• 21.10.2023 18:59

  • von Stefan Wagner

Nio EL6 (2024) im Test: Mercedes-EQE-SUV-Gegner überrascht

Nios SUV-Allzweckwaffe EL6 hat ein erstaunlich hohes Niveau - Fahrdynamisch ist noch Luft und der Preis wird auch nicht jedem gefallen

(Motorsport-Total.com/Motor1) - Seien wir ehrlich: Bei der Masse an Elektro-SUVs, die derzeit aus dem Land des Lächelns auf den guten alten deutschen Automarkt einprasseln, kann man durchaus schon mal die Orientierung verlieren. Ich meine, ich mache das Ganze hier beruflich und selbst mir raucht inzwischen gewaltig der Kopf. Beim übernächsten X macht es vermutlich irgendwann PENG.

Titel-Bild zur News:

Nio EL6 (2023) im Test Zoom

Und doch gibt es chinesische Hersteller, die irgendwie herausstechen. Nio ist einer von ihnen. Weil man dort Premium sein will und offensichtlich keine Lust hat auf den üblichen China-Kampfreis. Und weil man auf Batterietausch setzt. Das ist erstens recht spannend und zweitens ziemlich mutig. Oder kennen Sie irgendeinen anderen Autobauer, der das macht?

Typisch chinesisch ist dagegen das wahnwitzige Tempo von Nio und seinem Gründer William Li. Lässt man mal das Elektro-Hypercar EP9 von 2016 außen vor - von der Flunder mit einem Megawatt Leistung und siebenstelligem Preisschild wurden um die 18 Exemplare gebaut, eines davon steht aktuell sogar in München -, brachte man seit dem Start der Serienfertigung 2019 sieben neue Modelle auf den Markt.

Bei uns in Deutschland ist man seit gut einem Jahr tätig. Und launchte in dieser Zeit mal eben fünf Fahrzeuge. Der Neueste im Bunde dürfte gleichzeitig der mit dem größten Vermarktungspotenzial sein. Ich sage nur "SUV" und "4,85 Meter Länge". Den Rest können Sie sich selber ganz gut zusammenreimen. Wir konnten den EL6 jetzt einen Tag lang testen. Ausgeliefert wird er bereits ab 30. Oktober.
Was ist das?

Nios erstes Auto, den 2019 gelaunchten ES6, gab es nur in China. Hier sehen Sie seinen Nachfolger. Er sitzt auf der gleichen Plattform wie alle anderen Nios. Bei uns sind das die Mittelklasse ET5 als Limo und Kombi sowie der ET7 im Mercedes-EQS-Format und das XL-SUV EL7. Seine recht gewaltigen Ausmaße (Breite ohne Außenspiegel: 1,99 Meter) lassen sich einfach erklären: Anders würde die sehr spezielle Akku-Konstruktion nicht reinpassen. Die Batterie gibt es wahlweise mit 75 oder 100 Kilowattstunden. Wie erwähnt sind die Energiespeicher austauschbar. Deswegen sind sie bei allen Nios gleich.

Optisch sieht auch dieses SUV ein bisschen nach "Lass das mal den KI-Designer machen" aus. Immerhin legt Nio mit seinem "Watchtower-Sensor-Layout" ein bisschen Wert auf Eigenständigkeit. All die Sensoren fürs künftige autonome Fahren stehen hier selbstbewusst wie eine Art Rallye-Zusatzscheinwerfer über der Windschutzscheibe. Als Hauptkonkurrenten dürfte man sich das Mercedes EQE SUV und den kommenden Audi Q6 e-tron auserkoren haben.

Zwei Elektromotoren (150 kW vorne, 210 kW hinten) sorgen für eine Gesamtleistung von 490 PS und 700 Nm Drehmoment. Damit beschleunigt der gut 2,4 Tonnen schwere EL6 in 4,5 Sekunden von 0-100 km/h. Maximal sind 200 km/h möglich. Die Reichweiten laut WLTP betragen 406 Kilometer mit dem kleinen und 529 Kilometer mit dem großen Akku.

Thema Fahrdynamik: Das Auto setzt auf adaptive Dämpfer, eine eigens entwickelte 4-Kolben-Bremse (Bremsweg laut Hersteller: 34,5 Meter), 20- oder 21-Zoll-Räder mit 265er-Bereifung und neun verschiedene Fahrmodi. Zusammengehalten wird alles über den sogenannten "Intelligent Chassis Controller" der "over the air" updatebar ist, falls den Entwicklern künftig Dinge einfallen, die das Auto besser fahren lassen.

Apropos: In der schönen neuen Welt geht ja nun gar nix mehr ohne ständige Drahtlos-Optimierungen. Bei Nio können Sie sogar der charmanten In-Car-Assistentin Nomi ihr Leid klagen, wenn Ihnen irgendwas am Auto nicht gefällt. Auf Wunsch wird die Kritik dann direkt ans Entwicklerteam weitergeleitet und mit etwas Glück hat ihre Pein beim nächsten großen FOTA-Update (Functions-Over-The-Air, im Halbjahres-Rythmus) bereits ein Ende.
Okay, okay, alles wunderbar. Aber wie war das jetzt nochmal mit dieser Tausch-Batterie?

Ha, ich wusste es - daran bleiben die Leute hängen. Neben dem klassischen Kauf des Gesamtfahrzeugs bietet Nio auch das Akku-lose Gefährt plus monatlicher Batterie-Miete. Im Falle des EL6 gibt es vier Möglichkeiten:

53.500 Euro Grundpreis plus 12.000 Euro für den 75-kWh-Akku 53.500 Euro Grundpreis plus 21.000 Euro für den 100-kWh-Akku 53.500 Euro Grundpreis plus 169 Euro/Monat für den 75-kWh-Akku 53.500 Euro Grundpreis plus 289 Euro/Monat für den 100-kWh-Akku

Übrigens entscheiden sich gerade mal fünf Prozent der Kunden für den Kauf der Batterie. Die Gründe liegen auf der Hand: Erwerbe ich den Akku, kann ich ihn nicht tauschen. An den sogenannten Power Swaping Stations (PSS) geht das vollautomatisch in circa fünf Minuten. Das ist laut Nio auch der Grund, warum die maximale DC-Ladegeschwindigkeit mit 140 kW (75er-Akku) oder 180 kW (100er-Akku) nicht so richtig fett ist: Die überwältigende Mehrheit der Kundschaft lädt ihren Nio kaum, sie tauscht lieber regelmäßig den Speicher.

Jetzt werden Sie sagen: Alles Mumpitz bei aktuell gerade mal neun dieser Stationen in ganz Deutschland. Und ich gebe Ihnen Recht. Aber wir kennen alle das China-Tempo. Der Hersteller selbst will bis 2024 xxx PSS in Deutschland laufen haben, bis 2025 sollen es xxx sein. Aktuell ist der Dienst bis auf den Strom noch kostenlos. Das wird freilich nicht so bleiben, man möchte aber einen Fixpreis anbieten.

Der zweite Vorteil der Batteriemiete ist: Bald soll man sein persönliches Leih-Modell monatlich anpassen können. So brauche ich mir etwa den 100-KWh-Akku nur holen, wenn ich weiß, dass demnächst mehrere längere Fahrten anstehen. Danach wechsle ich wieder auf den günstigeren Kleinen. Dabei nicht zu vergessen: Eine neue 150-kWh-Batterie steht bereits in den Startlöchern. Die soll gut 800 Kilometer WLTP-Reichweite bieten und sie wird das Miet-Portfolio zeitnah ergänzen.

Man sei übrigens auch dafür offen, dass andere Hersteller auf das Akku-Tausch-Set-up umsteigen und könne auf Wunsch die Technologie bereitstellen, heißt es von offizieller Seite. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Jetzt seh ich nur noch Akkus vor mir. Fährt der EL6 denn überhaupt gut?

Keine Frage, es geht hier schon sehr viel um die User-Experience. Nio nennt seine Kunden auch "User". Neben dem Batterie-Thema will man vor allem beim Service punkten. Fünf Jahre Garantie, persönlicher Hol- und Bring-Service bei Wartungen, mobile Service-Trupps, die bei Problemen zum Kunden ... äh ... User kommen und so weiter. Dazu passt eine Art Rundum-Sorglos-Paket, dass alle Wartungen, Reifenservice, Versicherung et cetera beinhaltet. 1.179 beziehungsweise 1.309 Euro (je nach Akkugröße) im Monat werden natürlich nicht jeden vor Freude aus den Latschen kippen lassen.

Das alles nützt aber freilich nix, wenn sich der liebe EL6 in der täglichen Nutzung als Rohrkrepierer erweist. Spoiler-Alarm: Das tut er nicht.

Über den Vortrieb brauchen wir hier, glaube ich, nicht all zu viele Worte zu verlieren. Er hat 490 PS, er geht ansatzlos wie die Sau. Wie das halt so ist bei E-Autos dieser Leistungsklasse. Im Comfort-Modus, wo die Anzeige im Instrumentendisplay beim Kickdown so bis zu 270 kW notiert, ist das sehr flott. In Sport Plus (Shortcut über zwei Tastendrücke am Lenkrad) bei vollen 360 kW fetzt es dann nochmal deutlich radikaler.

Wir sind hier also wenig überraschend verflucht schnell unterwegs, besonders sportlich oder involvierend allerdings nicht. Die Lenkung ist sehr leichtgängig und weitgehend gefühlsbefreit. Das hat was von Rühren im Vakuum. Im Grenzbereich - und ja, das habe ich tatsächlich ausprobieren können - schiebt das Auto vehement über die Vorderräder, hat wenig Lust auf Fahrdynamik. Man spürt das Gewicht. Aber der EL6 bleibt in allen Lagen stoisch und bremst sich sicher auf Spur zurück.

Und damit ist zu diesem Thema auch genug gesagt, denn unwichtiger könnte es bei einem großen, luxuriösen Familien-SUV kaum sein. Viel entscheidender: Der Fahrkomfort ist erste Sahne. Das Auto ist relativ weich abgestimmt, schwebt förmlich über den Asphalt und bügelt auch gröbere Unebenheiten klaglos über den Haufen.

Keine ungebetenen Vibrationen oder Geräusche aus dem Fahrwerks- und Karosseriebereich, keine Schwachstellen bei fiesen Stößen, keine übermäßigen Windgeräusche. Bremse? Auch ohne echtes One-Pedal-Driving gute Abstufung der Rekuperation und vernünftiges Pedalgefühl. Das funktioniert alles.

Dazu passen auch die großzügig geschnittenen, langstreckentauglichen Sitze in Reihe eins. Der Beifahrersitz hat sogar eine Maybach-eske Lounge-Funktion mit ausfahrbarer Fußstütze und Liegeposition. Im Fond geht es ähnlich feudal zu. Selten bettete ich mein Hinterteil bequemer als auf dieser ewig breiten, weichen Rückbank. Dazu lümmelt man dank der elektrisch verstellbaren Rückenlehne wie im Kinosessel. Beinfreiheit: monumental. Das Kofferraumvolumen ist mit 579 bis 1.430 Liter dagegen ausbaufähig. Die Anhängelast beträgt maximal 1.200 Liter.


Fotostrecke: Nio EL6 (2024) im Test: Mercedes-EQE-SUV-Gegner überrascht

Ach ja, der Verbrauch: Der lag am Ende der Testfahrt mit Autobahn und teils zügig gefahrenen Bergstraßen laut Bordcomputer bei 21,5 bis 22 kWh. Auf einer Strecke von 175 Kilometer fuhr ich den Akku von 84 auf 40 Prozent (Restreichweite von 431 auf 206 Kilometer).
Und die Bedienung?

Sie sehen es ja selbst auf den Bildern: Meine Herren, ist das alles clean hier drin. Ein paar unbeschriftete Taster auf dem Volant, die Gangwahl-Rolle vorne auf der Mittelkonsole - das war's. Der Rest - also so gut wie alles - wird über den ausladenden Zentral-Bildschirm gesteuert. Selbst die Verstellung der Außenspiegel.

Nervt das? Ein bisschen, ja. Anfangs. Aber es nützt ja nichts, wenn der Autojournalist, der 5 Stunden mit dem Fahrzeug verbringt, über umständliche Bedienung mosert. Man gewöhnt sich schnell daran. Auch weil, die Umsetzung gut gelungen ist. Unter anderem über eine Shortcut-Seite, auf der man die wichtigsten Funktionen und Einstellungen bündeln kann.

So sieht das Ganze mit physischer Nomi aus

Und hier die dezentere Variante ohne den kleinen Sprachbefehl-Kobold

Oder man nutzt halt einfach Nomi, quasi das "Hey BMW" von Nio. Nur in freundlicher. Und - so ehrlich muss man sein - in deutlich besser. Vielleicht kennen Sie die etwas vorlaute Kugel auf dem Armaturenbrett aus anderen Nios. Sie blinzelt einen an, schneidet Grimassen, holt auch mal die Gitarre raus (kein Witz). Die Chinesen lieben das. Die Deutschen eher weniger, weswegen man die famose Sprachsteuerung nun auch ohne knuddeligen Tamagotchi-Knubbel bekommt.

An der Qualität des Ganzen ändert das nichts. Nomi versteht alles (es ist fast beängstigend gut) und kann alles, was keine sicherheitsrelevanten Verstellungen betrifft. Und das übrigens von allen Sitzplätzen aus, das kann sie unterscheiden. Wenn also von hinten links kommt: "Mir ist kalt", dann geht hinten links die Sitzheizung an.

Wegen des Liege-Beifahrerstuhls gibt es kein Handschuhfach. Dafür kriegt man ganz ordentlichen Stauraum zwischen den Vordersitzen, gut nutzbare Ablagen in den Türen und ein abschließbares Fach in der Mittelkonsole. Dazu kommen Dinge wie eine Materialqualität auf Premium-Niveau und eine hervorragende Verarbeitung innen wie außen.
Fazit

Es klingt ja fast schon ein wenig abgedroschen inzwischen, aber welchen Standard auch Nio in derart kurzer Zeit erreicht hat, ist beeindruckend und sollte dem ein oder anderen alteingesessenen Autohersteller durchaus Angst machen.
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Der EL6 erweist sich im Test als sehr luxuriöses, geräumiges, komfortables Reiseauto mit allen Schikanen. Fahrdynamisch ist das zugegebenermaßen allenfalls Durchschnitt. Und natürlich muss sich erst noch zeigen, ob die ambitionierten Pläne bezüglich der Batteriewechsel-Stationen aufgehen. Der Preis scheint für das Gebotene fair. Die Frage ist, wie bereit der deutsche Kunde für Premium aus der Volksrepublik ist.

Technische Daten und Preis Nio EL6 100 kWh

Motor: Induktionsmotor vorne (150 kW); Permanentmagnetmotor hinten (210 kW)

Antrieb: Allradantrieb

Leistung: 360 kW (490 PS)

Max. Drehmoment: 700 Nm

Beschleunigung 0-100 km/h: 4,5 Sekunden

Höchstgeschwindigkeit: 200 km/h

Abmessungen:
Länge: 4,85 Meter
Breite: 1,99 Meter
Höhe: 1,70 Meter

Gewicht: Leergewicht: 2.400 kg

Kofferraumvolumen: 579 - 1.430 Liter

Anhängelast: 1.200 kg

Batterie: 100 kWh

Elektrische Reichweite: 529 Kilometer (nach WLTP)

Verbrauch: Testverbrauch laut BC: 21,5 kWh

Ladeanschluss: 180 kW (DC)

Preis: Basispreis: 53.500 Euro (plus 289 Euro/Monat Batteriemiete) oder 74.500 Euro mit Batterie

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