• 27.09.2010 10:16

  • von Dieter Rencken

Whitmarsh: "Was Lewis gemacht hat, war okay"

McLaren-Teamchef Martin Whitmarsh nimmt Lewis Hamilton nach der Kollision in Singapur in Schutz und gibt sich im WM-Kampf nicht geschlagen

(Motorsport-Total.com) - Es war die Kollision des Rennens - und wieder war Lewis Hamilton verwickelt: Beim Restart nach der Safety-Car-Phase suchte der Vorjahressieger gestern in Singapur auf frischen Reifen seine Chance, an Mark Webber vorbeizugehen, doch das endete für ihn mit dem zweiten Ausfall hintereinander. Jenson Button beendete das Nachtrennen als Vierter. Für McLarens Chancen auf die beiden WM-Titel war Singapur daher ein Rückschlag, aber Teamchef Martin Whitmarsh lässt den Kopf dennoch nicht hängen und glaubt an die Chance, die letzten vier Rennen zu gewinnen.

Titel-Bild zur News: Martin Whitmarsh

Martin Whitmarsh sieht die Schuld nicht ausschließlich bei Lewis Hamilton

Frage: "Martin, sprechen wir über den Zwischenfall um Lewis und Mark Webber. Wie siehst du diese Situation?"
Martin Whitmarsh: "Ich denke, Lewis hatte in dieser Situation sehr viel Pech. Man kann natürlich jetzt daherkommen und sagen, wir hatten nun zweimal hintereinander einen Zwischenfall. Wenn man sich die Ereignisse vom Sonntag aber vor Augen führt, so hat Lewis meiner Meinung nach kein spätes Manöver gezeigt. In Monza ist er ein bisschen zu optimistisch zu Werke gegangen. Im Hinblick auf die Situation aus Singapur befand sich Lewis in Monza genau in der umgekehrten Position."#w1#

"Er war vorbei und hatte in dieser Kurve die Nase vorne. Er ließ etwas Raum, wurde aber getroffen. Mark hatte das Glück davonzukommen. Über die Schuldfrage könnte man sich gewiss ereifern. Mark fährt halt ebenfalls ein Rennen. Aus meiner Sicht ist wichtig: Lewis hat kein verzweifeltes Manöver gestartet. Das war ein ordentlicher Versuch, wie man in jeder Form von Motorsport überholt, bei dem man ein gewisses Risiko eingeht. Er hatte dieses Mal halt das Pech, dass es für ihn nicht gut ausgegangen ist."

Kein Vorwurf an Webber

Frage: "Du siehst die Schuld also eher bei Mark?"
Whitmarsh: "Das sage ich nicht. Ich glaube: Was Lewis gemacht hat, war okay. Ich bin nicht hier, um Webber zu beschuldigen. Er hatte das Glück, den Zwischenfall zu überstehen. Wie ich schon sagte: Wenn man sich die Szene im Hinblick auf den Zwischenfall von Monza anschaut, hatte Lewis nun exakt die umgekehrte Rolle inne. Beim letzten Mal haben wir Lewis die Schuld zugesprochen, aber dieses Mal wäre das in meinen Augen nicht richtig."

"Beide sind sie Rennfahrer. Wir wären wohl zurecht von ihm enttäuscht, wenn er zu spät bremsen und ein überoptimistisches Manöver zeigen würde. Tatsache ist: Er war vorbei und lag vorne. Als er in diese Kurve einbog, hatte er das Recht, seine Linie zu wählen. Das Auto dahinter muss einfach akzeptieren, was vor sich geht. Er hatte etwas Spielraum, nützte diesen aber nicht aus und so kam es zu diesem Unfall. Mark als Schuldigen hinzustellen, bringt keinen Nutzen mit sich. Hat Lewis bei seinem Handeln einen Fehler gemacht? Nein, das hat er meiner Meinung nach nicht."

Frage: "Hat sich Mark zu aggressiv verhalten?"
Whitmarsh: "Ich will hier keinen Kreuzzug veranstalten. Mark muss ja schließlich auch sein Rennen fahren. Wie ich schon sagte: Lewis kam vor ihm an dieser Kurve an und ließ ihm ausreichend viel Platz - nicht genug, wie sich herausstellte."

Frage: "Nach dem Rennen in Monza musstest du Lewis aus seinem Zimmer holen und ihn aufmuntern. War das auch dieses Mal wieder vonnöten?"
Whitmarsh: "Spricht man mit Lewis, so erkennt man natürlich seine Enttäuschung. Er ist eine sehr leidenschaftliche Person. Ich sagte ihm: 'Die Leute werden dir Verschiedenes an den Kopf werfen. So ist das Leben aber nun einmal. Wenn man sich die Fakten anschaut, hast du kein riskantes Überholmanöver vorgetragen und auch keine Fehler gemacht. Du hattest Pech und das gehört zum Motorsport dazu. Jetzt gilt es, sich auf die restlichen Rennen zu konzentrieren.'"

"Das ist ihm bewusst, doch das mindert seine Enttäuschung freilich nicht. Er hätte auf dem Podium stehen sollen und müsste an seine Titelchance glauben. So ist es aktuell aber nicht. Zwei solcher Rennen tun logischerweise ein bisschen weh. Er ist aber ein harter Bursche und wird zurückschlagen. In Suzuka wird er stark sein."

Frage: "Wie groß ist der Schaden am Lenkrad von Lewis?"
Whitmarsh: "Ich bin mir sicher, dass es ziemlich beschädigt ist (lacht; Anm. d. Red.). Das wird sich zeigen."


Fotos: McLaren, Großer Preis von Singapur, Sonntag


Frage: "Was genau war am Auto von Lewis kaputt, nachdem er von Mark getroffen worden war?"
Whitmarsh: "Ich habe das Fahrzeug selbst noch nicht in Augenschein genommen. Ich könnte mir denken, dass die Antriebswelle hinüber war."

Frage: "Wart ihr überrascht davon, dass ihr in Singapur nicht mithalten konntet?"
Whitmarsh: "Ich denke, der Unterschied bei der Geschwindigkeit ist im Schonen der Reifen zu suchen. Vettel und Alonso konnten sich um ihre Pneus kümmern und waren klarerweise flott unterwegs - besser als Mark und besser als unsere beiden Autos. Uns war klar: Hier in Singapur kann man seine Reifen sehr leicht überhitzen. Hast du eine gute Balance, kannst du deine Reifen besser schonen."

Alle fünf Fahrer mit guten WM-Chancen

Frage: "Lewis liegt nun 20 Punkte zurück, bei Jenson beträgt der Rückstand jetzt 25 Punkte. Ihr seid aber noch immer vollkommen im Titelrennen..."
Whitmarsh: "Ja. Noch stehen vier Rennen aus und 100 Punkte sind zu vergeben. Die ersten fünf Fahrer liegen allesamt innerhalb von 25 Punkten und haben daher durch die Bank gute Chancen. Es ist natürlich unausweichlich so, dass wir diesen Rennplatz enttäuscht und angeschlagen verlassen."

"Wir müssen uns neu finden. Singapur war ein schwieriger Kurs für uns, doch das war uns schon vorher bewusst. Im Verlauf des Wochenendes gab es für uns die eine oder andere Enttäuschung. Ich denke aber, wir waren durchaus bei der Musik dabei. Warten wir einmal ab, was passiert, wenn wir nach Japan kommen."

Frage: "Unterm Strich hat Lewis in Singapur eine weitere gute Gelegenheit ausgelassen..."
Whitmarsh: "Eigentlich sollte Lewis die WM-Führung innehaben, doch so ist es nicht. Wir und er sind daher naturgemäß enttäuscht. Sein Rückstand ist aber nicht größer, als ein Sieg wert ist. Vier Rennen stehen noch aus, 100 Punkte sind zu holen. Ziel ist, sämtliche der restlichen Grands Prix zu gewinnen."

Frage: "Bernie Ecclestone hat am Sonntag von Singapur erstmals Bedenken im Hinblick auf Südkorea geäußert. Diese Sache hätte gewiss einen großen Einfluss auf den Titelkampf..."
Whitmarsh: "Allerdings. Wir wollen schließlich vier Rennen und die Chance auf 100 Punkte haben. Nach all dem, was wir hören, gibt es im Hinblick auf dieses Rennen einige Bedenken. Uns wurde aber auch mitgeteilt, dass die Koreaner gemeinsam mit Bernie daran arbeiten. Im Augenblick konzentrieren wir uns dagegen darauf, nach Suzuka zu reisen und dort das Maximum an Punkten abzugreifen."

Lewis Hamilton vor Jenson Button

Lewis Hamilton hat in Monza und Singapur viele Punkte liegen gelassen Zoom

Frage: "Sprechen wir über das Auto: Ist der McLaren von den Top-3-Fahrzeugen aktuell die Nummer drei?"
Whitmarsh: "Am Rennsonntag von Singapur waren wir sicherlich langsamer als die Top 2. Wäre Lewis an Mark vorbeigekommen - er kam an ihm vorbei -, dann wäre er auf dem Podium gelandet. Er hatte die Geschwindigkeit von Mark, aber nicht das Tempo von Vettel oder Alonso."

"Nun stehen ganz andere Rennstrecken auf dem Programm. Wir werden damit fortfahren, unser Auto zu verbessern und mit Upgrades zu versehen. Das haben wir fest vor, zumal wir beim nächsten Rennen ein weiteres Update erhalten werden. Ich bin mir sicher, wir können die Entwicklung weiter vorantreiben."

Frage: "Was rechnet ihr euch für das Rennen in Japan aus?"
Whitmarsh: "Suzuka ist eine ganz andere Strecke als Singapur. Ich kann aber keine Vorhersage anstellen, weil ich nicht weiß, wie sich die Autos dort präsentieren werden. Wir haben einige interessante Entwicklungen am Laufen und wir werden sehen. Suzuka ist eine großartige Rennbahn und darauf freuen wir uns schon. Singapur ist abgehakt."

Frage: "Sind ein starker Fernando Alonso und ein starker Ferrari eine größere Bedrohung als Sebastian Vettel oder Mark Webber im Red Bull?"
Whitmarsh: "Nein. Ich sage es erneut: Ich denke, wir haben eine fantastische Meisterschaft. Es gibt fünf Fahrer, die in diesem Jahr dazu in der Lage sind, Rennen und Titel zu gewinnen. Ich werde diese Jungs nicht einschätzen. Wir konzentrieren uns auf unsere eigene Leistung. Wir machen unser Auto schneller und entwickeln unser Paket weiter. Wir wollen möglichst viel Druck machen und Fehler vermeiden. Wir möchten einfach bestmögliche Arbeit leisten."

Frage: "Red Bull scheint in Suzuka die besseren Karten zu haben. Dort hat das Team bereits im vergangenen Jahr dominiert. Könnt ihr sie dank eurer Neuerungen auf diesem Kurs gefährden?"
Whitmarsh: "Genau das wollen wir versuchen. Darauf haben wir es abgesehen. Schauen wir einmal, ob es uns gelingt."