• 12.04.2012 20:09

  • von Dieter Rencken, Christian Nimmervoll & SID

Trotz Schweigen: So könnte Bahrain abgesagt werden

Laut Concorde-Agreement könnte Bahrain wegen höherer Gewalt abgesagt werden - Druck auf die schweigende Formel-1-Gemeinde wird immer größer

(Motorsport-Total.com/SID) - Schweigen, Witze, Verharmlosungen: Ein neuerlicher Bombenanschlag und die anhaltenden Unruhen sorgen für heftige Diskussionen über eine erneute Absage des Formel-1-Rennens in Bahrain. Das Fahrerlager ist aber anscheinend zur unpolitischen Zone erklärt worden, in der Ängste und Emotionen verboten sind. Offensichtlich haben sich die Fahrer und Teamvertreter trotz verständlicher Bedenken einzelner darauf verständigt, sich aus politischen Diskussionen herauszuhalten und der Thematik auch nicht durch persönliche Befindlichkeiten zusätzliche Brisanz zu verleihen. Selbst Piloten, die sich kürzlich noch kritisch zu einer Austragung des im Vorjahr abgesagten Rennens im Golfstaat geäußert hatten, versuchen sich nun als Diplomaten.

Titel-Bild zur News: Unruhen in Bahrain

In den Vororten von Manama kommt es immer wieder zu Ausschreitungen

Weltmeister Sebastian Vettel verbittet sich sogar Fragen zu der brisanten Thematik: "Bitte keine Bahrain-Fragen", sagt er unmissverständlich. "Es gibt genug andere Personen im Fahrerlager. Fragt die." Rekord-Champion Michael Schumacher antwortet auf die Frage, ob er Sicherheitsbedenken habe, mit einem rigorosen "Nein". Sein Mercedes-Teamkollege Nico Rosberg erklärt, es sei "schwierig, überhaupt ein Gefühl zu haben, weil wir nicht wissen, was los ist". Force-India-Pilot Nico Hülkenberg verweist darauf, "dass wir keine Politiker sind".

Fahrer leiden plötzlich an Alzheimer

Andere rudern sogar zurück. Auch Timo Glock und Witali Petrow benutzten nun die anscheinend von der Teamvereinigung FOTA ausgegebene Sprachregelung, man vertraue dem Urteil der FIA. Dabei hatte Glock, wohlgemerkt vor dem Bombenanschlag mit sieben Verletzten am Montag, noch gesagt: "Warum sollten wir uns unnötig einem Risiko aussetzen? Wegen mir müssen wir dort nicht fahren." Der Gipfel des Schweigegelübdes war die offizielle Pressekonferenz am Donnerstag. Als die Frage nach der persönlichen Meinung, den Emotionen und eventuellen Ängsten aufkam, sahen alle sechs Fahrer betreten zu Boden, kein einziger äußerte sich.

Dabei ist es trotz der Fokussierung auf das bevorstehende Rennen in China nicht vorstellbar, dass keinen der Fahrer - einige davon sind Familienväter - in Bahrain ein mulmiges Gefühl beschleichen würde. Die deutsche Botschaft in Manama urteilt in ihrer aktuellen Stellungnahme: "Auch im Stadtzentrum von Manama kommt es in den Abendstunden und an den Wochenenden regelmäßig zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften, teilweise auch unter Einsatz von Tränengas."

Scheich aus Bahrain mit Bernie Ecclestone

Die Königsfamilie hat wenig Interesse daran, den Grand Prix abzusagen Zoom

Das Auswärtige Amt rät seit Monaten: "Reisenden wird empfohlen, sich umsichtig zu verhalten, Menschenansammlungen und Demonstrationen zu meiden und die örtliche Medienberichterstattung zu verfolgen." Wolfgang Grenz, Generalsekretär der Menschenrechtsorganisation Amnesty International Deutschland, meint in der 'Süddeutschen Zeitung', die Formel 1 solle "Bahrain weiträumig umfahren. 2011 ist es dort zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen gekommen. Eine Absage des Rennens wäre ein Signal, dass die Lage weiter besorgniserregend ist."

Doch Jenson Button trifft es auf den Punkt, wenn er sagt: "Sobald eines der Topteams dort fährt, müssen die anderen folgen." Denn niemand will im WM-Kampf ein freiwilliges Streichresultat akzeptieren - und noch weniger können es sich die finanziell ohnehin angeschlagenen Mittelständler leisten, auf jene geschätzten 15 Millionen Euro zu verzichten, die ihnen die Grand-Prix-Gebühr einbringen würde und die sie nur nach dem komplexen Concorde-Schlüssel untereinander aufteilen müssten.

Wer definiert Begriffe für höhere Gewalt?

"Aus Teamsicht muss man das sehr pragmatisch betrachten", sagt Sauber-Geschäftsführerin Monisha Kaltenborn. "Es ist Verantwortung der FIA und des Inhabers der kommerziellen Rechte, darüber zu entscheiden, ob die Bedingungen zulassen, dass wir dort fahren. Wir müssen uns auf ihre Entscheidung verlassen und werden tun, was sie sagen." Aber sie meint eher nebenbei: "Es gibt schon Ausnahmen, etwa bei höherer Gewalt."

Ein Punkt, den es genauer zu beleuchten gilt. Denn die Teams wollen Bahrain nicht boykottieren, weil ihrer Meinung nach die FIA und/oder Ecclestone entscheiden müssen. Ecclestone schiebt die Verantwortung auf Kronprinz Salman bin Hamad bin Isa Al Chalifa, weil der Formel-1-Geschäftsführer nicht selbst vertragsbrüchig werden will - das würde ihn und die Teams eine Menge Geld kosten. Die FIA schweigt seit Monaten (Präsident Jean Todt ist noch nicht einmal in Schanghai) und das Königshaus selbst wird auf den Grand Prix im Gegensatz zum Vorjahr nicht freiwillig verzichten.

Aber wenn die Teams behaupten, dass sie den Grand Prix nicht boykottieren können, sagen sie nicht die ganze Wahrheit. Laut Informationen von 'Motorsport-Total.com' steht in Schedule 4 des Concorde-Agreements, dass sich zwar jedes Team grundsätzlich verpflichtet, an allen Rennen der Weltmeisterschaft teilzunehmen, aber es gibt eine Ausnahme für "Umstände von höherer Gewalt", die konkret mit Krieg, Aufständen, Erdbeben, Krawallen, Feuer und Flut angegeben sind. Aber: Wer definiert, ab wann man in Bahrain von Aufständen oder Krawallen sprechen kann?

Im Concorde-Agreement ist sogar noch ein weiterer Teilvertrag enthalten, der die Grand-Prix-Verträge regelt. Auch hier ist von höherer Gewalt die Rede, wobei der Begriff an dieser Stelle zum Beispiel auch mit "inneren Unruhen" definiert ist. Doch wenn man sich auf den Internetseiten der meisten europäischen Außenministerien umsieht, scheinen sich zumindest die politischen Behörden weitgehend darüber einig zu sein, dass in Bahrain derzeit Aufstände, Krawalle oder innere Unruhen stattfinden.

Teams wollen Einnahmen nicht aufs Spiel setzen

Die Teams nehmen trotzdem weiterhin Abstand von klaren Aussagen: "Ich denke, jeder Sport funktioniert so, dass es Verbände und andere Leute gibt, die für bestimmte Dinge verantwortlich sind und solche Entscheidungen treffen müssen", weist Sauber-Geschäftsführerin Kaltenborn die Verantwortung von sich. "Als Team sollten wir das sehr pragmatisch sehen und uns nicht in andere Diskussionen verwickeln lassen. Wir sind hier, um Rennen zu fahren, und darauf konzentrieren wir uns. Der Sport sollte sich nicht in andere Dinge einmischen."

Dass jeder den Ball weitergibt und niemand selbst Verantwortung übernehmen will, begründet die Österreicherin so: "Ich kenne die genauen Vereinbarungen mit den Veranstaltern nicht, denn die kennen wir Teams nicht. Aber für uns als Teams ist es ganz einfach: Wir sind verpflichtet, die Rennen zu fahren, und wir befinden uns nicht in einer Position, in der wir uns das aussuchen können. Das wäre auch nicht richtig."

Seitens der FIA gebe es derzeit keine Empfehlungen: "In letzter Zeit hatten wir nicht viel Kontakt zur FIA. Vor einiger Zeit gab es einen Bericht, aber es gab keinen täglichen Dialog darüber", räumt Kaltenborn ein. "Ich bin mir sicher, dass wir uns dieses Wochenende treffen werden, um herauszufinden, wie die Situation dort wirklich ist. Denn man liest so viel, aber was davon stimmt? Ich glaube, das ist für jeden schwierig, der nicht selbst vor Ort ist."

Romain Grosjean war 2011 vor Ort, als die GP2 in Bahrain gefahren ist. "Wir waren 300 Meter von den Demonstrationen entfernt", erinnert sich der Lotus-Pilot gegenüber 'RMC Sport'. "Das waren beeindruckende Bilder. Wir schliefen in Kleidung und mit den Pässen in der Hosentasche. Wir nahmen jeden Morgen unsere Koffer mit, als wir zur Strecke fuhren. Wenn die Formel 1 nach Bahrain geht, müssen Sicherheitsmaßnahmen ergriffen werden, denn so eine Situation können wir nicht noch einmal durchmachen."

Human Rights Watch spricht Warnung aus

Angesichts dieser allgemeinen Sicherheitslage wirken Aussagen wie die von Ecclestone, er glaube "wirklich nicht, dass die Oppositionellen vor Ort irgendetwas gegen die Formel-1-Leute oder gegen Journalisten haben", geradezu fahrlässig oberflächlich. Zumal in den vergangenen Tagen Menschenrechtler der Formel 1 vorwarfen, eine Diktatur zu unterstützen, und Protestgruppen gedroht hatten, den Ablauf des Rennwochenendes massiv zu stören.

Romain Grosjean

Youngster Romain Grosjean ist einer der wenigen Fahrer mit einer Meinung Zoom

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch etwa kritisiert die Standard-Aussage der Formel-1-Verantwortlichen, der Sport sei nicht politisch: "Man kann nicht behaupten, dass man Politik und Sport nicht vermischt, wenn man gleichzeitig dort fährt", sagt Joe Stork, stellvertretender Direktor der Organisation für den Mittleren Osten, gegenüber 'Autosport'. "Es ist nicht unsere Aufgabe, die Formel 1 zu einem Boykott Bahrains aufzurufen, aber die Situation ist nicht gut und wird immer schlimmer."

Vorteile habe der Grand Prix vor allem für die Regierung - erstens finanzieller Natur, zweitens weil sie "unbedingt den Eindruck erwecken wollen, dass sicherheitstechnisch alles ganz normal ist, was innere Unruhen angeht, weil sie wie eine glückliche Familie erscheinen möchten. Aber Tatsache ist, die Situation ist nicht normal. Ich weiß nicht, ob es Aufgabe oder Mandat der Formel 1 ist, sich an solchen Übungen zu beteiligen", kritisiert Stork.

Die Entscheidung wird vermutlich erst am Samstag fallen. Schon morgen soll es laut Informationen der 'BBC' zu einem Treffen zwischen Ecclestone und den Teamchefs kommen. Weil FIA-Präsident Todt aber noch bis Samstag in Taiwan ist, wird eine definitive Aussage frühestens am Samstag erwartet. Der allerletzte Zeitpunkt, den Grand Prix abzusagen, wäre der Sonntagnachmittag, bevor der Formel-1-Zirkus entweder in die Flieger nach Bahrain oder Europa steigen muss...