• 21.08.2002 12:39

  • von Marcus Kollmann

Vasselon: Ohne Computer läuft heute nichts mehr

Michelins F1-Programm-Manager über die Besonderheiten der Reifenentwicklung und die Arbeit an den Rennwochenenden

(Motorsport-Total.com) - Wenn die Formel-1-Teams an einem der insgesamt 17 Rennwochenenden in dieser Saison im Einsatz sind, dann gilt die Aufmerksamkeit der Ingenieure nicht nur der optimalen Abstimmung des Autos, sondern ganz besonders auch den Reifen. Während man mit Detailverbesserungen an einem Formel-1-Auto, wie zum Beispiel einer optimaleren Aerodynamik oder einem leistungsstärkeren Motor, nur wenig Zeit gewinnen kann, lassen sich über einen perfekt zu den Streckeneigenschaften passenden und bei den vorherrschenden Temperaturen gut unktionierenden Reifen einige Zehntel finden.

Titel-Bild zur News: Pascal Vasselon (Michelin F1-Programm-Manager)

Vasselon weiß, dass die Konstruktion von Reifen für die F1 sehr speziell ist

Seit Bridgestone durch Michelin wieder Konkurrenz in der Königsklasse bekommen hat, ist der zum "Reifenkrieg" hochstilisierte Wettkampf zwischen dem japanischen und dem französischen Hersteller in aller Munde. Wie die Zusammenarbeit zwischen Michelin und seinen Top-Teams vor und während eines Grand Prix abläuft und die Trends in der Entwicklung zu noch haltbareren und noch leistungsfähigeren Reifen äußerte sich Michelins F1-Programm-Manager, Pascal Vasselon, im Interview mit BMW-WilliamsF1.

Frage: "Wie verteilt das BMW-WilliamsF1 Team die zehn zur Verfügung stehenden Reifensätze auf den Einsatz an einem Rennwochenende?"
Pascal Vasselon: "Normalerweise benutzen wir drei Sätze am Freitag, was ganz einfach damit zusammenhängt, dass wir nach dem Freien Training wieder drei Sätze der FIA zurückgeben müssen. Anschließend hängt es von der vorgesehenen Rennstrategie ab. Meist benutzen wir zwischen einem und drei Reifensätzen am Samstagmorgen und normalerweise vier Sätze in der Qualifikation. Im Rennen hängt dann viel von der Strategie ab, weshalb wir entweder angefahrene Reifen oder die verbliebenen unbenutzten Reifensätze einsetzen."

Unterschiedlichem Fahrstil kann über verschiedene Dinge entgegengewirkt werden

Frage: "Gibt es für die Qualifikation ein ganz spezielles Reifen-Setup?"
Vasselon: "Ja. Nach dem Freien Training am Samstagmorgen tunen wir den Reifendruck und die Reifentemperatur, um so die Leistungsfähigkeit für die Qualifikation zu optimieren. Was den Reifendruck angeht, so benutzen wir da in der Qualifikation weniger Druck, was sich aber im Verlauf der Saison und je nach Rennstrecke unterscheiden kann. In der Regel gibt es jedoch keine so großen Unterschiede."

Frage: "Weshalb entfalten Formel-1-Reifen nicht sofort ihre bestmögliche Performance und benötigen erst ein paar Runden, um optimal zu funktionieren?"
Vasselon: "Das ist eine ganz besondere Eigenart der Rillenreifen. Wenn die Reifen noch neu sind, kann es vorkommen, dass zu viel Spiel in den Rillen ist. Aus diesem Grund fahren wir die Reifen auch manchmal an, denn dadurch helfen wir dieses Verhalten zu stabilisieren."

Frage: "Beeinflusst der Fahrstil eines Rennfahrers die Konstruktion und Auswahl eines Reifens?"
Vasselon: "Wir sehen in der Tat mitunter Unterschiede was die Abnutzung und die Balance angeht, was dann dazu führt, dass wir die Reifen über den Reifendruck oder das Anfahren der Reifen an den Fahrstil anpassen. In einigen Fällen kann aber auch die direkte Reifenwahl oder Reifenmischung anders sein."

Analyse der Telemetriedaten gehört zur Standardaufgabe

Frage: "Inwiefern machen Sie sich die Telemetriedaten zur Verbesserung der Reifen zu Nutze?"
Vasselon: "Bevor wir an eine Strecke reisen, studieren wir zunächst einmal die bislang gesammelten Daten. Von größter Bedeutung sind hierbei die vertikal wirkenden Kräfte und die Geschwindigkeiten. Mit Hilfe dieser beiden Parameter wollen wir sicherstellen, dass unsere Reifen bei den jeweiligen Höchstgeschwindigkeiten die auf sie wirkenden Kräfte aushalten. Das ist der erste Schritt. Anschließend schauen wir uns an wie sich die Geschwindigkeiten verteilen, wo beschleunigt wird und solche Dinge. Die seitliche und längslaufende Beschleunigung eines Reifens wird direkt vom Grip beeinflusst. Deshalb müssen wir diese Daten genau analysieren und uns diesbezüglich die Balance des Autos und den Lenkradius anschauen. Ich würde sagen, dass die wirkenden Kräfte, Geschwindigkeiten und die Beschleunigung und der Lenkradius die Bereiche sind auf die wir uns immer konzentrieren. Manchmal, zum Beispiel wenn es ein bestimmtes Problem gibt, kann es aber sein, dass wir uns in die Daten vertiefen und noch Parameter wie die Auswirkungen der Einstellung des Differenzials betrachten."

Frage: "Welche Kriterien liegen der endgültigen Reifenauswahl für einen Grand Prix zu Grunde? Insbesondere wenn sie vorher auf dieser Strecke nicht testen konnten?"
Vasselon: "Es gibt drei unterschiedliche Parameter die hier eine Rolle spielen. 1. Das Streckenlayout in Bezug auf die Anzahl und Länge der Kurven und die Länge der Geraden, was Aufschluss über die benötigte Haltbarkeit der Reifen liefert. 2. Die Eigenschaften des Asphalts. 3. Der Wetterbericht, wodurch wir ungefähr abschätzen können welche Bedingungen am Rennwochenende zu erwarten sind."

Frage: "Ist eine ebene Asphaltdecke hinsichtlich des Reifenverschleißes vorteilhafter?"
Vasselon: "Das kommt ganz drauf an. Wenn man Grip hat, dann wird man weniger Verschleiß haben, doch wenn der Asphalt wenig Grip bietet kann man rutschen. Sobald man rutscht, hat man auch Verschleiß. Die Antwort auf diese Frage kann man deshalb im Vorfeld eigentlich nie beantworten. Eine ebene Strecke kann den Reifen auch sehr stark zusetzen, nämlich dann wenn man Grip verliert und herumrutscht. Und eine lang gezogene Kurve beansprucht einen Reifen auch ganz anders als eine Schikane."

Aerodynamiktests der Reifen spielen eher eine untergeordnete Rolle

Frage: "Ist die Temperatur des Asphalts ausschlaggebend ob man sich für die weichere oder eher für die härtere Mischung entscheidet?"
Vasselon: "Nun, die Asphalttemperatur ist nur einer von vielen Faktoren die es zu beachten gilt. Es gibt andere Parameter die für solch eine Entscheidung genauso wichtig sind. Ein Beispiel: Wenn man ein Auto hat das die Reifen nicht stark beansprucht oder einen Fahrer der die Reifen nicht so stark forciert, so kann man die weichere Mischung benutzen, auch dann wenn die Temperaturen sehr heiß sein werden."

Frage: "Führen sie auch Aerodynamiktests durch, um das Verhalten und die Auswirkungen der Reifen zu erforschen?"
Vasselon: "Ja, selbstverständlich, denn wir wissen, dass das wichtig ist. Wir versuchen die aerodynamischen Anforderungen immer einzubeziehen, doch es ist wichtiger eine Reifenmischung herzustellen die gut funktioniert, weshalb das was aus aerodynamischer Sicht ein Verlust ist auf der Rennstrecke ein großer Vorteil sein kann. Aus diesem Grund schauen wir schlussendlich auf die Rundenzeit. Wir schenken den aerodynamischen Anforderungen Beachtung, jedoch nicht in erster Linie. Genauso verhält es sich mit den wirkenden Kräften. Wir wissen, dass wir die Masse des Reifens so gering wie möglich halten sollten, doch oftmals ist ein schwerer Reifen schneller gewesen, weshalb wir am Ende versuchen einen Reifen zu haben der so leicht wie möglich ist. Wenn sich durch hinzufügen von etwas Gewicht aber eine schnellere Rundenzeit erzielen lässt, so werden wir diesen Weg gehen."

Frage: "Welche Computersimulationen und Modelle benutzen Sie und sind diese von Michelin eigenständig entwickelt worden oder nicht?"
Vasselon: "Wir bei Michelin führen eine Menge Simulationen durch und benutzen die "finite element method" genannte Technik dafür. Im Vergleich zu einem normalen Reifen für ein Straßenauto sind die Anforderungen an die Konstruktion eines Formel-1-Reifen so speziell dass wir keine kommerziell verfügbare Software für unsere Belange einsetzen können. Wir arbeiten mit sehr großen Verschiebungen, mit vollständig nichtlinearen viskos-elastischen Materialien, weshalb das "finite element modell" auch sehr komplex ist."

Reifenentwicklung ohne Einsatz modernster Computernetzwerke ist nicht mehr denkbar

Frage: "Wie stehen Sie dem Einsatz von Computern im Sport gegenüber?"
Vasselon: "Wir können gar nicht mehr ohne sie leben. Bei uns sind alle Leute über ein Computernetzwerk miteinander verbunden und können somit Informationen austauschen. Ohne diese Möglichkeit ginge das gar nicht. 50 Prozent unserer Zeit verbringen wir ja außerhalb der Büros, weshalb wir ohne Computer und Netzwerke niemals effizient arbeiten könnten. Insofern gehören die Computer zu unserer Arbeit, unserem Leben dazu. In jeder Sportart, in der die Technik einen gewissen Stellenwert besitzt, wie dem Motorsport oder dem Segelsport, sind Computer unerlässlich geworden."

Frage: "Wie schaut es mit der Weiterverwendung der gesammelten Erkenntnisse aus? Können Sie Technologien, Arbeitsprozesse und solche Dinge zwischen anderen Motorsportserien und der Formel 1 austauschen?"
Vasselon: "Ja und nein. In der Rallye-Serie und MotoGP-Serie trifft das zu, denn wir wissen wie man die Logistik abwickelt und wie die Reifenproduktion und -entwicklung abzulaufen hat. Was aber das Design angeht, so unterscheiden sich Formel-1-Reifen nun einmal komplett von den anderen, weshalb wir da kaum etwas austauschen können. Schon die Lebensdauer der Reifen unterscheidet sich ja grundlegend. Außerdem sind die seitlich auf den Reifen wirkenden Kräfte ganz anders als bei einem GT- oder Supertourenwagen-Reifen, was wiederum mit der größeren Länge der Seitenwand zusammenhängt."

Frage: "Glauben Sie, dass sich die Reifenentwicklung und die verwendete Technologie in den kommenden Jahren dramatisch verändern wird oder rechnen sie eher mit einer kontinuierlichen Verbesserung von Rennen zu Rennen, Saison zu Saison?"
Vasselon: "Bei uns gibt es fortlaufend Verbesserungen, um Produkte zu schaffen die besser auf die jeweiligen Rennstrecken passen. Natürlich gibt es auch Veränderungen in der Fabrik was die Herstellung der Reifenmischungen betrifft. Auf der einen Seite gibt es die durch die Umsetzung der auf der Rennstrecke gewonnenen Erfahrungen erzielten kontinuierlichen Veränderungen, auf der anderen Seite entwickeln wir auch neue Materialien, Profile und Herstellungsmethoden."