Vettel-Finger: Diesmal war's der falsche, Seb!

Chefredakteur Christian Nimmervoll bricht in seiner aktuellen Kolumne eine Lanze für Sebastian Vettel und wundert sich über den Aufschrei mancher Medien

Titel-Bild zur News: Sebastian Vettel

Den hättest du mal lieber auch Narain zeigen sollen, lieber Sebastian!

Liebe Leser,

es muss irgendwann im Jahr 2004 gewesen sein, als ich das erste Mal mit Sebastian Vettel zu tun hatte. Dieser kleine Blondschopf mit Zahnspange siegte gerade die Formel BMW zu Tode und eine meiner Aufgaben im Firmengeflecht mit unserer Agentur Sport Media Service SMS war die Erstellung von Texten für den Kunden BMW. Einer unserer damaligen Native-Übersetzer flachste in einer E-Mail, nachdem wir den nächsten Vettel-Sieg (es sollten 18 in 20 Saisonrennen werden) abgefeiert hatten: "Bet we're gonna see this chap in F1 sooner rather than later." Und zwar nicht nur in der Formel 1 (2007), sondern auch auf dem Siegerpodest (2008) und mit dem WM-Pokal in Händen (2010).

Im Jahr 2007 schrieb ich als Ghostwriter seine Kolumne auf 'Motorsport-Total.com', und der Zugang war denkbar unkompliziert: über seine Handynummer. Für Sportler und ganz besonders Formel-1-Fahrer keine Selbstverständlichkeit. Ob es meine E-Mail war, die ihn und Toro Rosso damals auf die YouTube-Affäre um den mysteriösen Safety-Car-Zwischenfall um Lewis Hamilton in Fuji 2007 aufmerksam gemacht hat, weiß ich bis heute nicht. Tut aber auch nichts zur Sache. Was ich damit sagen will: Auch wenn der Herr Doppel-Weltmeister heute kein kleiner Bub mit Zahnspange mehr ist und sich inzwischen sicher ganz genau überlegt, wem er seine Handynummer oder private E-Mail-Adresse gibt, scheint er mir doch sehr bodenständig und vor allem sympathisch geblieben zu sein.

Dass die Medien jetzt kollektiv auf ihn eindreschen, weil ihm im Eifer des Gefechts ein "Idiot" über die Lippen gekommen und beim Vorbeifahren an Narain Karthikeyan in Sepang (sicher nur irrtümlich) der falsche Vettel-Finger außer Kontrolle geraten ist, lässt mich an meinem Berufsstand zweifeln. Ja, ich verstehe durchaus, dass gerade ein Formel-1-Weltmeister in der Öffentlichkeit ein gutes Vorbild abgeben sollte, und ja, auch ich möchte nicht, dass meine Kinder einmal vor mir stehen und mich fragen: "Papi, was ist ein Idiot?" Aber lassen wir doch mal die Kirche im Dorf!

Viele trauern den guten, alten Zeiten der Formel 1 nach, den goldenen Jahren, als James Hunt noch besoffen im Cockpit einschlief, Nelson Piquet noch Eliseo Salazar zum Kickbox-Infight herausforderte oder der gleiche Nelson Piquet die Ehefrau seines Teamkollegen Nigel Mansell, Roseanne, als hässliche Vogelscheuche bezeichnete. Diese Liste könnte man endlos fortführen. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich heiße diese Dinge nicht persönlich gut, aber einerseits zu schreien, dass wir wieder Typen wie James Hunt brauchen, und andererseits wie ein Haufen aufgescheuchter Hühner herumzukreischen, wenn einem Sebastian Vettel ein harmloser "Idiot" über die Lippen kommt... Da stimmt doch wohl was nicht, oder?

Wir Medien sind es, die die Charakterköpfe in der Formel 1 verhindern, indem wir uns auf jeden noch so lapidaren Fehltritt eines der Stars stürzen und diese bis zum Gehtnichtmehr ausschlachten. Denn was wird passieren, wenn insbesondere der Boulevard jetzt auf Seb draufhaut? Einer der letzten Fahrer, dem wenigstens ab und zu noch eine flapsige Bemerkung über die Lippen kommt, wird sich in Zukunft auch ganz genau überlegen müssen, was er wie sagen darf und was er sich besser verkneift, obwohl er es eigentlich gerne sagen würde. Und dann sind die Medien wieder die Ersten, die ihm vorwerfen, er sei zum farblosen PR-Roboter verkommen.

Ich find's gut, wenn sich ein Kimi Räikkönen bei 'BBC Top Gear' frisch von der Leber plaudert, dass er dem Wodka nicht abschwören will und Lotus nur für einen Sponsor seines Arbeitgebers hält (was letztendlich ja auch stimmt, den PR-Leuten des Teams aber sicher einen Beinahe-Herzinfarkt beschert hat). Ich find's auch gut, wenn Lewis Hamilton, den man jahrelang als Ron Dennis' PR-Püppchen verschrien hat, mal einen von Ali G inspirierten, kontroversen Witz reißt (der tausendprozentig nicht die Rassismus-Keule als Motiv hatte), ohne gleich an die Konsequenzen zu denken. Typen will ich, Menschen, die nicht makellos sind, Racer mit Ecken und Kanten. Sonst wäre mein Beruf langweilig.

Christian Nimmervoll

Christian Nimmervoll versteht die Aufregung um Sebastian Vettel nicht Zoom

Und was denken Sie? Unsere Leser sehen die Sache anscheinend gespalten. 48,05 Prozent finden in einem (natürlich nicht repräsentativen) Online-Voting auf 'Motorsport-Total.com' (bisher rund 1.000 abgegebene Stimmen), dass Vettels Verhalten zwar "kein guter Stil" ist, eine Strafe seitens der FIA aber "übertrieben" wäre, während es gerade mal 19,88 Prozent so wie ich sehen und zugunsten der Typen in der Formel 1 ein Auge zudrücken. Immerhin 32,07 Prozent fordern aber sogar eine Strafe.

Jedem seine Meinung. Ich habe eine andere. Ich finde, Affären wie "Spygate" oder "Crashgate" schaden dem Sport wirklich. Nicht, wenn ein Fahrer endlich mal wieder echte Emotionen zeigt...

Christian Nimmervoll