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Kolumne: Wie Twitter die Formel 1 verändert

Twitter ist Segen für die Fans, neues Arbeits-Werkzeug für die Journaille und Fluch für Lewis Hamilton, aber aus der Formel 1 fast nicht mehr wegzudenken

Titel-Bild zur News: Twitter-Vortrag in Monaco

Über Twitter und Co. werden in der Formel 1 ganze Vorträge gehalten Zoom

Liebe Leser,

es war Sonntagabend in Monza, Lewis Hamilton hatte gerade den Grand Prix von Italien gewonnen und ich war, bewaffnet mit meinem Diktiergerät, auf der Suche nach Martin Whitmarsh. Der McLaren-Teamchef veranstaltet nach den Rennen keine organisierten Medienrunden, sondern steht meistens spontan bereit, und tatsächlich hatte sich vor dem McLaren-Motorhome ein kleines Grüppchen mit drei, vier Kollegen gebildet, die mit ihm über das Rennen sprachen.

Ich fand zu dem Zeitpunkt aber ein ganz anderes Thema als das Rennen spannend, nämlich das Smartphone-Verhalten von Lewis Hamilton. Der hatte zwei Wochen zuvor nach dem Qualifying in Spa-Francorchamps interne Telemetrie-Daten über den Kurznachrichtendienst Twitter veröffentlicht - um seinen Fans zu beweisen, dass er kein schlechterer Autofahrer ist als Jenson Button, sondern von der Technik gebremst wurde. Der Tweet wurde auf Drängen von McLaren rausgenommen, war in den Medien aber klarerweise ein Riesenthema.

Nachdem die Kollegen ihre Rennanalyse in Monza beendet hatten, wechselte ich das Thema und stellte die Frage, ob man angesichts der jüngsten Entwicklungen nicht gezwungen sei, Twitter künftig auch in die Fahrerverträge aufzunehmen. Zu dem Zeitpunkt hatte Hamilton noch nicht bei Mercedes unterschrieben und eigentlich gingen alle davon aus, dass er bei McLaren bleiben würde. Aber das Thema Twitter ging nicht nur McLarens PR-Chef Matt Bishop auf die Nerven, also erschien es mir logisch, das vertraglich zu regeln.

Twitter bald ein Thema für die Verträge?

Die Herren Journalisten-Kollegen brachen ob der vermeintlich augenzwinkernden Frage zunächst in Gelächter aus, Whitmarsh selbst auch. Doch Ian Parkes von der Press Association verstand als Erster, dass das Thema in Zukunft durchaus auch eines für die Rechtsanwälte, die die Fahrerverträge aushandeln, werden könnte, und auch Whitmarshs Lachen wurde schon leiser, als er ins Mikrofon diktierte: "Ich denke, am vergangenen Wochenende wurden viele Lektionen gelernt."

Soziale Medien, also Twitter, Facebook und Co., verändern derzeit das Gesicht der Formel 1, zumindest aus Sicht der Medienbranche. Lewis Hamilton muss man folgen, um keine potenziellen Skandale zu verpassen, Fernando Alonso postet zwischendurch immer wieder amüsante Paintball-Kriegsansagen in Richtung Sebastian Vettel und während der Rennen kommunizieren die Teams via Twitter teilweise hochinteressante und aufschlussreiche Details. Sogar der gefälschte Account von Charlie Whiting ist zumindest unterhaltsam.

Selbst unser Experte Marc Surer, Co-Kommentator bei Sky, kommt an Twitter nicht mehr vorbei, auch wenn er und Kollege Jacques Schulz die Twitter-Accounts der Teams in ihrer Kabine nicht selbst überwachen: "Wir haben jemanden, der das verfolgt und mir dann entscheidende Aussagen weitergibt. Wir müssen das filtern, sonst bist du mit Twitter überfordert. Wenn du da alle Teams und Fahrer auf der Liste hast, kannst du das gar nicht aussortieren", erklärt er.

Sebastian Vettel, Michael Schumacher, Timo Glock

Sebastian Vettel, Michael Schumacher und Timo Glock mit Smartphone Zoom

Live-Berichterstattung ist sowieso ein heikles Thema, denn wenn die Augen zwischen dem Zeitenmonitor, Twitter und Expertenchats hin und her fliegen, bleibt kaum noch Zeit, um das eigentliche TV-Bild zu verfolgen und zu kommentieren. Und die Kollegen, die an einem Rennwochenende so viel Zeit haben, auch mal direkt an die Strecke zu gehen und sich die vorbeiflitzenden Autos während einer Session in natura anzusehen, die kann man inzwischen wahrscheinlich an einer Hand abzählen.

Für die Fans freilich ist Twitter ein sensationelles Tool. Wie weit man das Thema theoretisch treiben kann, hat NASCAR-Champion Brad Keselowski vorgezeigt, als er während einer Gelbphase kurz zum Smartphone griff, aus dem Cockpit heraus ein Foto vom Unfall knipste und dieses fast live über seinen Twitter-Channel veröffentlichte. So entstehen für die User ein Mehrwert und eine persönliche Verbindung, wie sie sich über das Fernsehen nicht herstellen lässt.

Die Frage der Monetisierung

Adam Parr, den ich für hochintelligent halte, hat zu dem Thema einmal etwas Schlaues gesagt: "Rubens hat bei Twitter eine Million Follower. Ein Großteil davon kommt aus Brasilien. Für Renault ist Brasilien ein Schlüsselmarkt. Als Rubens also mitgeteilt hat: 'Wir fahren wieder Renault, fantastische Neuigkeiten!' Bang, eine Million Leute bekommen eine Empfehlung für Renault! Jemand, den sie bewundern, von dem sie ganz bewusst beschlossen haben, ihm zu folgen, sagt, dass Renault ein Weltklasse-Motor ist. Wie viele Werbespots für einen Clio ist das wert?"

Genau das ist die Schlüsselfrage, wenn es um soziale Medien geht. Bei einem Business-Kongress in Monaco im Dezember 2009 diskutierte ich genau darüber mit Tony Fernandes im Forum Grimaldi. Fernandes war gerade neu mit Lotus (heute Caterham) in die Formel 1 gekommen und sagte mir immer wieder einen erfrischenden Satz: "I want to be different." Und ein Teil dieser seiner Philosophie ist Twitter, bis heute.

Der viel interessantere Teil spielte sich aber ein paar Meter weiter im Kongressraum ab, wo ein gewisser Gerard Lopez, zu dem Zeitpunkt in der Formel 1 noch ein unbeschriebenes Blatt, gerade über Twitter, Facebook und Co. referierte. Lopez verwendete immer wieder das Wort "monetise", also sinngemäß "zu Geld machen". Dafür ein stimmiges Konzept zu finden, ist bis heute keinem gelungen - und die Branche zerbricht sich darüber den Kopf. Denn was helfen einem 17 Millionen Facebook-Fans, wenn man damit keinen Cent verdienen kann?


Was ist Twitter?

Ich persönlich, zugegebenermaßen ein Twitter-Kritiker der ersten Stunde, finde dieses neue Medium inzwischen toll. Ich nutze es, um Netzwerke zu aktivieren und zur Informationsbeschaffung, denn viele schreibende Kollegen twittern fröhlich jene heißen Insiderinfos, die für eine Veröffentlichung im Print oder auf der normalen Internetseite "zu heiß" wären. Twitter ist sozusagen die neue Plauderecke im Paddock, nur dass man dafür nicht hinter einem Motorhome verschwinden, sondern nur den Computer einschalten oder das Smartphone aktivieren muss.

Mittendrin statt nur dabei

Mike Gascoyne sitzt mit Tastatur am Caterham-Kommandostand und entschuldigt sich bei seinen Followern, wenn die Rennsituation zu stressig ist und er sich ein paar Runden lang nicht melden kann, und Lewis Hamilton fotografiert bei der Pressekonferenz den FIA-Saal aus seiner Perspektive - authentische Einblicke, die die Fans nie zuvor hatten. Einmal scherzte Lewis bei einer McLaren-Interviewrunde mit dem Smartphone in der Hand: "Guys, smile, you're gonna be famous. I'll put this on Twitter." Was er dann tatsächlich getan hat.

Aber natürlich hat Twitter auch Nachteile. Wenn ich im Büro sitze und irgendwo auf der Welt gerade ein Testunfall passiert, erfahre ich möglicherweise eine Minute später schon davon. Die journalistische Sorgfaltspflicht gebietet es, sich bei den jeweiligen Ansprechpartnern zu erkundigen, aber die können so früh natürlich selbst noch gar nicht im Bilde sein, was denn jetzt eigentlich genau los ist. Michael Schumachers Medienbetreuerin Sabine Kehm kann ein Liedchen davon singen.

Und man kann sich mit Twitter-Posts auch die Karriere verbauen, so geschehen erst diese Woche mit dem entlassenen FIA-Arzt Gary Hartstein, der twitterte, dass er "ernsthaft wütend" ist, und dem Weltverband öffentlich den Krieg erklärte. Man kann sich sicher sein: In einer Welt, in der das Thema Compliance eine immer größere Rolle spielt, wird er sich sehr schwer dabei tun, wieder einen angesehenen Job zu finden. Denn Twitter hören nicht nur ein paar Bekannte am Stammtisch, sondern Twitter liest die ganze Welt.

Christian Nimmervoll

Christian Nimmervoll, Chefredakteur für Motorsport-Total.com und Formel1.de Zoom

Aber Marc Surer findet "eins toll an dieser Geschichte: Die Fahrer dürfen heute ja nichts mehr sagen. Wenn du in einer Pressekonferenz sitzt, gibt es kaum jemanden, der noch den Mut hat, irgendeine Aussage zu machen, die dann gleich eine Schlagzeile macht, sondern alle sind ganz brav. Twitter gibt ihnen die Möglichkeit, mal Dampf abzulassen. Deswegen finde ich das gar nicht schlecht." Dem gibt es nichts hinzuzufügen. Twitter ist eine Sternschnuppe des Jahres 2012, die sicher nicht so schnell verglühen wird...

Übrigens: Natürlich habe auch ich einen eigenen Twitter-Channel, dem Sie folgen können, und die Channels meiner Redaktionskollegen finden Sie hier.

Ihr

Christian Nimmervoll

(Chief Editor Portals, SPORT MEDIA SERVICE GROUP)