powered by Motorsport.com
  • 30.06.2011 15:58

  • von Christian Nimmervoll & Dieter Rencken

Mercedes: Erst Basislager, dann Gipfelsturm

Nur halb so viele Punkte wie 2010, aber Mercedes gibt sich kämpferisch: "Wer auf den Gipfel will, muss sich ein Basislager bauen", sagt Norbert Haug

(Motorsport-Total.com) - Auch wenn es angesichts zwischenzeitlicher Aufblitzer wie von Nico Rosberg in Schanghai oder Michael Schumacher in Montreal nicht so präsent ist, fährt Mercedes in der Formel 1 derzeit im Rückwärtsgang: 2010 hatte das Team nach acht Rennen 108 Punkte auf dem Konto (Platz vier), ein Jahr später sind es zum gleichen Zeitpunkt nur 58 (Platz fünf).

Titel-Bild zur News: Nico Rosberg

Krise bei Mercedes: Nico Rosberg vertraut Ross Brawn und Norbert Haug

Zuletzt in Valencia wurde Rosberg Siebter und Schumacher 17., im Qualifying war der Silberpfeil hinter Red Bull, Ferrari und McLaren, aber immerhin knapp vor Renault vierte Kraft. Nur: Für das deutsche "Nationalteam", das mit dem Anspruch angetreten ist, Weltmeister zu werden, kann das kein Maßstab sein. Daher sah Teamchef Ross Brawn bereits nach Montreal ein: "Wir haben nicht genug technische Stärke, um mit Red Bull, Ferrari oder McLaren zu konkurrieren."

Derzeit keine Begeisterungsstürme

Das bedeutet aber noch lange nicht, dass man bei Mercedes den Kopf in den Sand stecken wird. Stattdessen sagt Brawn: "Wir arbeiten dran." Und auch Norbert Haug weiß: "Platz sieben und acht zu stabilisieren, das bringt keine Begeisterungsstürme mit sich, das ist klar. Aber wer auf den Gipfel will, muss sich ein Basislager bauen. Wir bauen uns das und von dort aus klettern wir weiter. Das werden wir auch schaffen. Im Moment geht da nicht mehr."

"Wir sind von Red Bull sehr weit weg, was natürlich nicht ideal ist", weiß Rosberg. "Aber in letzter Zeit habe ich mit Ross und Norbert gesprochen und sie haben einen klaren Plan, wie sie dieses Team in der nahen Zukunft näher an die Top-3-Teams nach vorne bringen wollen, weil wir sie sehr bald bisschen ärgern müssen und es so nicht weitergehen kann. Deswegen bin ich für die nächsten paar Rennen zuversichtlich."

¿pbvin|512|3839||0|1pb¿Doch die Mercedes-Fans fragen sich, wie es sein kann, dass aus dem von Honda im Stich gelassenen Weltmeisterteam Brawn innerhalb von zwei Jahren die Nummer fünf werden konnte, obwohl mit Mercedes nun wieder ein großes Werk in Brackley das Sagen hat. Haug glaubt, die Erklärung dafür zu kennen: "Das Team bestand aus 750 Mitarbeitern. Dann mussten sie das Team irgendwie am Leben halten und sie sind 2009 verdienter Weltmeister geworden", schildert er.

"Es waren 750 Leute und sie sind auf weniger als 400 runtergegangen. Das ist immer noch so", sagt Haug. "Wir waren mit McLaren-Mercedes in der Formel 1, aber dann wollte McLaren den Sportwagen bauen. Unser Management hat entschieden, dass wir in der Formel 1 bleiben. Natürlich hätten wir am liebsten dort angeknüpft, wo Brawn 2009 war, aber das war nicht realistisch. Es braucht einen Aufbauprozess und ich finde es positiv, dass wir diese Entscheidung haben."

Haug verweist auf Red Bull

"Vor nicht allzu langer Zeit hat das derzeit führende Team noch keine Rennen gewonnen. Manchmal hatten sie sogar Schwierigkeiten, Toro Rosso zu schlagen, was keine Kritik ist, sondern Tatsache", erinnert sich der Deutsche an die Anfänge der Red-Bull-Erfolgsstory und bittet für sein eigenes Team um Geduld: "Ich glaube, wir brauchen Zeit für den Aufbau. Dort stehen wir im Moment. Wir haben volles Vertrauen in Ross und die Jungs, aber wir müssen geduldig sein."

"Wir sind innerhalb des Teams konstruktiv kritisch und wir werden einen Schritt nach dem anderen vorankommen. Davon bin ich hundertprozentig überzeugt, aber wir brauchen die Zeit", erklärt Haug. "Ich kann mit der Kritik leben, das gehört dazu. Zu erwarten, von 750 auf unter 400 Leute zu reduzieren und dann ganz vorne zu sein, wäre vermessen. Wir waren im Vorjahr Vierter und wir sind dieses Jahr Vierter."

"Ich kann mit der Kritik leben, das gehört dazu." Norbert Haug

"Alles in allem ist es mutig, gut für den Sport und gut für uns, dass Mercedes da ist", betont er. "Es wird ein bisschen dauern, bis wir wieder dorthin zurückkehren, wo wir mit McLaren waren oder früher mit Juan Manuel Fangio. Die Entschlossenheit in unserem Unternehmen ist da, es Schritt für Schritt zu machen. Wir haben Vertrauen in die Leute. Wir werden die notwendigen Entscheidungen treffen, aber es wird ein bisschen dauern."

Technische Änderungen in vollem Gange

Was genau er mit "notwendige Entscheidungen" meint, lässt Haug offen, aber die technische Umstrukturierung hat bereits in den vergangenen Monaten begonnen: Rosberg (Tony Ross) und Schumacher (Mark Slade) bekamen neue Renningenieure, dazu wurde Ex-Renault-Technikchef Bob Bell verpflichtet. Die Saison 2011 frühzeitig abzuschreiben, um bereits alle Ressourcen auf 2012 umlenken zu können, kommt für Mercedes aber nicht in Frage.

Und zwar nicht, weil man sich noch Chancen ausrechnet, dieses Jahr Weltmeister zu werden, sondern weil kurzfristige Antworten auch langfristige Antworten sein können: "Wir haben mit der Entwicklung schon begonnen, aber die beiden Programme müssen wie jedes Jahr parallel laufen", erläutert Brawn. "Ich denke, es gibt noch viele Entwicklungen für dieses Jahr, die auch für nächstes Jahr wichtig sind und die wir verfolgen wollen, um Wissen für nächstes Jahr zu sammeln."

"Im Moment verschleißt unser Auto die Reifen unter bestimmten Umständen sehr stark. Dafür wollen wir dieses Jahr eine Lösung finden, weil man diese Erkenntnis auch nächstes Jahr anwenden kann", argumentiert er. "Es gibt nicht mehr viele Wintertests, also sind die Rennen fast die einzige Gelegenheit, Veränderungen auszuprobieren. Daher werden wir über weite Strecken des Jahres Weiterentwicklungen dieses Autos sehen - sei es um die Situation in diesem oder im nächsten Jahr zu verbessern."


Fotos: Mercedes, Großer Preis von Europa, Sonntag


"Wenn es an Leistung fehlt, musst du die Gründe dafür untersuchen", so Brawn. "Sehr selten gibt es nur einen Faktor. Manchmal verpasst man eine Innovation, aber meistens machen das Niveau von Verständnis und Innovation die Qualität dessen aus, was du schaffst. Wir sind eindeutig nicht stark genug, unsere Arbeit ist nicht gut genug. Wenn du dich in dieser Situation befindest, musst du dir überlegen, welche Bereiche du stärken musst. Das ist unsere Aufgabe im Teammanagement."

Kein Köpferollen absehbar

Mit "Bereiche stärken" meint der Brite aber nicht zwingend ein baldiges Köpferollen oder personelle Schnellschüsse: "Wir haben exzellente Leute im Team und haben keine massiven Änderungen des Personals im Sinn, sondern wir überlegen uns, wie wir die Leute, die wir haben, stärken können, damit wir insgesamt besser arbeiten", sagt Brawn diplomatisch, lässt aber offen, was er konkret damit meint.

"Eine der wichtigsten Verstärkungen, über die ich mich persönlich sehr gefreut habe, war Bob Bell", spricht er den Neuzugang von Renault an. "Er ist dieses Jahr zu uns gekommen und ich kann die Auswirkungen schon sehen. Es ist aber nicht realistisch, von ihm eine dramatische Verbesserung dessen zu erwarten, was wir jetzt haben, aber er kann uns dabei helfen, für die Zukunft eine stärkere Organisation aufzubauen."

"Eine der wichtigsten Verstärkungen war Bob Bell." Ross Brawn

Abschließend betont Brawn erneut: "Wir müssen jeden Bereich, der mit der Performance zu tun hat, durchleuchten - und dann eventuell sagen: Wir arbeiten nicht gut genug. Wie können wir also bessere Arbeit leisten? Mercedes und unsere Aktionäre unterstützen das, was wir tun, zu 100 Prozent", beteuert er. "Solange es vernünftig ist und Sinn macht, bekommen wir alles, was wir brauchen, um das Team zu verstärken."