Taktikcheck: Diese Logik steckt hinter Hamiltons frühem Stopp

Warum Mercedes mit Lewis Hamilton trotz der härteren Reifen die Boxenstopp-Phase eröffnete, woran er in Spielberg litt und wieso er sich als Schnellster wähnt

(Motorsport-Total.com) - Nach dem Qualifying waren alle im Fahrerlager überzeugt: Der von Platz acht startende Lewis Hamilton wird im Rennen mit einem späten Boxenstopp versuchen, seine Rivalen auszutricksten, weil er als einziger Top-10-Pilot nicht mit der weichsten Reifenmischung losfährt. Am Ende trat das Gegenteil ein: Der WM-Zweite bog bereits in der 31. von 71 Runden in die Boxengasse ein und eröffnete somit die Stopp-Phase. Ein Fehler der Mercedes-Strategen, die sich damit um den Vorteil des härteren Startreifens brachten?

Titel-Bild zur News: Lewis Hamilton

Lewis Hamilton kam zur Verwunderung vieler als einer der ersten an die Box Zoom

"Es war gar nicht geplant, dass ich so früh stoppe", zeigt sich auch Lewis Hamilton, der am Ende knapp hinter Daniel Ricciardo als Vierter ins Ziel kam, gegenüber 'Sky Sports F1' überrascht. "Der Plan war, noch zehn Runden oder so zu machen." Doch warum entschied man sich zur unkonventionellen Strategieänderung? Ursache war der Abstand auf den auf Platz sechs liegenden Verfolger Romain Grosjean, den Hamilton in der achten Runde überholt hatte.

Der Haas-Pilot lag in Runde 31 21,5 Sekunden hinter dem Briten - und da der 1,4 Sekunden vor Hamilton liegende Ferrari-Pilot Kimi Räikkönen keine Anstalten zeigte, an die Box zu fahren, nutzte Mercedes das Fenster, das den dreimaligen Weltmeister vor dem Franzosen wieder auf die Strecke zurückbringen würde. Das Unterfangen gelang, und Hamilton knallte auf Ultrasoft-Reifen sofort einen neuen Rundenrekord von 1:07.867 Minuten hin.

Wieso Mercedes bei Hamilton voll auf Ultrasoft setzte

Dadurch war er boxenstoppbereinigt bereits vor dem Finnen, der in diesem Umlauf um zwei Sekunden langsamer war. Das war es Mercedes wert, auf einen langen ersten Stint zu verzichten. Anlass dafür waren auch die guten Rundenzeiten des führenden Valtteri Bottas, der zu diesem Zeitpunkt auf der Ultrasoft-Mischung fuhr.

"Wir hatten am Freitag einige sehr gute Longruns", erklärt Wolff den Hintergrund der Entscheidung. "Und bei Valtteri haben wir am Anfang gesehen, dass er davonzieht. Er hat die Reifen hart rangenommen, aber die Zeiten waren trotzdem bis zum Ende konstant."


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Hamiltons Frontflügel-Dilemma

Doch der kurzfristige Stopp Hamiltons hatte seinen Preis. Der Mercedes-Star klagte sofort via Boxenfunk: "Far too much frontwing!" Und erklärt nach dem Rennen: "Ich hatte keine Chance mehr, dem Team zu sagen, was wir beim Frontflügel machen sollen." Auch Wolff zeigt sich gegenüber 'RTL' verwundert, dass die Einstellung nicht passte: "Bei Valtteri hat das gut funktioniert."

Das Auto war zwar zu Beginn des zweiten Stints perfekt ausbalanciert, aber durch die immer geringer werdende Spritladung wusste er, dass sich die Balance des Boliden ändern würde. "Wenn das Auto am Anfang neutral liegt, dann ist es schwierig, so 35 Runden zu fahren", erklärt Hamilton und spielt darauf an, dass gegen Rennende mit extremem Übersteuern rechnete.

Kimi Räikkönen, Lewis Hamilton

Hamiltons früher Boxenstopp brachte ihn an Räikkönen vorbei Zoom

"Da ist es besser, wenn das Auto am Anfang Untersteuern hat und später etwas übersteuert. Ich konnte aber ein paar kleine Änderungen vornehmen und bekam das in den Griff." Doch gegen Ende bekam Hamilton trotz starker Rundenzeiten Probleme mit den Reifen.

"Blistering": Set-up gibt bei Mercedes weiter Rätsel auf

Nach dem Rennen wundert sich Wolff: "Beim Anblick von Lewis' Reifen hätte man nicht geglaubt, dass da überhaupt noch Performance drinsteckte, aber trotzdem fuhr er zu diesem Zeitpunkt die schnellsten Rennrunden. Schwer zu verstehen." Zumal Bottas auf den Ultrasoft-Reifen 44 Runden absolvierte, ohne diese Probeme zu haben. Bei Pirelli vermutet man, dass eben diese starken Rundenzeiten unter der 1:08-Minuten-Marke zur Blasenbildung führten.

Bei Mercedes sucht man den Fehler währenddessen im eigenen Bereich: "Wir müssen herausfinden, wie unterschiedlich die Set-ups waren, um diese Unterschiede zu verstehen", erklärt Wolff. "Wir haben diese Saison immer wieder gesehen, dass manche Fahrer mit den Reifen Probleme kriegen, während das bei den Teamkollegen kein Problem war."

Mercedes sieht sich in Hamiltons Schuld

Überhaupt fühlt man sich bei Mercedes mitverantwortlich, dass Hamilton am Ende nicht über Platz vier hinausgekommen ist. "Im Nachhinein", holt Wolff aus, "hätte er in Q3 vielleicht etwas mehr Tempo gehabt, wenn er das gesamte Qualifying lang auf der gleichen Reifenmischung gewesen wäre. Das hat also vielleicht seine Chance zunichte gemacht, zwei Plätze weiter vorne zu starten."

"Es wird Zeit, dass das Momentum wieder in Lewis' Richtung geht." Toto Wolff

Dann verweist Wolff auf Hamiltons Probleme im Rennen, den Getriebewechsel, der ihm die Rückversetzung in der Startaufstellung einbrockte, und das Problem in Baku mit der Nackenstütze, das ihn den Sieg kostete. "Es wird Zeit, dass das Momentum wieder in seine Richtung geht", wünscht sich der Österreicher ein Ende von Hamiltons Pechsträhne.

Hamilton stemmt sich gegen negatives Momentum

Zumindest die Moral des Briten dürfte noch in Ordnung sein, obwohl er in der WM-Wertung weitere sechs Punkte auf Vettel verlor und nun schon 20 Zähler zurückliegt. "Wenn ich mir den Rennverlauf im Nachhinein anschaue, dann war ich heute eigentlich der Schnellste und hatte das stärkste Rennen", sagt er. Das führt er auch darauf zurück, dass er nur 7,430 Sekunden hinter seinem siegreichen Teamkollegen ins Ziel kam.

"Als ich am Force India und am Haas vorbeigekommen war, da war ich ungefähr 16 Sekunden hinter Valtteri, und dann habe ich noch mehr Zeit verloren", blickt er zurück. Dass es am Ende noch einmal enger wurde, wertet er als positives Zeichen." Nun steht der Heim-Grand-Prix des Briten in Silverstone bevor. Und der Mercedes-Aufsichtsratsvorsitzende Niki Lauda fordert gegenüber 'Sky Sports F1': "Dort muss bei Lewis jetzt wieder alles ganz anders laufen."