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Enzinger exklusiv (3/6): "Dann hätte es mich nicht mehr gegeben!"

Fritz Enzinger verrät, wie Nico Hülkenberg Porsche den Comeback-Sieg in Le Mans bescherte und warum es beinahe gar nicht dazu gekommen wäre

(Motorsport-Total.com) - Die meisten von uns haben das Ende 2017 zu Ende gegangene Porsche-Programm in der LMP1-Klasse der Langstrecken-WM (WEC) ausschließlich als Erfolgsgeschichte im Kopf. Doch auf dem Weg zum ersten Sieg bei den 24 Stunden von Le Mans 2015 gab es für den Leiter des Programms, Fritz Enzinger, und sein Team zum Teil allergrößte Herausforderungen zu überwinden.

Titel-Bild zur News: Fritz Enzinger

Fritz Enzinger hat für diese Interview-Serie stundenlang mit uns gesprochen Zoom

Im dritten Teil unserer großen Interview-Serie erinnert sich Enzinger an einen Abend im Dezember 2013 in Portimao, bei dem sein großer Traum vom Le-Mans-Sieg mit Porsche am seidenen Faden hing. Wäre jener Abend anders verlaufen, wäre die Motorsportgeschichte der vergangenen Jahre vermutlich komplett anders geschrieben worden.

Und der Österreicher verrät auch, dass er einen großen Traum hatte: mit einem Fahrzeug aus Formel-1-Stars in Le Mans an den Start zu gehen. Enzinger bestätigt, dass er darüber nicht nur mit Nico Hülkenberg gesprochen hat, sondern auch mit Juan Pablo Montoya und Fernando Alonso ...

Frage: "Herr Enzinger, Sie haben im Jahr 2011 die Leitung LMP1 bei Porsche Motorsport übernommen. Wie kam es dazu?"
Fritz Enzinger: "Ich hatte ein Gespräch mit Matthias Müller, der damals Chef von Porsche war, und Wolfgang Hatz als Porsche-Entwicklungsvorstand, ob ich nicht die Leitung des LMP-Programms übernehmen möchte. Unser erstes Treffen fand beim 24-Stunden-Rennen am Nürburgring statt. Da haben sie mir das Angebot unterbreitet, das LMP-Team als eigenen Bereich aufzubauen."

Frage: "Das war dann ein komplett eigenes Team, das mit dem 'alten' Porsche Motorsport nichts zu tun hatte."
Enzinger: "Es war wie Porsche Motorsport A und B. Zum einen die etablierte GT-Mannschaft unter damals Hartmut Kristen, zum anderen das neue LMP-Team mit letztlich 190 Ingenieuren und insgesamt 260 Mitarbeitern. Ich habe genauso an den Entwicklungsvorstand berichtet wie parallel Hartmut Kristen. Es waren zwei eigenständige Bereiche mit unterschiedlichen Aufträgen."

Le-Mans-Programm von null aufgebaut

Frage: "Sind Sie in einem Konzern wie Porsche/Volkswagen beim Aufbau dieses neuen Teams auch auf Widerstände gestoßen?"
Enzinger: "Ich hatte alle Freiheiten, die man sich wünschen kann. Ich durfte meinen Traum leben. Klar musste ich kämpfen. Aber ich habe letztendlich alles bekommen, was wichtig und richtig für den Erfolg des LMP-Programms war. Sei es Budget, sei es Infrastruktur."

"Man muss sich einmal vorstellen: Du legst los, aber es gibt noch keine Gebäude, kein Personal und kein Reglement! Es gab nie diesen einen ersten Schritt, sondern es lief alles parallel. Es entstand ein neues Bürogebäude, es wurden Werkstattbereiche gebaut, Hochvoltlabors, ein Simulator angeschafft, Trucks und vieles mehr. Alles erst ab Ende 2011, alles parallel."

"Ich habe im November 2011 angefangen und das Reglement wurde im Juni 2012 präsentiert. Bis dahin war es wie eine Vorkonzeptphase, mit fünf oder zehn Leuten. Dann 20, dann 30, und so weiter. Das war natürlich intensiv. Es gab permanent Vorstellungsgespräche, gleichzeitig wuchs die Infrastruktur."

"Parallel fanden auch die Gespräche ums Reglement statt. Im Laufe der Zeit hat man begriffen, wie komplex das ist. Da entsteht ein Auto, das komplexer ist als ein Formel-1-Rennwagen. Weil es ein KERS hat, weil der Motor kompliziert ist, weil wir Abgasenergierückgewinnung integrieren wollten und weil es aerodynamisch extrem anspruchsvoll ist."

"Das Reglement war revolutionär." Fritz Enzinger

"Das Reglement war revolutionär. Es sah zum ersten Mal überhaupt vor, dass du mit einer definierten Energiemenge so schnell und effizient wie möglich sein musstest. Dafür ließ es konzeptionell gewaltige Freiheiten."

"Das war eine Philosophie, die es erlaubte, dass unterschiedliche Motorenkonzepte auf Augenhöhe gegeneinander fuhren: Audi mit dem Diesel, Toyota mit dem Sechszylinder, wir mit einem Vierzylinder. Um das alles unter einen Hut zu bringen, sodass jeder Siegchancen hat, war die Equivalence of Technology notwendig, also eine Einstufung. Das war in höchstem Maße komplex."

"Die Zeit bis zu unseren ersten Einsätzen 2014 war ungeheuer intensiv. Im Juni 2013 hatten wir schon unseren Roll-out. Ich hatte kaum Zeit für die neuen Mitarbeiter. Die kamen aus 21 Nationen. Weil alles von null auf entstand, war ich bei der Personalsuche in der glücklichen Lage, die Aufgabe für einen Mitarbeiter zuerst zu beschreiben, um dann den Besten suchen zu können. Traumhafte Voraussetzungen. Aber das ist natürlich zeitintensiv."

Frage: "Stimmt es, dass Sie bei allen Bewerbungsgesprächen selbst dabei waren?"
Enzinger: "Nein, definitiv nicht. Ich war für das Gesamthafte verantwortlich. Parallel dazu baute Alex Hitzinger den Technikbereich auf. Ein Jahr später kam dann Andreas Seidl. Er war verantwortlich für die Gründung des Einsatzteams."

"Die Entscheidung für ein eigenes Einsatzteam stand zwar nicht von Anfang an fest, wurde aber rasch getroffen. Wir wollten den Einsatz nicht an ein bestehendes Team delegieren, sondern wählten den bedeutend schwierigeren Weg, in Weissach eine eigene Werksmannschaft aufzubauen."

Warum Werksteam statt privates Einsatzteam?

Frage: "Da geht's, nehme ich an, um Themen wie Überstunden und freie Wochenenden, die in einem Rennteam flexibler gehandhabt werden müssen als in einem normalen Betrieb?"
Enzinger: "Unter anderem deshalb wird das Thema von Herstellern oft ausgelagert. Aber wir hatten zum einen eine besondere Situation und zum anderen großen Rückhalt im Unternehmen."

"Es gab ohnehin kein vakantes Team, das mit der Komplexität von Fahrzeug und Projekt zurechtgekommen wäre. Selbst ein Formel-1-Team hätte angesichts der neuen Technologien großen Support vom Werk gebraucht. Jede Schnittstelle hätte Reibungs- und Zeitverlust bedeutet."

"Außerdem besaßen die Hybrid-Entwicklungen höchste Serienrelevanz - also hatte Porsche ein vitales Interesse, das neu erworbene Know-how im eigenen Forschungs- und Entwicklungszentrum Weissach zu horten. Nach drei Besprechungen im Vorstand waren wir uns darüber einig."

"Das ganze Unternehmen war begeistert von diesem Projekt." Fritz Enzinger

Frage: "Hat das in der Praxis für Probleme gesorgt?"
Enzinger: "Nein. Die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Stellen bei Porsche verlief sehr kooperativ. Das ganze Unternehmen war ja auch begeistert von diesem Projekt. Der gesamte Vorstand stand dahinter, der Betriebsrat ebenso. Und die Aussicht, in Le Mans wieder um einen Gesamtsieg zu kämpfen, bewegte praktisch jede Abteilung."

"Euphorie und Erwartungshaltung wurden vor allem innerhalb von Porsche sehr groß. Mir wurde erst im Nachhinein richtig bewusst, wie massiv der Druck war, gleich zu gewinnen - obwohl das gar nicht realistisch war."

"Der letzte Le-Mans-Gesamtsieg war 1998 gelungen. Als ich zu Porsche kam, haben sie mir alle Plakate von den bisherigen 16 Gesamtsiegen aufgehängt. Auf dem Weg hoch zu meinem Büro bin ich jeden Tag ein paar Mal an den Plakaten vorbeigegangen. Ganz unten im Treppenhaus hing ein gerahmtes weißes Plakat."

"Und es gab einen provozierenden Slogan vom Marketing: 'Mit 16 hat man noch Träume!' Der Druck war wirklich enorm. Die Erwartungshaltung basierte einfach darauf, dass niemand so oft in Le Mans gewonnen hatte wie Porsche. Dass der letzte Erfolg anderthalb Jahrzehnte zurücklag, wurde ausgeblendet."

"Und natürlich wussten andere Abteilungen auch gar nicht, wie komplex das Unterfangen war und welche Probleme wir hatten. Insofern war die Erwartungshaltung nicht gerechtfertigt, aber wir mussten damit leben."

2014 in Le Mans: Eine Hand schon am Pokal!

Frage: "Wir machen einen Sprung nach Le Mans 2014. Zwei Stunden vor Schluss liegt Porsche tatsächlich in Führung. Ein irrer Moment, denn damit hatte niemand gerechnet."
Enzinger: "Le Mans 2014 kam für uns eindeutig zu früh. Wir waren bei weitem noch nicht aussortiert, die ersten holprigen Meter des Roll-outs mit unserem 'Raumschiff' lagen noch nicht einmal ein Jahr zurück. Das sehe ich heute noch vor mir, als wäre es gestern gewesen."

"Timo Bernhard saß damals auf unserem Prüfgelände im Auto. An jenem Tag hätte ich mir nie vorstellen können, dass dieses Team nur zwei Jahre später so dominant ist und in Le Mans den Gesamtsieg holt."

"Wir haben sehr viele Ingenieure gleichzeitig eingestellt, und es dauert eine Zeit, bis sich ein Ingenieur positioniert hat und sich zum Beispiel herauskristallisiert, wer der Sprecher einer Gruppe werden könnte. Manche möchten sich gar nicht für eine Führungsposition aufstellen, andere schon. Alle mussten erst einmal zueinanderfinden. Dafür fehlte uns Zeit."

"Zumal wir ständig neue und akute technische Probleme hatten. Der erste Motor erzeugte starke Vibrationen, wir mussten konstruktive Änderungen vornehmen und brauchten eine neue Kurbelwelle. So ein Teil hat aber lange Lieferzeiten. Deshalb waren unsere ersten Tests katastrophal - die Fahrer und alle anderen Teile am Auto wurden mächtig durchgeschüttelt. Immer wieder brach etwas."


Le Mans 2014: Highlights

"Auch die Hybrid-Abteilung und andere Gewerke kämpften mit Kinderkrankheiten. Im Dezember 2013 konnten wir in Portimao erstmals den neuen Motor einsetzen - er lief zum Glück vibrationsfrei. Erst ab dann konnten wir vernünftig testen."

"Hätte das Re-Design dieses Motors nicht funktioniert, hätten wir das erste Rennen im April 2014 gar nicht fahren können. Unsere Vorbereitungszeit auf Le Mans war also enorm kurz."

"Zum Vergleich: Vor unserem zweiten Le-Mans-Einsatz 2015 haben wir vier 30-Stunden-Tests absolviert und dabei viermal Le Mans simuliert - vom Startprozedere bis zur Zieldurchfahrt, mit der ganzen Mannschaft, mit Training und Boxenstopps. Eine echte Simulation eben, und das viermal. Der erste 30-Stunden-Test war im März 2015 in Aragon."

"Als wir ohne diese ganze Vorbereitung 2014 nach 22 Stunden in Führung lagen, konnte ich es gar nicht glauben. Es war ja leider auch nur kurz."

Frage: "War die Enttäuschung trotzdem groß?"
Enzinger: "Kurzfristig war schon der Gedanke aufgekommen: 'Um Himmels Willen, wir könnten auf Anhieb Le Mans gewinnen!' Die Enttäuschung war dann groß, ja. Für die Emotionalität einer solchen Situation spielt auch der Erschöpfungszustand eine große Rolle. Aber die Tage danach habe ich realisiert: 'Das geht gar nicht.' Es wäre nicht gerecht gewesen. Le Mans 2014 kam zu früh."

Frage: "Was hat die wichtigste Rolle für den LMP-Erfolg gespielt?"
Enzinger: "Wir haben den richtigen Spirit im Team geschaffen. Das hieß, den Leuten zu vertrauen, ihnen hohe Eigenständigkeit zu geben und die Bereitschaft von mehr als 200 Mitarbeitern zu erreichen, ihr Privatleben um die Tests und Rennen herum zu organisieren."

"Bei uns wäre nie einer gekommen und hätte gesagt: 'Ich kann nicht zu dem Test kommen, weil ich gerade in eine neue Wohnung ziehe.' Das ist einfach nicht passiert. Damit so ein Teamgeist entsteht, braucht es immer zur richtigen Zeit die richtigen Leute und die richtigen Voraussetzungen. Dann kann so etwas gelingen."

"Auch der Mitarbeiter im Lager hat jedes Teil gewissenhaft aus dem Regal genommen und auf die Palette für den Fahrzeugaufbau gelegt. Oder die Leute in der Kommunikation, die immer parat waren. Das Gesamte, das da entstanden ist, war unglaublich."

Enzinger betont: Porsche ließ ihm alle Freiheiten

Frage: "War das nur möglich, weil Sie freie Hand hatten und ohne Reinpfuschen eines Vorstands das Team genau nach Ihren Vorstellungen gestalten konnten?"
Enzinger: "Ich hatte wirklich große Freiheiten. Es ist ungewöhnlich, dass ein Vorstand so vertrauensvoll und stark hinter einem Projekt steht. Dafür bin ich sehr dankbar. Und auch froh, dieses Vertrauen nicht enttäuscht zu haben."

"Wir haben letztendlich beträchtlich mehr Personal und Geld benötigt als 2011 bei der Entscheidung zum Einstieg geplant war. Und zwar deshalb, weil es 2011 das Reglement noch nicht gab. Erst als es Monate später präsentiert wurde, ließ sich erkennen, wie anspruchsvoll diese Fahrzeuge wirklich werden."

"Es gab noch nie komplexere Rennautos als die Le-Mans-Prototypen der Klasse 1 in dieser Zeit. Das wird jeder bestätigen. Mehr Technik geht nicht. Das hat es so kostenintensiv gemacht. Und dann waren da ja drei Werke im Wettbewerb auf höchstem Niveau. Man musste jede Möglichkeit nutzen."


Porsche-Doku: Die Rückkehr nach Le Mans

"Außerdem war der Freiheitsgrad bei einem LMP1 deutlich höher als bei einem Formel-1-Auto. Ein Formel-1-Motor unterliegt deutlich mehr Restriktionen als ein damaliges LMP1-Triebwerk. Freiheit macht's innovativer, aber auch teuer. Je mehr Spielraum die Ingenieure haben, desto kostenintensiver wird es. Schließlich ist es ihr Job, ans Limit zu gehen."

"Es war eine enorme Herausforderung, dieses Programm aufzusetzen. Ich glaube, so eine Chance erhält man wirklich nur einmal im Leben. Und dann auch noch für die Ikone Porsche mit ihrem Marken-Spirit!"

Frage: "Da gibt es nur Porsche und Ferrari."
Enzinger: "Ja, das sehe ich so. Zu mir hat einmal jemand gesagt: 'Wenn du BMW steigern willst, muss es Porsche sein.' Mit Porsche im Motorsport erfolgreich zu sein, ist mit nichts vergleichbar. Es gibt weltweit hunderte Porsche-Clubs."

"Die ganze Kommunikation war darauf zugespitzt: 'Wir kommen wieder zurück, und im Juni ist es so weit!' Aus den Reaktionen hatte ich den Eindruck: Jeder Porsche-Fahrer ist vor dem Fernseher gesessen und wollte schauen, wie uns das Comeback gelingt."

Portimao 2013: Als alles auf der Kippe stand

Frage: "Gab es Momente des Zweifels, in denen Sie dachten, dass das mit dem Sieg in Le Mans nicht klappen wird?"
Enzinger: "Ich bin nicht der Typ für negative Gedanken. Ich halte mich lieber an Positivem fest. Es gibt da einen positiven Schlüsselmoment aus dem Dezember 2013, ich habe ihn vorher schon kurz erwähnt. Wir hatten also endlich den konstruktiv veränderten Motor, nachdem der erste so stark vibriert hatte."

"Das Teil mit der längsten Lieferzeit war die Kurbelwelle. Wir mussten 17 Wochen darauf warten. Nun war sie also da und der Motor am Prüfstand aufgebaut. Er funktionierte, aber die Vibrationen ließen sich noch nicht beurteilen. Wir bauten den Motor ins Auto ein."

"Erster Test, erste Dezember-Woche in Portimao. Freitagabend um 20:30 Uhr starteten wir den Motor zum ersten Mal im Auto. Ich wusste genau: Wenn er jetzt wieder vibriert, haben wir ein massives Problem. Mich würde man wohl in Rente schicken, und Porsche das das erste Rennen in Silverstone 2014 nicht mitfahren."

"70 Leute sind am Posten. Das Auto läuft. Dann geht der erste Mechaniker hin, legt seine Hand aufs Auto, schüttelt den Kopf und streckt den Daumen hoch. Dann geht jeder der 70 Leute hin und hält die Hand drauf. Auf einmal fangen alle an zu lachen! Die Vibrationen waren nicht weniger, sie waren weg! Ein unvergesslicher Moment."

Fritz Enzinger, Wolfgang Hatz, Matthias Müller, Roll-out Porsche 919 Hybrid

Fritz Enzinger, Wolfgang Hatz, Matthias Müller beim Roll-out des LMP1-Porsche Zoom

"Dieser Test war auch Mark Webbers erster Einsatz bei uns. Ich habe ihm immer wieder gesagt: 'Mark, das Auto fährt noch nicht einmal geradeaus, lass dir Zeit!' Aber er wollte frühzeitig dabei sein. Dann fuhr er das erste Mal und sagte: 'Fritz, das Auto geht wie der Teufel!' Wir hatten davor vieles von Alu auf Stahl verstärkt, damit bloß nichts passiert. Das konnten wir alles zurückbauen, und auf einmal hatten die Testfahrten eine ganz andere Qualität."

"Dieser Abend in Portimao ist für alle, die dabei waren, eine Story. Scheitern und Zukunft lagen so knapp beisammen. Ich weiß heute noch genau, wo wer in der Box gestanden und wer wie am Auto geholfen hat. Die Vibrationen waren weg. Wenn das nicht gutgegangen wäre, hätte es mich nicht mehr gegeben. Dann wäre alles anders gewesen."

Frage: "Haben Sie an dem Abend schon gespürt, dass Sie Le Mans früher oder später gewinnen werden?"
Enzinger: "Irgendwie schon. Wir waren uns einig: 'Jetzt kriegen wir das hin!' Obwohl der Weg noch so weit war."

"Es gab in dieser frühen Krise ja auch zwischenmenschliche Probleme in Form von Schuldzuweisungen. Schuld an den Vibrationen war zwar der Motor. Aber den Fahrwerksleuten flogen die Teile weg, und anderes ging auch kaputt. Was jetzt worauf zurückzuführen war, ließ sich manchmal nur schwer ermitteln."

"Meine größte Aufgabe war, die Mannschaft zusammenzuhalten und dafür zu sorgen, dass danach nie wieder einer mit dem Finger auf den anderen gezeigt hat. Das waren sehr charakterbildende Monate für uns."

"Mit dem vibrierenden und viel zu schweren Auto ans Limit zu gehen, war auch für die Fahrer nicht ohne. Sie meuterten mit Recht. Ich habe mir die Frage gestellt, wie weit das noch zumutbar ist. Es ist nie was passiert. Aber die Fahrer hatten kein gutes Gefühl."

"Ab diesem Test in Portimao hatten die Tests ein ganz neues Niveau, und wir konnten richtig mit dem Auto arbeiten."

Brasilien 2014: Ein entscheidender Meilenstein

Frage: "2015 haben Sie dann Le Mans gewonnen ..."
Enzinger: "Da muss ich kurz reingrätschen. Denn der erste Sieg im Finale der ersten WEC-Saison 2014 war einer der wertvollsten - und das unter dramatischen Umständen, weil Mark so schwer verunfallt ist."

"Kurze Rückblende: Wir hatten mit dem Vorstand besprochen, wie wir dieses Auto entwickeln, also nach welcher Philosophie. Gemeinsam wurde vereinbart, immer den aggressiven Weg zu gehen, wenn es um Konzeptentscheidungen geht."

"Dadurch würde es zwar länger dauern, bis wir standfest sind, aber uns war klar: Wenn das aggressiv entwickelte Auto durchhält, ist es siegfähig. Diese Philosophie hat sich in der ersten Saison niedergeschlagen. Wir wurden immer besser. Man hat gemerkt, wir sind sauschnell - aber das Auto war noch nicht standfest."

Nico Hülkenberg in Le Mans 2015

Porsche gewann Le Mans zwischen 2015 und 2017 dreimal hintereinander Zoom

"Im letzten Rennen 2014, als wir in Brasilien unseren ersten Sieg in der WEC errangen, bestätigte sich unser konzeptioneller Weg. Wir wussten, dass weiterhin noch viel Arbeit vor uns liegt, aber die Richtung stimmte. Die zweite Saison, in der wir dann sechs von acht Rennen gewonnen haben, lieferte den Beweis."

"Für uns alle war dieser Sieg beim Saisonfinale 2014 sehr wichtig. Das neue Auto für 2015 war zu diesem Zeitpunkt bereits mitten in der Entwicklung, beziehungsweise kurz vor Abschluss. Das letzte Rennen fand im November 2014 statt, der Roll-out des neuen 919 Hybrid folgte im Dezember. Das war eine sehr wegweisende Phase."

Frage: "Sie haben vorhin schon die eliminierten Vibrationen als großen technischen Durchbruch angesprochen. Gab es einen zweiten solchen Durchbruch oder waren es dann eher die Details, an denen man gearbeitet hat?"
Enzinger: "Das 2015er-Auto war der nächste Meilenstein. Daran war fast alles neu, lediglich das Grundkonzept blieb dasselbe. Im ersten Jahr waren wir noch viel zu schwer. Mit einem einteiligen Monocoque und vielen Detailmaßnahmen aus allen Abteilungen wurde das neue Auto leichter, aerodynamisch effizienter und deutlich besser fahrbar."

"Die Mannschaft hat in extrem hohem Tempo gelernt. Immerhin wurde die Basis für das neue Auto schon zuzeiten von Le Mans 2014 festgelegt. Das 2015er-Auto war einfach sensationell. In Le Mans waren wir die ganze Woche dominant, vom Freien Training bis zum Rennen. Das war für mich der verdienteste und schönste Le-Mans-Sieg, weil er so überzeugend war."

Warum ein drittes Auto eingesetzt wurde

Frage: "Hat 2015 mit Earl Bamber, Nico Hülkenberg und Nick Tandy das Auto gewonnen, mit dem Sie im Vorfeld am wenigsten gerechnet hatten?"
Enzinger: "Da muss ich ein bisschen ausholen, um zu erklären, warum diese Crew so stark war. Zunächst war die Vorstandsentscheidung richtig und wichtig, dass wir ein drittes Auto einsetzen konnten. Dafür brauchten wir natürlich das entsprechende Budget."

"So ein drittes Auto einzusetzen ergibt nur Sinn, wenn man das erste und zweite Auto dadurch nicht schwächt. Es wäre ganz falsch, dort Leute abzuziehen - sei es von den Ingenieuren, sei es von den Mechanikern. Man muss also eine komplett neue Crew aufbauen, und das sind gleich mal 20 Leute."

"Bei so etwas darf es keine Kompromisse geben, das muss ein drittes konkurrenzfähiges Rennauto sein. Die Genehmigung habe ich bekommen, und entsprechend haben wir auch die Fahrer ausgewählt."

"Nico war früh klar, Earl und Nick mussten sich in harten, aber fairen Tests durchsetzen. Das war ein absolut starkes Trio, allerdings mit weniger Erfahrung im 919 Hybrid. Aber die haben ihre Sache super gemacht!"

"Was mir auch noch einfällt, ist das Thema Trikolore 2015. Einer Marketingidee folgend, hatten wir drei Autos in unterschiedlichen Grundfarben. Ein Auto war rot, eins schwarz, eins weiß."

"Als ich das den Fahrern zum ersten Mal präsentierte, ging es sofort los: Der eine wollte das rote Auto, der andere das schwarze. Wir haben dann gesagt, die drei Neuen fahren das weiße Auto, und die anderen beiden losen wir aus. Das hat Spaß gemacht, die Stimmung war gut."

Podium in Le Mans 2015

Porsche-Sternstunde: Nico Hülkenberg und Co. siegen in Le Mans 2015 Zoom

"Dass das Auto mit den Le-Mans-Rookies gewann, war schon sensationell. Und man muss sagen: Weil da ein aktueller Formel-1-Fahrer drinsaß, war die Reichweite enorm. Ich war eine Woche später bei der Formel 1 am Red-Bull-Ring, und das Interesse war riesig. Ich hatte das Gefühl, jeder hatte dieses Le-Mans-Rennen gesehen."

Frage: "Gab es nach Le Mans 2015 einen besonders emotionalen Moment, der bei Ihnen hängen geblieben ist?"
Enzinger: "Als ich gegen Mitternacht im Hotel war, mein Hemd stank nach Champagner, habe ich den Weg bis zu diesem Sieg Revue passieren lassen. Wie ich ohne Familie nach Stuttgart ging, am Anfang in einem nervigen Appartement-Hotel wohnte, wo es immer nach Tütensuppe roch, wie wir alles aufgebaut haben und welch schwierige Zeiten wir hatten."

"Ich war an dem Abend in Le Mans zwar hundemüde, aber ich wollte nicht einschlafen. Das Gefühl: 'Wir haben es geschafft!', wollte ich einfach für mich genießen. Da ist so viel Druck abgefallen. Du weißt ja vorher nicht, ob du es jemals schaffen wirst, und du hast natürlich auch manchmal Selbstzweifel. Dieser Moment war eine große Bestätigung für uns alle - der Sieg war so dominant und souverän."

"Am nächsten Morgen wurde ich um 6:00 Uhr für die Fahrt zum Pariser Flughafen abgeholt. Da hatte ich bestimmt 200 SMS auf meinem Handy. Ich konnte nicht alle individuell beantworten, also habe ich jedem Gratulanten dasselbe geschickt: 'Guten Morgen! Aufgewacht, doch kein Traum.' Das sind emotionale Highlights, die mir noch so in Erinnerung sind, als wäre es gestern gewesen."

"In der Woche nach dem ersten Le-Mans-Sieg war ich in Zuffenhausen auf dem Weg zu einem Termin. Da kam ein Produktionsmitarbeiter aus dem Werk auf offener Straße auf mich zu und sagte: 'Herr Enzinger, ich muss sie drücken. Dieses Le Mans war wieder wie früher. Die ganze Familie saß vor dem Fernseher, die Kinder wollten nicht schlafen gehen - und wir haben gewonnen!'"

"Das war für mich der Moment, in dem die Tragweite dieses Sieges für das Unternehmen bei mir so richtig ankam. Ich kannte den Mann nicht. Das sind persönliche Highlights, das war ein tolles Gefühl. Egal, wo du hingekommen bist, es konnte dir jeder eine Geschichte erzählen, wie er das Rennen erlebt hat."

Lotterer in Spa: Aha-Erlebnis im VW-Konzern

Frage: "Stimmt es eigentlich, dass man im Volkswagen-Konzern zum ersten Mal richtig begriffen hat, wie groß die Strahlkraft einer Verbindung zur Formel 1 sein kann, als Andre Lotterer, damals ja Audi-Werksfahrer, seinen Gastauftritt bei Caterham in Spa hatte?"
Enzinger: "Das weiß ich nicht. Uns jedenfalls wurde diese Strahlkraft erst nach dem Sieg mit Nico Hülkenberg richtig bewusst. Das Interesse prominenter Fahrer an einem Le-Mans-Sitz bei uns war enorm. Das hat uns bei Porsche, dem jüngsten Team, sehr geschmeichelt."

"Wir konnten uns die Fahrer aussuchen und waren mit mehreren in Kontakt. Es gab Gespräche mit Juan Pablo Montoya, die waren relativ fortgeschritten. Er war heiß drauf, weil er Indy schon gewonnen hatte und Monaco auch. Nur Le Mans fehlte ihm zum berühmten Triple."

"Montoyas Le-Mans-Einsatz hat sich zerschlagen, weil er keine Freigabe erhielt. Aber er hat mit uns Ende 2015 in Bahrain getestet und fand das Auto geradezu schockierend gut. Diese begeisterten Aussagen hatten auch große Strahlkraft."

"Es war ein großer Wunsch, das Le-Mans-Wochenende immer Formel-1-frei zu halten. 2016 war es aber leider wieder so, dass am gleichen Wochenende ein Grand Prix stattfand. Schade. Es gibt ja eine tolle Tradition, dass Formel-1-Fahrer auch in Le Mans starteten."

Fritz Enzinger und Juan Pablo Montoya

Gute Freunde aus alten BMW-Zeiten: Fritz Enzinger und Juan Pablo Montoya Zoom

Frage: "2017 haben wir beide über Ihren Traum von einem Le-Mans-Auto mit Fernando Alonso, Juan Pablo Montoya und Nico Hülkenberg gesprochen. War das nur ein Traum oder ging das hinter den Kulissen weiter?"
Enzinger: "Ich habe so eine Besetzung wirklich sehr gewollt! Es war auch realistisch. Es gab Gespräche mit Alonso und Montoya, und Hülkenberg war ja schon für uns gefahren. Das hätte Charme gehabt."

Frage: "Das war ein Plan für 2018, wenn das WEC-Programm fortgesetzt worden wäre?"
Enzinger: "Die Voraussetzung wäre sicher gewesen, dass Le Mans Formel-1-frei ist, um Hülkenberg und Alonso die Exkursion überhaupt zu ermöglichen."

"Montoya war zu dem Zeitpunkt in den USA und sehr interessiert - er hatte ja mächtig Spaß gehabt, als er das Auto 2015 beim Testtag in Bahrain fuhr. Für mich besaß dieses Trio große Attraktivität. Einen Porsche 919 Hybrid mit drei Formel-1-Fahrern in Le Mans an den Start zu schicken, das wäre ein Ausrufungszeichen gewesen."

Frage: "Porsche hat auch 2016 und 2017 Le Mans gewonnen."
Enzinger: "2016 und 2017 waren wir nicht dominant, aber wir haben alles richtig gemacht. 2016 war besonders dramatisch, als Romain Dumas, Marc Lieb und Neel Jani bis zum Schluss mit einem Toyota kämpften und der dann vier Minuten vor Schluss ausfiel."

"2017 mussten wir schon am frühen Abend am Auto von Earl Bamber, Brendon Hartley und Timo Bernhard 65 Minuten lang reparieren - niemand hätte mehr auf diese Crew gewettet. Aber weil andere ausfielen und die drei eine gigantische Aufholjagd hingelegt haben, gewannen sie das Rennen doch noch. Verrückt!"

"Für mich war auch immer klar: In Le Mans brauchst du das Rennglück auf deiner Seite. 60 Autos mit diesem Speed, das pausenlose Überholen, die ganzen Teile, die immer wieder auf der Strecke liegen ... Da überhaupt ins Ziel zu kommen, erfordert schon viel Glück. Aber um zu gewinnen, reicht Glück nicht. Dafür muss auch die Performance 24 Stunden lang top sein. Unsere Siege 2016 und 2017 waren schon auch sehr verdient."

"Wir haben Le Mans dreimal hintereinander gewonnen. Nach dem dritten Mal in Folge darf man diesen Monster-Pokal behalten. Jetzt steht er im Porsche-Museum neben den Siegerautos. Das ist ein Statement für die Ewigkeit. Das Ding kann uns niemand mehr nehmen und das bedeutet mir viel."

Fritz Enzinger: Was man über ihn wissen muss

Zur Person: Ende 2011 begann Fritz Enzinger, geboren am 15. September 1956 in Oberwölz, Österreich, Porsches Rückkehr in den Spitzenmotorsport zu formen. Neue Gebäude, neues Personal, neues Fahrzeug. Vier Jahre später erlebt er die ganz großen Erfolge: Den 17. Gesamtsieg für Porsche in Le Mans, den Gewinn von Hersteller- und Fahrertitel in der WEC. Und 2016 gelingt es unter seiner Ägide, den Triumph auf ganzer Linie zu duplizieren.

Der Erfolg kam schneller als erwartet und fußt auf Enzingers großer Erfahrung: 30 Jahre lang war er zuvor in BMW-Diensten - im Bereich Unternehmensstrategie, Sponsoring, Personalstruktur, Teammanagement und Fahrerverpflichtung. Bei Tourenwagensiegen, beim Gesamtsieg in Le Mans 1999 und bei Formel-1-Erfolgen war er in verantwortlichen Positionen. Und dabei stets ein Mensch, der sich im Hintergrund hielt.

Fritz Enzinger

Fritz Enzinger, Jahrgang 1956, ist in Oberwölz in der Steiermark aufgewachsen Zoom

So ist er geblieben. Die Bürotür des Maschinenbau-Ingenieurs steht seinen Mitarbeitern offen, in Bluejeans und Hemd fühlt er sich wohler als mit Schlips und Kragen. Es war nicht die prestigeträchtige Bühne, die ihn zu Porsche zog. Ihn hat die ungeheure Chance gereizt, ein so großes Projekt von Grund auf gestalten zu können.

Seit 31. Januar ist Enzinger Leiter Konzern-Motorsport bei Volkswagen. Parallel dazu erfüllt er interimistisch weiterhin die Aufgaben des Porsche-Motorsportchefs. Diese Aufgaben wird er aber voraussichtlich Ende 2019 zurücklegen und sich voll und ganz auf seine Konzernrolle konzentrieren.

An den freien Wochenenden pendelt er zur Familie nach München. Islandpferde sind sein Hobby zur Entschleunigung, er teilt es mit seiner Frau und seiner Tochter.

Enzinger exklusiv: Das Inhaltsverzeichnis
Teil 1: Wie Porsche Motorsport neu aufgestellt wird
Teil 2: Porsche und die Formel 1
Teil 3: "Dann hätte es mich nicht mehr gegeben!"
Teil 4: Wie Porsche die Formel E gewinnen will
Teil 5: Die Motorsport-Synergien im VW-Konzern
Teil 6: "Lieber Fritz, ich bin der Wolfgang!"