• 15.04.2012 16:19

  • von Dieter Rencken & Roman Wittemeier

Reifennutzung: Entdecke die Möglichkeiten

Die Pirellis der Generation 2012 werden zum entscheidenden Faktor in der Formel 1: Perfekte Reifennutzung wichtiger als Abtrieb am Auto?

(Motorsport-Total.com) - Die Formel-1-Saison 2012 hat bereits in den ersten drei Rennen viel Spektakel geboten. Für besonderen Reiz sorgt die geringe Vorhersehbarkeit der jeweiligen Hackordnung. In Melbourne war McLaren das Maß der Dinge, in Malaysia zeigten sich Ferrari und Sauber plötzlich bärenstark und nun in China war Mercedes nicht zu stoppen. Völlig unterschiedliche Fahrzeugkonzepte wechseln sich an der Spitze ab. Dies liegt nach Ansicht vieler Fachleute an den Reifen der neuesten Generation.

Titel-Bild zur News:

Die Reifen sind das bestimmende Element in der Formel-1-Saison 2012

"Wir erleben eine wundervolle Saison. Es ist absolut faszinierend. Vorhersagen sind komplett unmöglich. Nicht einmal die Fachleute, die alle Daten zur Verfügung haben, können etwas vorhersagen", freut sich Pirelli-Motorsportchef Paul Hembery im Gespräch mit 'Motorsport-Total.com' über die aktuelle Show. Am Sonntag in China überraschte Mercedes die gesamte Szene. Die Silberpfeile hatten bei den ersten beiden Stationen des Jahres große Probleme mit der Haltbarkeit der Pneus, aber in Schanghai konnte Nico Rosberg plötzlich mit nur zwei Boxenstopps zum Sieg fahren.

Mercedes liebt kühle Werte

Natürlich hatte auch Mercedes in der dreiwöchigen Pause an weiteren Updates gearbeitet. Aber nicht die technischen Neuerungen waren für die besondere Stärke in China verantwortlich, sondern die Bedingungen und das Verständnis für den Umgang mit den Pirellis. "Faszinierend", lächelt Hembery beim Blick auf die Liste der über 50 Boxenstopps in China. "Vor dem Grand Prix haben alle darüber gesprochen, dass Mercedes angeblich mit dem Reifenverschleiß ein großes Problem hat."

"Ross Brawn sagte mir aber vorher schon, dass sie dem Problem auf den Grund gehen konnten. Wie man nun sieht, stimmt das wohl. Die waren vom Start bis ins Ziel extrem schnell", erklärt der Brite. Mercedes hatte es geschafft, den W03 auf einen schonenderen Umgang mit den Gummis zu trimmen. Die kühlen Bedingungen in China kamen ihnen dabei zugute. "Die Temperaturen haben einen erheblichen Effekt", sagt Red-Bull-Teamchef Christian Horner.

Nico Rosberg

Nico Rosberg konnte überraschend mit zwei Stopps zum Sieg fahren Zoom

"Es gab noch einmal kleinste Veränderungen bei der Temperatur. Urplötzlich war am Sonntag die Medium-Mischung genauso schnell wie die weiche Variante. Dabei hatte der Option-Reifen am Samstag noch einen Vorteil von einer Sekunde geboten, bei manchen Teams sogar von eineinhalb Sekunden", wundert sich McLaren-Teamchef Martin Whitmarsh. Die Pneus der Generation 2012 reagieren äußerst sensibel auf Veränderungen der Streckentemperatur.

Freie Fahrt bringt Vorteile

"Ich bin sehr sicher, dass viele Teams ihre Strategien im Rennen noch kurzfristig angepasst haben. Solche Rennen entwickeln sich im ersten Stint", schildert Hembery das Szenario in China. "Bei McLaren hat man gesehen, dass nur wenig zum Sieg fehlte, obwohl sie einmal mehr gestoppt haben. Der Unterschied zwischen zwei und drei Stopps war wirklich marginal. Das zeigen auch unsere Daten." Und genau davon lebte der Grand Prix in Schanghai: verschiedene Strategiewege konnten ans Ziel führen.

"Wir waren schon vor dem Rennen der Ansicht, dass drei Stopps wahrscheinlich, aber zwei Stopps durchaus möglich sein werden - wenn auch nur ganz knapp", sagt Hembery, der letztlich von der Haltbarkeit der Gummis etwas überrascht wurde. Lotus-Pilot Kimi Räikkönen fuhr einen abschließenden Stint über 28 Runden. So etwas hatte man vor dem Start eigentlich nicht für möglich gehalten. Diese Taktik zahlte sich zwar nicht aus, aber sie war ein weiteres Zeichen für den Variantenreichtum.

"Mercedes hat sich aufgrund des Speedvorteils sicherlich überlegt, ob man nicht doch einen dritten Stopp einlegen sollte. Davon gehe ich jedenfalls aus", meint Hembery. Allerdings gab es für Rennsieger Rosberg gar keinen Anlass, über einen solchen Schritt nachzudenken. "Ich konnte meine Reifen wunderbar schonen. Ich hätte jederzeit noch etwas schneller fahren können", so der Mercedes-Held. "Ich musste aber sehr feinfühlig zu Werke gehen. Vollgas fährt man in solch einer Situation sowieso nicht."

Reifen gleichen das Feld aus

Rosberg konnte das Rennen souverän an der Spitze kontrollieren. "Wir wissen doch, dass es in der Formel 1 mehrere Vorteile hat, wenn du vorne losfahren darfst. Du plagst dich nicht mit Luftverwirbelungen anderer Autos herum, rutschst dann weniger herum und du hast freie Bahn", sagt Hembery. Während Rosberg an der Front saubere Runden abspulen konnte, rieben sich die Gegner in Zweikämpfen auf und belasteten ihre Reifen dadurch zusätzlich.

Nach drei Rennen dieses Jahres haben bereits 17 verschiedene Piloten in die Punkte fahren können. Die Abwechslung an der Spitze ist so groß wie selten zuvor. "Das Feld ist im Grunde genommen nicht so extrem dicht zusammen. Wenn man sich mal anschaut, wie viele unterschiedliche Autos gestern im Qualifying in den Top 10 waren, dann ist es nicht so, dass diese Fahrzeuge sich im Bereich Abtrieb nur um drei Prozent unterscheiden. Es ist so, dass diese Autos einfach um drei Prozent bei der Rundenzeit auseinander liegen", sagt Horner.


Fotos: Großer Preis von China


"Der wichtigste Faktor, im Rahmen dessen an die Spitze zu kommen ist, dass man die Reifen zum arbeiten bringt", beschreibt der Chef des Weltmeisterteams. "Am kommenden Wochenende in Bahrain werden wir auf extrem andere Bedingungen treffen. Es wird ganz bestimmt ein faszinierendes Jahr mit immer wieder neuen Verschiebungen." Am kommenden Wochenende in Manama wird es deutlich wärmer sein. "Da kann es wieder ganz anders aussehen", sagt Rosberg vorsichtig, denn sein Mercedes liebt die kühlen Werte.