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  • 18.06.2005 18:55

  • von Nimmervoll/Helgert

Wegen Sicherheitsbedenken: Affäre um Michelin-Reifen

Die Freien Trainings waren die reinste Farce, Michelin zittert um die Sicherheit der Reifen - Reaktionen und Analysen zur Reifensituation

(Motorsport-Total.com) - Kuriose Szenen prägten das dritte und zum Teil auch das vierte Freie Training in Indianapolis: Fast alle Michelin-Piloten mieden die schnellen Ovalpassagen wie die Pest, fuhren stattdessen beharrlich immer wieder durch die Boxengasse. Grund für diese Formel-1-Farce waren Reifenprobleme von Michelin - die Franzosen äußerten nach den Abflügen von Ricardo Zonta und Ralf Schumacher gestern Bedenken bezüglich der Sicherheit der Pneus.

Titel-Bild zur News: Michelin-Reifen

Die Michelin-Reifen stehen heute in Indianapolis unter keinem guten Stern...

Michelin veröffentlichte dazu vor Trainingsbeginn eine Pressemitteilung mit folgendem Wortlaut: "Nach den Vorfällen von gestern hat Michelin alle in den Sessions eingesetzten Reifen untersucht. Trotz aller Tests, die wir hier und in unseren Anlagen in Clermont-Ferrand durchgeführt haben, waren wir nicht in der Lage, das Problem von gestern zu verstehen oder zu reproduzieren. Wir haben diese Situation unseren Partnern und der FIA erklärt und eine Empfehlung für die Bedingungen in den Trainings, im Qualifying und im Rennen ausgesprochen. Diese Entscheidung wurde im Sinne der Sicherheit der Fahrer getroffen."#w1#

Freie Trainings verkamen wegen Michelin zur Farce

Konkret bedeutet dies, dass die Michelin-Teams in den beiden Sessions am Vormittag nur maximal zehn fliegende Runden mitsamt Oval absolvieren durften, während Michelin nur das Infield komplett freigab. Aufgrund der geringen Geschwindigkeiten hat der französische Reifenhersteller für die dortigen Passagen nämlich keinerlei Sicherheitsbedenken. Allerdings fiel auf, dass durch den hohen Reifendruck, den Michelin den Teams aufzwang, einige Fahrer massive Handlingprobleme hatten - am auffälligsten jene von Red-Bull-Cosworth.

Doch wie soll es nun weitergehen? "Wir arbeiten mit unseren Leuten in Clermont-Ferrand zusammen, um ein Produkt zu finden, welches den Anforderungen von Indianapolis entspricht", erklärte Nick Shorrock, der Formel-1-Verantwortliche der Franzosen. "Wir verhandeln mit der FIA über diese Möglichkeit und drängen darauf, diese Reifen nach Indianapolis zu bringen." Es sollen also neue - sicherere - Pneus eingeflogen werden, damit es im Rennen nicht zu einer lebensgefährlichen Ausfallsorgie kommen kann.

Bridgestone zeigt keine Kompromissbereitschaft

Nur: Will Michelin neue Reifen einsetzen, würde dies nicht dem Reglement entsprechen, weshalb Bridgestone und alle Bridgestone-Teams dazu ihren Sanktus geben müssten. Danach sieht es momentan aber nicht aus: "Es gibt noch keine offizielle Information der FIA. Das ist aber nicht unser Problem, sondern das Problem von Michelin", erklärte ein sichtlich verärgerter Hisao Suganuma, bei Bridgestone für alle technischen Belange verantwortlich, auf 'Premiere'-Anfrage.

Das Argument, durch Michelins konservative Sicherheitsempfehlungen an die Teams seien die Trainings für die Zuschauer zur Farce verkommen, wollte Michelin nicht gelten lassen: "Die Sicherheit hat immer oberste Priorität. Wir wollen erst verstehen, weshalb dieser Fehler aufgetreten ist, und bis das der Fall ist, müssen wir diese Sicherheitsvorkehrungen einhalten", so Shorrock. Und: "Wenn man sich in einem umkämpften Umfeld wie der Formel 1 befindet, können manchmal Probleme auftreten, mit denen man nicht rechnet. Wir haben die ganze Nacht Untersuchungen durchgeführt, hier vor Ort und in Frankreich, aber wir verstehen das Problem noch nicht."

Vollstes Verständnis für Michelins konservative Vorgaben hat Renault-Teamchef Flavio Briatore: "Es ist ein Problem, klar", sagte er. "Wir müssen akzeptieren, was Michelin entscheidet, denn es ist ihr Problem." Und: "Man darf die Fahrer keinen Risiken aussetzen. Wir wollen sichere Rennen, daher hören wir auf Michelin. Wir als Team haben aber kein Problem hier, und wir hatten auch keine Probleme mit den Reifen. Toyota schon. Ich will kein Risiko eingehen."

"Es geht um die Sicherheit der Fahrer"

"Wir sind auf Michelin angewiesen. Wenn sie sagen, wir brauchen neue Reifen, dann wird es so sein. Wir machen das, was sie uns sagen. Man muss in der Sache aber logisch bleiben, denn es geht um die Sicherheit der Fahrer. Was die Leute darüber denken, ist mir egal", fuhr er fort. McLaren-Mercedes-Teamchef Ron Dennis fügte an: "Man darf nicht zu hart mit Michelin umgehen. Die Reaktion von Michelin ist äußerst professionell, denn sie rücken die Sicherheit an vorderste Stelle. Möglicherweise ist es eine Überreaktion, aber man kann nie vorsichtig genug sein."

Auch Peter Sauber äußerte sich gegenüber 'Premiere' zur Situation: "Es ist nicht nur ein Problem, das Ralf Schumacher gestern hatte, sondern es ist auch bei anderen Fahrzeugen aufgetreten. Es wurden auch Schäden festgestellt, die noch nicht zum Ausbruch kamen. Ich gehe davon aus, dass man das Ganze analysiert und möglicherweise entsprechende Maßnahmen treffen kann", erklärte er während des dritten Freien Trainings.

"Die Michelin-Autos fahren mit den Reifen, die sie schon gestern benutzt haben, nur im Infield. Sie werden mit frischen Reifen auch einige Runden auf dem ganzen Kurs drehen, aber ich glaube, das sind nur zehn Runden - damit man diese Reifen als Ersatzreifen für morgen gebrauchen kann", fügte er an. "Das wird sich in jedem Fall negativ auswirken. Für alle, die Michelin fahren, ist es das Gleiche. Wir können daran nichts ändern und müssen damit leben. Es ist ganz enorm wichtig, dass wir auf den Reifendruck achten."

Steht gar eine Absage aus Sicherheitsgründen im Raum?

Doch was ist, wenn Michelin die Reifen nicht sicher genug für einen bedenkenlosen Einsatz im Rennen machen kann? Was ist, wenn sich Bridgestone gegen neue Michelin-Reifen in Indianapolis wehrt, was ein durchaus verständlicher Standpunkt wäre? Droht dann die Absage des morgigen Rennens? "Das ist ein Thema der FIA", winkte Mercedes-Sportchef Norbert Haug ab. "Wir müssen uns mit Michelin zusammensetzen, denn die Sache ist ein Michelin-Thema. Wir sind jetzt sehr konservativ gefahren und haben uns mit Michelin abgestimmt, was Einstellung, Sturz und so weiter betrifft. Jetzt wird man sehen, was weiter passiert."

Laut Ex-Formel-1-Weltmeister Jackie Stewart gibt es "nur zwei Teams, die nicht betroffen sind: Eines davon ist das BMW WilliamsF1 Team, das ohnehin mit einem höheren Luftdruck fährt. Das heißt, ein niedriger Reifendruck scheint irgendetwas noch zu erschweren, was ohnehin schon im Reifen verborgen ist. Man sollte einfach vorschreiben, den Druck anzuheben. Die Unfälle sind kurz nach Ausfahrt aus der Boxengasse passiert. Wenn man mit niedrigem Reifendruck fährt, dann zielt man darauf ab, dass sich der Druck nach Erwärmung normalisiert. Ich denke, jetzt wird vorgeschrieben, dass alle von vornherein mit höherem Reifendruck fahren müssen", gab er zu Protokoll.

Stewart: Neue Reifen "nicht notwendig"

"Die Ovalsektion wurde für die IndyCars so gestaltet, dass sie mehr Grip haben. Wenn man es sich genau anschaut, dann sieht man, dass die Oberfläche leicht geriffelt ist. Das könnte für die Formel-1-Autos ein Problem sein", fügte er an. Das Einfliegen neuer Reifen ist seiner Meinung nach "nicht notwendig. Es sollte reichen, den Reifendruck einfach zu erhöhen. Damit werden die Flanken der Reifen stabiler. Wenn Michelin mir sagen würde, dass eine Erhöhung des Drucks die nötige Sicherheit bringt, dann würde ich sie fahren lassen."

Doch wie sehen die Fahrer die Problematik? David Coulthard sprach davon, in der Ovalkurve "schon ein mulmiges Gefühl" zu haben, während sich Christian Klien auf die Seite von Michelin stellte und die Vorsicht im Freien Training verteidigte: "Es gibt von Michelin her doch einige Probleme mit den Reifen. Wir haben den Luftdruck ziemlich erhöhen, den Sturz verringern müssen - und wir haben auch ein Rundenlimit. Nach dem Training schauen wir noch einmal, wie die Reifen aussehen, aber es sieht nicht besonders gut aus", meinte der Österreicher.

"Auf dieser Gerade können sehr harte Unfälle passieren"

Und weiter: "Allzu viel zu riskieren ist auch nicht richtig, wie man gestern bei Ralf Schumacher gesehen hat. Auf dieser Gerade können sehr harte Unfälle passieren. Da sollte man vorher genau checken, wie der Reifenzustand ist. Dem stimme ich auch zu", erklärte er. Ähnlich äußerte sich "Schumi II", der die ganze Affäre mit seinem Crash ja erst ausgelöst hat: "Wenn es Sicherheitsbedenken gibt - und die sind gestern durch die ganzen Reifenschäden bestätigt worden -, dann ist so etwas nicht zu unterschätzen. Es ist auch richtig, dass einige Teams durch die Boxengasse fahren", so der Deutsche.

Hinter den Kulissen finden derzeit intensive Diskussionen zwischen Michelin, Bridgestone und der FIA statt, in denen es darum geht, ob im Rennen neue Reifen verwendet werden dürfen. Das Problem ist, dass Qualifying und Rennen mit einem Reifensatz bestritten werden müssen, doch binnen so kurzer Zeit neue Reifen einfliegen zu wollen, erscheint illusorisch. Davon abgesehen würde Bridgestone eine solche Begünstigung des Konkurrenten wohl kaum akzeptieren.