• 13.03.2008 12:22

Theissen: "Die Stunde der Wahrheit"

BMW Motorsportdirektor Mario Theissen über Risiken, die Konkurrenz, das Potenzial der deutschen Piloten, Spionage und aufregende Neuerungen

(Motorsport-Total.com/sid) - Frage: "Herr Theissen, in der Testphase hatten Sie vor allem zu Beginn mit dem neuen Auto einige Probleme. Haben Sie den Mund etwas zu voll genommen mit der Ankündigung, die beiden Top-Teams Ferrari und McLaren-Mercedes angreifen zu wollen?"
Mario Theissen: "Das wird die Saison zeigen. Wie haben das getan, was nötig ist, um die Top-Teams anzugreifen. Sprich: Wir haben einen großen Konzeptsprung gemacht mit dem neuen Auto. Wenn man nur evolutionär weiterentwickelt, wird man so starke Teams an der Spitze nie einholen. Diesen Sprung mussten wir machen, aber das ist natürlich keine Garantie, dass alles gelingt, was man sich vornimmt. Wenn man einen größeren Sprung machen will, muss man mehr riskieren. Wir haben das getan, haben uns beim Konzept weit nach vorn gewagt. Wir wissen, dass wir zum ersten Rennen das Potenzial noch nicht voll umgesetzt haben werden, so dass im Laufe der Saison noch einiges kommen muss. Dennoch ist das erste Rennwochenende die Stunde der Wahrheit. Da zeigt sich, wo wir eigentlich stehen."

Titel-Bild zur News: Mario Theissen

BMW Motorsportdirektor Mario Theissen blickt mit Spannung auf die neue Saison

Frage: "Wie lautet Ihre Zielsetzung für die Saison 2008?"
Theissen: "Die Zielsetzung ist unverändert. Wir wollen in diesem Jahr unser erstes Rennen gewinnen und aus dem Zweikampf an der Spitze einen Mehrkampf machen."#w1#

Simulation ist eben nur Simulation

"Man kann sich durch diese Differenzen durcharbeiten und dann nachschärfen." Mario Theissen

Frage: "Wie ist es möglich, dass Millionen in die Entwicklung eines Autos gesteckt werden, sich dann aber die hervorragenden Simulationswerte auf der Strecke nicht umsetzen lassen?"
Theissen: "Jede Simulation, egal, ob auf dem Computer oder im Windkanal, kann immer nur eine Annäherung an die wahren Verhältnisse auf der Strecke sein. Es gibt Dinge, die man nicht simulieren kann. Das sind die Punkte, in denen sich Abweichungen ergeben zwischen Erwartungen und den Rückmeldungen der Fahrer. Was man dann machen kann, und was auch wir gemacht haben: Man kann sich durch diese Differenzen durcharbeiten und dann nachschärfen."

Frage: "Man hatte allerdings den Eindruck, dass Sie und die Fahrer doch sehr überrascht waren, wie groß diese Abweichungen ausgefallen sind. Täuscht dieser Eindruck?"
Theissen: "Nein, das war so."

Hackordnung für Theissen unverändert

Frage: "Wie fallen Ihre Eindrücke von der Konkurrenz aus?"
Theissen: "Ferrari hat in den ersten Wochen des Jahres einen sehr starken Eindruck bei den Tests gemacht. Ich gehe auch davon aus, dass McLaren-Mercedes sehr stark ist. Für mich ist die Hackordnung an der Spitze unverändert."

"Ferrari wird nicht wegen Michael Schumacher den WM-Titel gewinnen." Mario Theissen

Frage: "Wie hoch schätzen Sie bei Ferrari den Einfluss von Michael Schumacher ein?"
Theissen: "Den schätze ich schon hoch ein. Er hat eine riesige Erfahrung, und natürlich ist er ein Mann, der exzellent die Arbeit der Techniker mit der des Fahrers unter einen Hut bringen kann. Ferrari wird aber nicht wegen Michael Schumacher den WM-Titel gewinnen."

Frage: "Was trauen Sie Renault durch die Rückkehr von Fernando Alonso zu?"
Theissen: "Er wird dem Auto vermutlich die Fehler des Vorjahres austreiben und ein starker Wettbewerber im Kampf um die vorderen Plätze sein. Alonso ist einer der Topfahrer und natürlich ein Motivationsfaktor in dieser Konstellation."

Theissens WM-Favoriten

"Bei McLaren-Mercedes muss man sehen, wie das Team mit der neuen Kostellation umgeht." Mario Theissen

Frage: "Wer sind Ihre WM-Favoriten unter den Fahrern?"
Theissen: "Bei Ferrari sind das beide Fahrer, Kimi Räikkönen und Felipe Massa. Bei McLaren-Mercedes muss man sehen, wie das Team mit der neuen Kostellation umgeht und wie sich hinter Lewis Hamilton der neue Mann Heikki Kovalainen zurechtfindet. Dahinter zähle ich natürlich Alonso zu den Top-Leuten, und ich hoffe, dass unsere Fahrer bei einzelnen Rennen ein Wörtchen mitreden können."

Frage: "Wie kommen Heidfeld und Kubica mit dem Fehlen der Traktionskontrolle zurecht?"
Theissen: "Kann ich noch nicht abschließend beurteilen. Am Anfang waren beide damit nicht glücklich, wobei das wohl mehr mit der Performance unseres Autos zusammenhing. In den vergangenen Wochen wurden die Kommentare der beiden immer positiver."

"Ein Sicherheitsrisiko erkenne ich nicht." Mario Theissen

Frage: "Teilen Sie die Bedenken einiger Fahrer, dass durch das Fehlen der Traktionskontrolle vor allem bei Regen Sicherheitsrisiken entstehen?"
Theissen: "Nein, ein Sicherheitsrisiko erkenne ich nicht. Ich erwarte etwas mehr Unruhe im Feld, was vor allem den Zuschauern zu Gute kommen und die Rennen attraktiver machen wird. Mit abgefahrenen Reifen und bei Regen wird dieser Effekt besonders zu Tage treten."

Frage: "Wie schätzen Sie die Aussichten der anderen deutschen Fahrer ein?"
Theissen: "Williams scheint Nico Rosberg ein starkes Auto gebaut zu haben. Sie haben offensichtlich das Tief aus dem Jahr 2006 endgültig überwunden. Für Sebastian Vettel ist es ein Lehrjahr, er muss sehen, dass er möglichst viel mitnimmt für Aufgaben, die später auf ihn zukommen. Er ist in einem stabilen Team, in dem keiner von ihm Heldentaten erwartet. Deshalb kann er sich in dem Umfeld die nötige Reife holen. Für Timo Glock ist es eine super Chance. Er hat schon ordentlich Erfahrung im Gepäck und sollte in der Lage sein, von Anfang an das Potenzial des Autos umzusetzen. Adrian Sutils Auftritt wird geprägt sein durch die Performance des Autos."

Attraktive Vielfalt

"Wenn wir es schaffen, auf den Mond zu fliegen, dann sollten wir es auch schaffen, eineinhalb Stunden das Licht nicht ausgehen zu lassen." Mario Theissen

Frage: "In diesem Jahr sind das Nachtrennen in Singapur und der Stadtkurs in Valencia neu dabei. Ist das eine Bereicherung?"
Theissen: "Die Vielfalt von Rennstrecken, die man jetzt hat, halte ich schon für richtig und sinnvoll und vor allem für attraktiv für die Zuschauer. Was wir in diesem Jahr bekommen, halte ich für die wahrscheinlich attraktivste Streckenmischung, die es in der Formel 1 je gab. Ich glaube, dass Singapur das absolute Highlight des Jahres wird. Zu den Bedenken: Natürlich braucht die Formel 1 weiter Traditionsrennstrecken, zum Beispiel eine Naturrennstrecke wie Spa. Dieser Kurs ist einfach nicht kopierbar."

Frage: "Sicherheitsbedenken haben Sie wegen der zusätzlichen Stadtkurse nicht?"
Theissen: "Ich gehe davon aus, dass jeder Stadtkurs, der neu konzipiert wird, sicherer ist als Monaco. Von daher: keine Bedenken. Was das Nachtrennen angeht: Wenn wir es schaffen, auf den Mond zu fliegen, dann sollten wir es auch schaffen, eineinhalb Stunden das Licht nicht ausgehen zu lassen."

Spionageaffäre als Warnschuss

Frage: "FIA-Präsident Max Mosley hält die Spionage-Affäre für ausgestanden. Glauben Sie an eine skandalfreie Saison oder wird in der Formel 1 so viel getrickst, dass das vergangene Jahr erst der Anfang war?"
Theissen: "Ich hoffe und glaube eher, dass das vergangene Jahr mehr als ein Warnschuss war - und zwar für alle. Es gibt aber nach meiner Einschätzung in der Tat noch einen unterschiedlichen Kodex, teilweise aus der Vergangenheit begründet, als ein Einzelner nahezu allein für die Entwicklung eines Autos zuständig war und mehr das Empfinden eines freien Unternehmens hatte, dem das ganze Know-how gehört, das er auch woanders hin mitnehmen kann. Heute sind wir in einer anderen Situation. Wir haben große Teams, die professionell und industriell arbeiten. Da gilt die Spielregel, wie in jedem Industriebetrieb: Know-how, das ich gegen Bezahlung und im Namen des Arbeitgebers erarbeite, das gehört dem Arbeitgeber. Das kann ich nicht woanders hin mitnehmen. Das muss sich festigen in den Köpfen. Ich glaube, dazu hat der Skandal im vergangenen Jahr einen ordentlichen Beitrag geleistet, dass das verstanden wird."

"Ein Mitarbeiter darf mit einem vollen Kopf kommen, aber er muss mit leeren Taschen kommen." Mario Theissen

Frage: "Gibt es so etwas wie einen Verhaltenskodex bei Ihnen?"
Theissen: "Den gibt es. Wir haben kein Interesse an Mitarbeitern, die als Qualifikation das Wissen eines anderen Teams mitbringen. Denn dann müsste ich davon ausgehen, dass sie beim Verlassen unseres Teams dasselbe wieder tun. Und wenn ich mir unser Projekt anschaue: Wir sind ja nicht in der Formel 1, um mal eben etwas abzustauben und dann wieder zu gehen. Sondern wir bauen ein Team auf, das mittelfristig vom eigenen Know-how zur Spitze gehört und dann nicht mehr einem Trend nachläuft, sondern Trends setzt. Das kann man nicht mit Leuten, die mit irgendwelchen Unterlagen kommen. Es gibt ein ganz einfaches Prinzip: Ein Mitarbeiter darf mit einem vollen Kopf kommen, aber er muss mit leeren Taschen kommen."

Frage: "Wie stark wirken die Skandale der Vorsaison noch nach?"
Theissen: "Allgemein glaube ich, dass kein dauerhafter Schaden entstanden ist, weil die Strafe so extrem hoch ausgefallen ist. Und außerdem war die Formel 1 immer etwas sehr Spezielles mit eigenen Spielregeln. Es war immer das Bewusstsein da, dass jeder versucht, die Spielregeln bis zum Limit auszureizen. Und es hat auch immer Situationen gegeben, in denen einer über dieses Limit hinausgegangen ist und nachher zurückgepfiffen werden musste. Deshalb glaube ich, dass sich das Image der Formel 1 durch die Spionage-Affäre nicht völlig verändert hat."