieben hoch gelegt. Der PU106B hatte die höchste Leistung, die beste Effizienz und das stärkste Hybridsystem. Die Gegner holen allerdings auf. Einige Probleme mit der Zuverlässigkeit signalisierten, dass sich Mercedes auf den Lorbeeren nicht ausruhen darf.
Die Monza-Spezifikation des Antriebs umfasste umfangreiche Änderungen am Verbrennermotor. Über den Winter legte man den Fokus somit mehr auf die Energie-Rückgewinnung (ERS) und auf den Turbo. Auch wenn Mercedes kürzlich Fotos vom 2015er-Antrieb zeigte, so ist unklar, ob zu diesem Jahr womöglich Änderungen am Layout vorgenommen wurden, um über ein verändertes Packaging neue Möglichkeiten für mehr Performance des Chassis zu ermöglichen.
Nicht nur der Antrieb, sondern auch das Chassis des letztjährigen Autos gehörte zu den besten in der Szene. Abseits der augenscheinlichen Neuerungen basieren viele Elemente des neuen Designs auf dem W06 aus dem vergangenen Jahr. Mercedes war schon zuvor mit einer schmalen Nase unterwegs, um möglichst viel Luft zu den Leitelementen an der Front zu bekommen. Auf den ersten Blick sieht die neue Nase geglättet aus. Womöglich verbirgt sich ein S-Schacht darin - ein Element, das alle neuen Autos 2016 tragen werden.
Melbourne-Frontflügel wird erheblich komplexer ausfallen
Jenes Leitblech, das an der Unterseite der Nase die Form eines Schwanenhalses bringt, könnte bald durch ein Element mit Lufteinlass ersetzt werden, um den S-Schacht mit Luft zu "füttern". Die Oberseite deutet bereits an, dass unter der Lackierung ein Luftauslass integriert ist, der aktuell nur von der Klebefolie überdeckt ist. Ebenso davon verdeckt: die neue Aufhängung, die man im vergangenen Jahr erstmals ausprobierte. Diese Lösung ermöglicht den Verzicht auf eine normale Feder. Stattdessen werden Nickbewegungen durch ein einziges Hydraulikelement abgefangen.

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Die Seitenkästen sind an der Front etwas höher gezogen worden Zoom
Man darf davon ausgehen, dass es in den kommenden Wochen noch umfangreiche Veränderungen am Frontflügel geben wird. In diesem Bereich war Mercedes zuletzt in Sachen Form und Komplexität tonangebend. Wenn man die extremen 3D-Formgebungen an anderen Stellen des Fahrzeuges sieht, dann liegt der Verdacht nahe, dass die endgültige Rennversion des neuen Mercedes-Frontflügels ähnlich komplex ausfallen wird.
Abgesehen von den Änderungen dank des neuen Regelwerks - also der veränderten Sicherheitselemente am Cockpitrand und der neuen Sicherheits-Kamera - ist am neuen Mercedes noch eine Neuerung zu erkennen. Jeweils hinter den Rückspiegeln befindet sich nun eine kleine senkrechte Finne auf beiden Seiten des Cockpits. Weil sich diese neuen Finnen außerhalb der Abmessungen der Fahrerzelle befinden, dürfen sie höher sein als der Rest in jenem Bereich.
Die FIA hatte ursprünglich solche hohen, senkrechten Finnen und Flügel an den Seiten des Cockpits verboten, aber diese sehr kurze Lösung von Mercedes stellt im Falle eines Unfalls keinerlei Gefahr für den Piloten dar. Die neue Anordnung der Finnen am Mercedes deutet an, dass die Silbernen den Luftstrom um das nun etwas schmalere Cockpit herum beruhigen möchten.
Ein großes Loch in der Lufthutze: Aus drei mach eines
Hinter dem Cockpit fällt der neue Lufteinlass am Überrollbügel auf. Die Optik täuscht jedoch. Der große, runde Einlass ist nichts weiter als eine Zusammenfassung der seitlichen Kanäle und des zentralen Lufteinlasses für den Motor. Die eigentliche Struktur lässt sich beim Blick in das Loch hinein leicht erkennen. In der Öffnung teilen zwei Elemente den Luftstrom in die drei Bereiche für Motor und die beiden Kühler auf.
Warum man eine solch bullig wirkende Lösung gewählt hat, ist noch unklar. Wahrscheinlich handelt es sich nicht um ein Design allein im Sinne der Ästhetik. Vermutlich werden die zusammengefassten Einlässe besser wirken - vor allem im Sinne der Kühlung, wenn der Motor nicht unter Volllast arbeitet. Dann nämlich kann mehr Luft in die seitlichen Einlässe strömen.
In den vergangenen Jahren waren diese oberen Einlässe dafür da, die Wasserkühler des ERS und den Ölkühler des Getriebes mit Frischluft zu versorgen. Mercedes war im vergangenen Jahr bei der Kühlung jedoch am Limit, wie man vor allem in Mexiko sehen konnte. Dort hatte man größere Einlässe nutzen müssen, um die Kühlung bei hohen Temperaturen und "dünner Höhenluft" bewerkstelligen zu können. Es gilt als wahrscheinlich, dass die neuen Einlässe ein verändertes Kühlsystem bedienen.
Drei Endrohre: Zweimal Wastegate für mehr Sound
Auch an den vorderen Kanten der Seitenkästen ist eine veränderte - sogar etwas wuchtigere - Form zu erkennen. Nicht die Einlässe an sich sind größer, sondern die Wölbung der Oberseite fällt mächtiger aus. Diese Wölbung deckt die dortige Crashstruktur ab, die von der FIA vorgegeben ist. Die neue Formgebung ist jener ähnlich, die Ferrari bereits im vergangenen Jahr umgesetzt hatte: vorn wuchtig und hoch, aber tief unterschnitten und zum Heck schmal zulaufend.

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Mercedes hat dem W07 neue Leitelemente seitlich des Cockpits verpasst Zoom
Am Heck ist die neue Lösung für die Abgasauslässe zu sehen. Man arbeitet neuerdings mit drei Endrohren: eines für die normalen Abgase, zwei weitere für das Turbo-Wastegate. Es scheint Standard zu werden, dass man die beiden Wastegate-Rohre unterhalb des Hauptauslasses anbringt. Weil ohnehin eher selten ein nennenswerter Luftstrom aus den Wastegates entweicht, fallen die Rohre zart aus. Die Abgase werden nicht für das Anströmen eines aerodynamischen Elements verwendet.
Mercedes hat sich entschieden, die Melbourne-Spezifikation schon beim ersten Test einzusetzen. Die bisherigen "Platzhalter" am Präsentations-Fahrzeug werden also vermutlich schon heute zum Auftakt in Barcelona wieder ersetzt. Im vergangenen Jahr hatten sich die Silberpfeile mit Evolutionen deutlich an der Spitze halten können. Selbst am Saisonende 2015 hatte Mercedes noch großen Vorsprung. Nun kommen die Gegner aber näher. Man muss weiter an Zuverlässigkeit und Tempo arbeiten. Es wird durchaus Wochenenden geben können, wo die Rivalen aufgrund der Bedingungen schneller sein werden.

