• 30.09.2014 17:39

  • von Gary Anderson (Haymarket)

"Eine Frage, Mister Anderson": Ein Experte erklärt die Technik

Technikexperte Gary Anderson verrät, wie er Alonsos Zukunft sieht, warum er von der Formel E wenig hält und wieso die silberne Dominanz in Singapur schrumpfte

(Motorsport-Total.com) - Die Formel 1 ist 2014 technischer denn je. Aus diesem Grund antwortet hier Gary Anderson - früher Chefmechaniker bei McLaren, Designer bei Jordan, Stewart sowie Jaguar und heute TV-Experte der 'BBC' - auf Technikfragen und lässt die Leser an seinem enormen Formel-1-Wissen teilhaben. Diesmal erklärt er, wie er Fernando Alonsos Situation auf dem Transfermarkt sieht, äußert Zweifel am Konzept der Formel E und verrät, wieso die Mercedes-Dominanz zu später Stunde in Singapur nicht so ausgeprägt war wie davor.

Titel-Bild zur News: Gary Anderson

Ex-Technikchef Gary Anderson ist einer der profundesten Kenner der Szene Zoom

Maria Sacher (Twitter): "Stimmt es, dass Fernando Alonso bei McLaren unterschrieben hat?"
Anderson: "Maria, ich habe keine Ahnung, also erlaube ich mir, die Frage in 'unterschreiben sollte' zu verändern. In Wahrheit sind - entschuldige, waren - Ferrari und McLaren zwei Top-Teams. In den vergangenen Jahren hat weder das eine noch das andere Team eine konstante Performance gezeigt oder den Eindruck gemacht, zu verstehen, warum man nicht dort ist, wo man nach den eigenen Ansprüchen eigentlich hingehören sollte."

"Meine Reaktion auf die veränderte Frage ist daher: Warum sollte er gehen? Das wäre doch so, wie wenn man aus der Bratpfanne direkt ins Feuer springt. Da Honda bei McLaren als Motorenlieferant einsteigt, könnte das bedeuten, dass Alonso dort mehr verdienen würde, aber ich glaube nicht, dass es ihm bei Ferrari finanziell schlecht geht."

"Wenn wir uns an BAR und Honda erinnern, dann haben die in den Nuller-Jahren auch keine Wunderdinge vollbracht, und als es drauf ankam, hat sich Honda nach Japan zurückgezogen. Das könnte wieder passieren, wenn das Projekt nicht erfolgreich ist."

Michael Fitzgerald (Twitter): "Ist die Formel E mit seiner neuen Technologie, Stadtkursen, Starpiloten und der Zusammenarbeit zwischen Teams und Promotern das wahre Problem der Formel 1?"
Anderson: "Michael, zwischen der Formel E und der Formel 1 besteht kein Wettbewerb, und ich sehe das auch in Zukunft nicht kommen. Hoffentlich hält sie sich lange genug, damit wir sie wirklich einschätzen können, aber wie du sagst, handelt es sich mit all der neuen Technologie und den Fahrern, die das nicht nur zum Spaß machen, um eine teure Angelegenheit."

Lucas di Grassi

Formel-E-Skeptiker: Anderson glaubt nicht an die Zukunft der Elektroautos Zoom

"Was die Zusammenarbeit zwischen den Teams und den Promotern angeht: Nun ja, die Promoter zahlen dafür, also sollten sie zusammenarbeiten."

"Es ist schön zu sehen, dass jemand etwas anderes macht, aber für mich persönlich sind Elektro-Autos - geschweige denn elektrische Rennautos - nicht die Zukunft. Sie sind viel zu teuer in der Herstellung, und erst bei ihrer Entsorgung - oder jener der Batterien - wird sich weisen, wie grün sie wirklich sind."

Ben Stuart (E-Mail): "Sind Formel-1-Autos heute wirklich so viel einfacher zu fahren als vor 20 oder 30 Jahren?"
Anderson: "Formel-1-Autos sind viel einfacher zu fahren als dies vor der Jahrtausendwende der Fall war. Als wir Piquet, Senna und Mansell (um nur einige zu nennen) völlig erledigt auf dem Podest sahen, da war das keine Effekthascherei - die Autos waren wirklich schwierig zu fahren."

"Heute geht es mehr um die mentale Aufmerksamkeit. Es ist immer noch genau so schwierig, schnell zu sein, aber man kann alles über das Lenkrad steuern, weshalb man nicht von der Strecke abgelenkt wird. Außerdem besitzen die Autos sehr effiziente Servolenkungs- und Bremssysteme. Daher sind die physischen Anforderungen nicht im Ansatz auf dem Niveau der Vergangenheit."

Ich erinnere mich an Fahrer, mit denen ich gearbeitet habe, die beim Einlenken in eine schnelle Kurve das Lenkrad mit ihrem Bein einklemmen musste, weil sie in den Armen nicht die Kraft dazu hatten. Daher muss man sagen, dass sich die Zeiten geändert haben."

Andy Geering (Twitter): "Wie kann man dafür sorgen, dass die Fans wieder näher an die Fahrer rankommen? Zugang zur Boxengasse? Treffen mit den Fahrern? Kann die Formel 1 von der NASCAR-Serie lernen?"
Anderson: "In der Vergangenheit hat Bernie versucht, die Formel 1 exklusiv zu machen, wodurch er von den TV-Anstalten mehr verlangen konnte. Wenn man den Grand Prix von Großbritannien als Beispiel heranzieht und sich die Zahlen ansieht, dann kommen 100.000 Menschen am Renntag an die Strecke, während rund sechs Millionen alleine in Großbritannien vor dem Fernseher zuschauen - ganz abgesehen vom Rest der Welt. Über das Fernsehen erreicht man also die Massen, und das rechtfertigt diese Exklusivität, die Bernie erschuf, das bedeutet aber auch, dass man es sich zuhause anschaut."

"Die Zeiten haben sich dramatisch geändert, und die Formel 1 muss sich jetzt an die mobile Welt anpassen, die zunehmend im Zentrum des Lebens vieler Menschen steht. Außerdem muss den Teams bewusst werden, dass sie bei einem Grand Prix für die Show zuständig sind. Die Leute, die viel Geld bezahlt haben, um wirklich zu einem Rennen zu fahren, benötigen mehr Zugang zu den Fahrern und zu anderen Führungsleuten der Teams."

"Auch deine Vorschläge, einen Boxengasse-Spaziergang und organisierte Startreffs mit Fahrern und Führungsleuten der Teams anzubieten, wären schon mal ein guter Anfang."

Sara Curtis (E-Mail): "Mercedes hatte diese Saison jede Menge Zuverlässigkeitsprobleme. Warum ist es so schwierig, dass die Autos ins Ziel kommen, zumal Serienautos heute sehr zuverlässig sind?"
Anderson: "Sarah, in Anbetracht der Zeit, die den Motorenherstellern und den Teams zur Verfügung gestanden hat, um das neue Antriebseinheits-Paket für 2014 in den Griff zu bekommen, ist die Zuverlässigkeit sehr beeindruckend. Der Design- und Bauprozess eines normalen Serienautos beträgt rund fünf Jahre, ehe das erste vom Fließband rollt. Bei einem Formel-1-Auto dauert es nur rund sechs Monate. Es ist nicht lange her, dass die Anzahl der Autos, die bei Formel-1-Rennen ins Ziel gekommen sind, einstellig war, also hat sich in Wahrheit viel getan."

Lewis Hamilton

Die Zuverlässigkeit ist die Achillesferse des dominanten Mercedes-Teams Zoom

"Gleichzeitig stimme ich dir aber zu, dass Mercedes herausfinden muss, warum sie mehr Defekte erleiden als die anderen Top-Teams. Wenn sie das nicht tun, dann werfen sie vielleicht einen Titel weg, den sie sonst an diesem Wochenende in Japan gewinnen sollen."

@Gear_HeadBrazil (Twitter): "Was waren die Herausforderungen, als die Rillenreifen eingeführt wurden? Wie hat sich das auf die Aufhängung ausgewirkt, da weniger mechanischer Grip zur Verfügung stand?"
Anderson: "Im Grunde waren die Rillenreifen ein Weg, um dafür zu sorgen, dass weniger Gummi mit dem Boden in Berührung kam, ohne mit schmäleren Reifen und Rädern zu fahren, was noch dümmer ausgesehen hätte als die Rillenreifen. Das hatte nicht viel Einfluss auf die Aufhängung, dafür wurde der Sturz sehr wichtig. In Anbetracht dessen, dass die Reifen aus Ringen von Gummi bestanden, die durch die Rillen getrennt waren, arbeitete jeder Ring unabhängig wie ein eigener Reifen."

"Wenn also die seitlichen Kräfte bei einem Ring aus Gummi anstiegen, wurde diese Belastung nicht weitergegeben. Und wenn der Sturz nicht optimiert war, dann begann der Reifen zu walken, da die Belastung in jedem Ring anstieg. Wer jemals ein Motorrad auf der Straße gefahren hat, der weiß, was ich meine."

"Die Aerodynamik hat aber immer Priorität, die Verbindung der Räder mit dem Chassis wird also immer hintangestellt, wenn ein aerodynamischer Vorteil möglich ist."

@pcutts (Twitter): "Warum ist der Mercedes-Vorteil beim vergangenen Rennen in Singapur so sehr geschrumpft?"
Anderson: "Gute Frage. Ich war nicht in Singapur, also habe ich die Autos nicht im Detail gesehen. Da aber Singapur eine Strecke für viel Abtrieb ist, schätze ich, dass Mercedes nicht so viel Spielraum wie andere Teams hat, um den Abtrieb zu vergrößern. Wenn man sich Strecken anschaut, wo man hinten mit weniger Flügel fährt, um einen besseren Top-Speed zu erreichen, dann konnte Mercedes dank des Leistungsvorteils mit mehr Abtrieb als alle anderen fahren."

"Die maximale Größe des Heckflügels wird vom Reglement vorgegeben, also kann Mercedes auf winkeligen Kursen nicht mit so viel mehr Flügel fahren, als das bei anderen Teams der Fall ist."

Mitch Connor (Facebook): "Hi Gary, ich habe vergangene Woche gesehen, dass sich Johnny Herberts Stewart-Sieg zum 15. Mal jährt. Wie hast du das Wochenende erlebt? Ich habe die Saison 1999 genossen, als es Jordan und Stewart mit den Großen aufnahmen."
Anderson: "Mitch, das Wochenende hat Spaß gemacht, und ich habe es auch genossen, aber das gilt eigentlich für die ganze Saison. Beim Auto handelte es sich um ein kleines, aber feines Paket, und obwohl Alan Jenkins schon weg war, als es eingesetzt wurde, hat er als Technikchef sehr gute Arbeit geleistet, als er das Chassis des SF3 an den neuen, sehr leichten, aber etwas fragilen Cosworth-Motor anpasste."

Jackie Stewart, Johnny Herbert

Legendär: Herbert siegte 1999 auf dem Nürburgring für Andersons Stewart-Team Zoom

"Es war wirklich ein Vergnügen, für jemanden wie Jackie Stewart zu arbeiten, der drei Formel-1-WM-Titel gewonnen hat und ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann ist. Er kannte und verstand die motorsportliche Seite, und er stärkte einem den Rücken, zudem war (und ist) er sehr gut, wenn es um den Sponsoring-Bereich geht."

"Johnny und Rubens Barrichello waren sehr konkurrenzfähige Fahrer, und nach der Stewart-Saison 1998 waren sie die perfekten Fahrer für Teams, die sich weiterentwickeln und - wie du sagst - den Großen einheizen wollten, wenn sich die Gelegenheit ergab."