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Nyck de Vries punktet beim Formel-1-Debüt: "Was mehr muss er tun?"

Wie Williams-Ersatzmann Nyck de Vries sein Formel-1-Debüt in Monza erlebt hat und was dieser Einsatz mit P9 im Rennen für seine sportliche Zukunft bedeuten könnte

(Motorsport-Total.com) - "Die zurückliegenden 24 Stunden waren einfach traumhaft", sagt Nyck de Vries. Diese Äußerung überrascht nicht: Nach einer Freitagsfahrt für Aston Martin in Monza kam der Formel-E-Weltmeister 2020/2021 kurzfristig auch noch zu einem Renneinsatz für Williams. Und de Vries schlug sich beachtlich: Von Startplatz acht kommend sah er das Ziel als Neunter und holte Punkte bei seinem Debüt in der Formel 1.

Titel-Bild zur News: Nyck de Vries lacht in der Williams-Box nach dem Qualifying in Monza

Nyck de Vries lacht in der Williams-Box nach dem Qualifying in Monza Zoom

"Ich weiß natürlich: Wir hatten etwas Schützenhilfe durch die Startplatzstrafen und so. Aber diese Punkte nimmt uns keiner mehr", sagt de Vries nach seinem ersten Grand Prix.

Doch es sind nicht nur die zwei WM-Zähler, mit denen de Vries Eindruck gemacht hat. Williams-Teamchef Jost Capito etwa lobt seinen Fahrer bei 'Sky' für dessen "fantastisches" Auftreten seit Samstag.

De Vries sei "nicht nur absolut schnell" gewesen, sondern habe auch "alles absolut fehlerfrei" hingekriegt, betont Capito. "Er hat das so professionell gemacht, als hätte er nie was anderes gemacht. Man hat ihm keine Nervosität angespürt, obwohl er innerlich, glaube ich, nervös war."

Schlaflos in der Nacht vor dem Formel-1-Debüt

Letzteres bestätigt de Vries auf Nachfrage: Die Nacht von Samstag auf Sonntag habe er sehr unruhig verbracht. "Ich schlief schlecht vor Anspannung und Nervosität. Ich wollte später gar nicht erst meine Schlafdaten abrufen, weil ich die ganze Nacht wachgelegen hatte. Vielleicht aber hat mir das geholfen. Ich konnte nicht denken, ich musste es einfach tun, weil alles ging so schnell."

Und jetzt erfährt de Vries Lob von allen Seiten. Die Formel-1-Fans wählten ihn noch während des Rennens zum "Fahrer des Tages" beim Italien-Grand-Prix in Monza, Ex-Champion Lewis Hamilton war nach dem Rennen einer der ersten Gratulanten.

"Ich freue mich unheimlich für Nyck und bin wirklich stolz auf ihn. Er ist ein guter Kerl, ein guter Mensch", sagt Hamilton. "Dass Nyck [für Alexander Albon] eingesprungen und in die Top 10 gefahren ist, das ist mega bei seinem ersten Rennen!"


Auch Mercedes-Teamchef Toto Wolff lobt de Vries

Diesem Urteil kann sich Mercedes-Teamchef Toto Wolff nur anschließen. De Vries habe sich in Monza "unglaublich" verkauft. "Er steigt in die Kiste ein im dritten Freien Training, qualifiziert sich vor seinem Teamkollegen und fährt mal eben lässig in die Punkte. Das ohne Training - richtig gut", meint Wolff im Gespräch mit 'Sky'.

Aus seiner Sicht sei das eine erstklassige Bewerbungsfahrt für 2023 gewesen. Wolff: "Wenn ihn nicht einer von denen, die noch einen freien Sitz haben, aufschnappt, verstehe ich die Welt nicht mehr. Was mehr muss er tun, als die Leistung zu erbringen, die er heute gezeigt hat?"

Doch so weit will de Vries selbst noch gar nicht denken: "Wir leben in einer schnelllebigen Welt und es kommt nicht nur auf Erfolge an. Aber niemand kann mir das nehmen, und zwar egal, ob ich in Zukunft hier dabei bin oder nicht. Ich kann mit Stolz auf mein Debüt in der Formel 1 zurückschauen. Es hat Spaß gemacht."

Chancen nutzen, wann sie sich bieten

Alles Weitere liege "nicht in meinen Händen", sagt de Vries. Er könne nur sein Bestmögliches tun. "Denn jedes Mal, wenn du im Auto bist, wird von dir erwartet, gute Arbeit zu leisten. Und jedes Mal, wenn du die Gelegenheit bekommst, ein Formel-1-Auto zu steuern, ist das wie eine Bewerbung und ein Vorstellungsgespräch."

"Du musst solche Chancen eben nutzen, aber auf sinnvolle Art und Weise", erklärt de Vries. "Denn es geht immer um die Balance, zu viel oder zu wenig daraus zu machen. Ich bin aber einfach nur dankbar, dass alles gut ausgegangen ist und in unsere Karten gespielt hat."

Williams-Teamchef Jost Capito mit Nyck de Vries nach dem Rennen in Monza

Williams-Teamchef Jost Capito mit Nyck de Vries nach dem Rennen in Monza Zoom

Kein einfacher Start ins Rennen für de Vries

Dabei ist de Vries laut eigenen Angaben "nicht so gut" in den Grand Prix gestartet, "aber gut genug, um meine Position zu halten". Er kehrte daher als Achter aus der ersten Runde zurück. "Der Schlüssel war, gleich zu Beginn in einen Rhythmus zu kommen und keinen Platz zu verlieren. Sonst werden deine Reifen schmutzig und du gerätst ins Hintertreffen."

Genau das ist nicht passiert: De Vries fuhr von Anfang an in den Top 10 und hielt sich im Rennen schadlos. "Ich bin zufrieden mit unserer Strategie und wie wir sie umgesetzt haben. Die Pace war wirklich gut, das Auto war klasse", so meint er.

Kleinere Hürden nahm der 27-Jährige ganz locker. Zum Beispiel den Start mit einem Lenkrad, das auf seinen Williams-Kollegen Nicholas Latifi abgestimmt war - mit entsprechenden Folgen. De Vries: "Der Kupplungshebel war von ihm, und seine Hände sind doppelt so groß wie meine!"

Auch ein Regler zur Verstellung der Bremsbalance war für de Vries nicht ideal gelegen: "Den hatte ich im Qualifying erwischt und so die Bremsbalance nach hinten verstellt. Damit habe ich im Prinzip das Getriebe überlastet, als ich vor Kurve 4 auf die Bremse bin." Es war einer von wenigen Fehlern von de Vries in einem für ihn fremden Auto.

Sportkommissare fällen mildes Urteil

Ein weiterer ereignete sich im Rennen hinter dem Safety-Car, in der unmittelbaren Schlussphase: De Vries bremste zwischen den Kurven 2 und 3 heftig ab, als ihm Guanyu Zhou im Alfa Romeo dichtauf folgte. Deshalb stießen die Sportkommissare eine Untersuchung an, unter dem Vorwurf, de Vries könnte "unberechenbar" gefahren sein und so gegen die Regeln verstoßen haben.

Die Sportkommissare beließen es jedoch bei einer Verwarnung. Begründung: De Vries sei durch eine Einblendung auf seinem Display irritiert gewesen, habe in Funkkontakt zum Team gestanden und sei nicht über die Einblendung aufgeklärt worden. Er habe gebremst, um unter Gelb bloß nicht die vorgeschriebene Minimalzeit zu unterschreiten.


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Ausdrücklich strafmildernd hat sich sein Spontaneinsatz bei Williams ausgewirkt: "Die Sportkommissare sehen, dass er kurzfristig den Stammfahrer ersetzt hat und das Auto an diesem Wochenende erstmals im dritten Training gefahren ist. Deshalb sprechen wir eine Verwarnung aus statt einer höheren Strafe."

Balance passt nicht zu Rennbeginn

Verwarnt worden war de Vries übrigens auch schon in der ersten Rennphase, als er wiederholt gegen Tracklimits verstoßen hatte. Das erklärt der Niederländer mit der "Balance bei hoher Geschwindigkeit", die ihn "immer weit rausgedrückt" habe in den Kurven.

"Ich hatte Schwierigkeiten damit, das Auto einzulenken, vor allem in den beiden Lesmo-Kurven. Das hat mich nach außen getragen. Als wir den Flap [am Frontflügel] für den zweiten Stint angepasst hatten, war die Balance besser", sagt de Vries. "Das hat mir geholfen, sauberer und sicherer unterwegs zu sein bei den Tracklimits." Und es blieb bei der einen Verwarnung.

Wohl auch, weil die Williams-Crew ihr Übriges tat, um de Vries durch alle Abläufe hindurchzulotsen. "Das Team hatte mich gut vorbereitet", meint de Vries. "Auch, was die Prioritäten anging. Wir haben uns zum Beispiel nicht mit den Fehlersachen oder Sicherheitsabläufen aufgehalten, sondern auf das konzentriert, was ich im Rennen brauchen würde."

"Im Rennen wiederum fragte ich nach, wie ich bestimmte Einstellungen vornehmen könnte, und es wurde mir gesagt. Wir hatten einen sehr guten Dialog und eine gute Kommunikation. Ich musste nicht denken, nur spüren, also hat mich das Team gut durch das Rennen hindurchgecoacht."


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Er habe diese Ratschläge einfach "mitnehmen" müssen und stets ein offenes Ohr haben, sagt de Vries. "Und ich musste auch meinem Gefühl vertrauen."

De Vries nach dem Rennen: Erschöpft, aber glücklich

Dieses Gefühl sagt ihm nach 53 Rennrunden in Monza, dass er "müde" sei, so de Vries weiter. "Ich habe[im Rennen] nicht viel geschwitzt und auch mein Puls war niedrig. Aber meine Arme und meine Schultern sind jetzt einfach müde."

Und so bleibt die Frage nach dem nächsten Schritt in seiner Motorsport-Laufbahn offen. "Es liegt nicht an mir, die Fahrerentscheidung zu treffen", sagt de Vries nochmals. Auf den Hinweis, bei Alpine sei noch ein Cockpit zu haben, sagt er schlicht - und ganz im Stil seines Mercedes-Kollegen George Russell: "Ich muss vielleicht eine Powerpoint-Präsentation aufsetzen!"

Vielleicht braucht es das aber auch gar nicht. Denn auch Williams-Teamchef Capito wirkt sehr angetan von de Vries. Auf die Frage, ob de Vries nicht gut zu seinem Rennstall passen würde, sagte Capito bei 'Sky': "Ja. Er ist ein Sunnyboy, aber er pusht natürlich. Seine Aussagen und wie er das Team pusht, das ist knallhart. Das ist eine gute Kombination, würde ich sagen."

Latifi verblasst gegen de Vries im gleichen Auto

Doch wo de Vries überzeugt hat, hat Latifi versagt: Er verlor nicht nur das Qualifying-Duell gegen den Formel-1-Neuling, sondern blieb auch im Rennen farblos und fuhr hinterher.

Capito wirbt um Verständnis für Latifi: "Es ist natürlich für ihn extrem schwierig, einen neuen Fahrer ins Auto zu bekommen als Teamkollegen, der dann schneller ist. Das ist ein extrem großer Druck für ihn."

Dann fügt der Williams-Teamchef noch hinzu: "Aber als Formel-1-Fahrer muss man mit dem Druck umgehen können. Es gibt nur zwanzig und das sind die Besten, da muss man damit umgehen können, und da müssen wir jetzt weitersehen." Gut möglich, dass Capito für 2023 zwischen de Vries und Latifi entscheidet bei seinem zweiten Cockpit.