• 20.05.2011 22:14

  • von Sven Haidinger & Dieter Rencken

From Hero to PZero? Pirelli in Barcelona unter Beschuss

Hamilton hält ihn für eine "Katastrophe", die meisten Fahrer wollen ihn meiden - Könnte sich der neue harte Reifen in Barcelona dennoch zur Trumpfkarte entwickeln?

(Motorsport-Total.com) - Eben noch Hero, jetzt doch wieder Zero? Nach viel Kritik wegen des hohen Verschleißes bei den Wintertests war Pirelli nach dem spektakulären Saisonauftakt als Heilsbringer gefeiert worden. Noch nie wurde soviel überholt, selten war die Formel 1 so spektakulär. Einziger weiterhin bestehender Kritikpunkt: der enorme Verschleiß, der dafür sorgt, dass große Gummimurmeln auf dem Asphalt neben der Idealinie für extreme Rutschgefahr sorgen und die Teams bis zu vier Mal pro Rennen an die Box kommen müssen, was die Übersicht beeinträchtigt.

Titel-Bild zur News: Lewis Hamilton

Ungeliebter Gummi: Lewis Hamilton übt heftige Kritik am neuen harten Reifen

In Barcelona reagierte Pirelli und belieferte Teams mit einer neuen Mischung des harten PZero Silver. Und stößt damit auf den Unmut vieler Fahrer. "Der harte Reifen war eine Katastrophe", schimpft Lewis Hamilton nach dem ersten Trainingstag. "Wirklich nicht nett zu fahren." Zunächst hatte der McLaren-Star gedacht, dass an seinem MP4-26 etwas nicht stimmt. Doch das stellte sich als Trugschluss heraus.

"Beim Testen sind alle 1:21er- oder 1:22er-Zeiten gefahren", spielt Hamilton auf die Testfahrten im Winter an. "Heute lagen wir auf einmal bei 1:25er- und 1:26er-Zeiten. Ich dachte: 'Wow, verrückt, wie schwierig das Fahren hier ist!' Dann wechselst du auf die weichen Reifen und bumm, auf einmal geht es. Der Unterschied zwischen den beiden Reifen ist riesig. Ich weiß nicht, warum sie die eingeführt haben, denn der vorherige Reifen war ziemlich gut."

Harter Reifen "eine Katastrophe"?

Erst spät wird dem Briten bewusst, wie heftig er Pirelli kritisiert. "Ich muss ein bisschen aufpassen, sie nicht zu sehr zu verteufeln, was ich vielleicht schon getan habe", sagt er, doch der Ärger ist offenbar groß: "Die Reifen sind nicht besonders gut. Wir hatten enorme Probleme damit." Tatsächlich ist Hamilton der bisher schärfste Kritiker der Reifenmischung, mit seiner Meinung steht er aber keineswegs alleine da.

"Das ist das erste Mal, dass ich damit fahre, und es war ein Schock, um ehrlich zu sein." Jenson Button

Nico Rosberg gibt an, dass die neue Reifenmischung "nicht so toll funktioniert". Und auch Hamiltons Teamkollege Jenson Button stimmt in den Kanon ein: Die neue Mischung sei "hart, wirklich hart! Das ist das erste Mal, dass ich damit fahre, und es war ein Schock, um ehrlich zu sein." Er bestätigt Hamiltons Urteil, der Reifen sei eine Katastrophe: "Ich fahre mit dem gleichen Auto. Er hat recht."

Dennoch zeigt er seinen guten Willen, mit dem Gummi klarzukommen: "Die Reifen sind für alle gleich, also müssen wir versuchen, das Beste herauszuholen." Dabei müsste der Weltmeister 2009 unter der neuen Gummimischung besonders leiden, da er einen äußerst reifenschonenden Fahrstil hat und die Pneus damit nicht so schnell auf die richtige Betriebstemperatur bringt.

Massa verzweifelt am neuen Reifen

Felipe Massa, der ebenfalls sehr schonend fährt, hatte schon im Vorjahr ähnliche Schwierigkeiten wie Button. Er bestätigt, dass er mit der harten Mischung nicht zurecht kommt: "Ich hatte große Probleme damit, die Reifen zum Arbeiten zu bringen. Das war vor allem bei der harten Mischung der Fall. Ich brachte deshalb auch keine gute Rundenzeit zustande."

"Auf den Longruns fahren wir nun in etwa so schnell wie die GP2-Serie." Mark Webber

Beim Brasilianer sitzt der Frust besonders tief, denn dieses Jahr konnte er beim Saisonstart teilweise mit Teamkollegen und Nummer-eins-Piloten Fernando Alonso mithalten. Doch jetzt könnten ihn die Reifen um die Früchte seiner Arbeit bringen. "Die neuen Teile, die wir hier einführen, verbesserten unsere Leistung. Bei den Reifen möchte ich nicht zu sehr ins Detail gehen", beißt er sich auf die Zunge. "Sagen wir es einfach so: In diesem Bereich ist noch einiges zu tun."

Auch Sebastian Vettel kennt Massas Probleme: "Diese Pneus sind wirklich sehr hart. Es dauert eine ganze Weile, bis du sie auf Temperatur hast." Teamkollege Mark Webber sieht die Formel 1 sogar schon auf GP2-Niveau: "Dass wir nun langsamer fahren, liegt an den Reifen. Im vergangenen Jahr kamen wir auf Rundenzeiten von 1:19 Minuten. Der ultimative Grip ist jetzt einfach nicht mehr da. Hinzu kommt der große Verschleiß der Pneus, sodass wir auf den Longruns nun in etwa so schnell fahren wie die GP2-Serie."

Wie Hembery auf die heftige Kritik reagiert

Die Kritik der Fahrer ist an Pirelli nicht spurlos vorübergegangen. Sportchef Paul Hembery wundert sich vor allem, weil die Fahrer die Reifenmischungen bereits zwei Mal im freien Training ausprobiert hatten, danach aber nicht klagten. "Ich verstehe, dass der Reifen anders ist, sehr anders. Aber warum haben sie das nicht gesagt, nachdem sie den Reifen in Malaysia oder in Istanbul getestet hatten? Da gab es keine Kommentare." Der Brite geht in die Gegenoffensive: "Vielleicht haben sie sie nicht ordentlich getestet und es nicht ernst genug genommen."

"Warum haben sie das nicht gesagt, nachdem sie den Reifen in Malaysia oder in Istanbul getestet hatten?" Paul Hembery

Hembery hat dafür Verständnis, dass der Reifen sich im Vergleich zur weichen Mischung nicht besonders angenehm anfühlt: "Er ist langsam, hat weniger Grip - das streite ich ja nicht ab. Man muss aber auch die positiven Seiten sehen." Laut dem Reifenspezialisten ist der harte Reifen zwar deutlich langsamer als sein Vorgänger, könnte aber im Rennen erstmals eine sinnvolle Alternative zur weichen Mischung darstellen.

"In Istanbul hielt der harte Reifen ungefähr ein bis zwei Runden länger als der weiche und hatte einen Performance-Nachteil", holt Hembery aus. "Er spielte strategisch keine Rolle." Stattdessen war es das Ziel der Teams, den unattraktiven harten Reifen so kurz wie möglich einzusetzen, um das Performance-Defizit in Grenzen zu halten.

Reifen auch für Pirelli langsamer als angenommen

Mit der neuen harten Mischung sei dies nun anders: "Bei der Lebensdauer gibt es zwischen der harten und der weichen Mischung Unterschiede zwischen zehn und 14 Runden." Tatsächlich beweist ein 19 Runden langer Stint von Williams-Pilot Pastor Maldonado am Nachmittag, dass der lange Reifen haltbar und stabil ist - es ist kein signifikanter Einbruch der Rundenzeiten auszumachen.¿pbvin|512|3705||0|1pb¿

"Der harte Reifen wird zum ersten Mal strategisch eine Rolle spielen." Paul Hembery

Dennoch gibt Hembery zu, dass es nicht die Absicht von Pirelli war, dass der harte Reifen über zwei Sekunden pro Runde langsamer ist: "Das ist mehr als beim Testen." Das gleiche sich über die Distanz aber wieder aus: "Der weiche Reifen baut ungefähr zwei Sekunden pro Runde ab, der harte ungefähr eine Zehntel. Es wird also einen Überschneidungspunkt geben. Aus diesem Grund wird der harte Reifen zum ersten Mal strategisch eine Rolle spielen - das war noch nie der Fall."

Fehlt Fahrern und Teams noch die Erfahrung?

Ist der hart Reifen also doch besser als sein Ruf? Müssen die Fahrer erst begreifen, wie sie die Mischung perfekt nutzen können? "Sie werden länger halten als die weiche Mischung, sind aber auch langsamer", erklärt Vettel den Spagat. "Ich denke, das ist kein großes Geheimnis. Da muss man jetzt rechnen und sehen, was in Bezug auf die Strategie am meisten Sinn macht."

"Oft reichen über Nacht ein paar Änderungen, um einen Schritt vorwärts zu machen." Paul di Resta

Auch Force-India-Rookie Paul di Resta will es nicht ausschließen, dass der harte Reifen im Rennen für ungeahnte Möglichkeiten sorgen könnte: "Oft reichen über Nacht ein paar Änderungen, um einen Schritt vorwärts zu machen. Es ist natürlich eine schwierige Aufgabe, dass wir hier einen neuen Reifen haben. Jeder hat eine andere Herangehensweise und wir werden unsere Pläne bis zum Qualifying für uns behalten. Das ist ein wesentlicher Teil. Alles hat Vor- und Nachteile."

Hamilton & Co. wollen harte Mischung meiden


Fotos: Großer Preis von Spanien


Die meisten Fahrer gehen aber davon aus, dass es auch in Barcelona eine wahre Boxenstopp-Orgie geben wird. "Im Hinblick auf die Anzahl der Boxenstopps kann man von einem Rennen ausgehen, wie wir es zuletzt in der Türkei sahen", meint Fernando Alonso, dessen Chefingenieur Pat Fry in die gleiche Kerbe schlägt: "Ich gehe jedenfalls davon aus, dass die Boxencrew am Sonntag einiges zu tun haben wird."

Dieser Ansicht ist auch Pirellis schärfster Kritiker, McLaren-Pilot Hamilton. Der harte Reifen werde sich "nicht gravierend" auf die Rennstrategie auswirken. "Ich habe noch nicht mit den Ingenieuren gesprochen, aber ich rechne wieder mit drei bis vier Stopps - vielleicht eher drei. Der Unterschied zwischen den beiden Reifen lag heute bei zwei bis zweieinhalb Sekunden, dabei hält der neue auch nicht viel länger. Mit dem neuen Reifen werden wir den Pflichtstint so kurz wie möglich halten, denn er taugt nichts. Die meisten Fahrer werden versuchen, den weichen Reifen zu verwenden, wann immer es geht."

Hembery bestreitet Vierstopp-Prognose

Pirelli-Sportchef Hembery kann die Aussagen der Fahrer einmal mehr nicht nachvollziehen. Während fast alle von drei bis vier Stopps wie in Istanbul reden, hält er dies für fast ausgeschlossen. "Ich kann es mir auf jeden Fall vorstellen, dass es jemand mit zwei Stopps probiert. Ich habe manche sagen gehört, dass es wieder ein Vierstopp-Rennen sein wird. Angesichts der Daten, die ich gesehen habe, würde mich das schon sehr überraschen, da sie ja die harte Mischung verwenden müssen."

"Ich kann es mir auf jeden Fall vorstellen, dass es jemand mit zwei Stopps probiert." Paul Hembery

Sogar ein Rennen mit nur einem Boxenstopp will Hembery nicht ausschließen: "Wir müssen uns die Daten noch anschauen, aber ich muss sagen, dass es jemanden gibt, der danach aussieht. Für Q2-Leute könnte sich das ausgehen. Da liegt man nicht soweit weg." Damit spricht der Brite einen nicht unwesentlichen Punkt an: Die Fahrer müssen bereits im Qualifying auf das Reifenkontingent für den Sonntag zugreifen - auf eine schnelle Runde ist die harte Mischung eindeutig die schlechtere Wahl.

Harter Reifen im Qualifying ein Risiko

"Wir haben dieses Jahr gesehen, dass die Strategie nicht erst am Renntag eine Rolle spielt, sondern bereits am Samstag", bestätigt Hembery. "Daher wird es sehr interessant sein, welche Taktik die Teams im Qualifying basierend auf dem, was sie am Freitag gelernt haben, anwenden werden." Bisher war es das Ziel der Topteams, in Q1 mit der harten Reifenmischung eine stabile Zeit hinzulegen und dann zu hoffen, dass keines der Nachzügler-Teams diese unterbieten kann und man so unter die besten 17 kommt.

"Ich kann mir kaum vorstellen, dass man Q1 übersteht, ohne die weichen Pneus zu fahren." Fernando Alonso

Selbst Red-Bull-Pilot Webber scheiterte in China an dieser Risikostrategie, mit dem langsameren harten Reifen wird diese Herangehensweise sogar noch riskanter. "Ich kann mir kaum vorstellen, dass man Q1 übersteht, ohne die weichen Pneus zu fahren", glaubt Alonso. "Ich denke, manche Teams werden in dieser Einheit sicherlich auf weiche Pneus zurückgreifen. Wir werden sehen, ob jemand ein Risiko eingeht. Ich weiß nicht, wie viel Spielraum Red Bull hat."

Wer spielt das Reifenass aus?

Doch auch Red-Bull-Pilot Vettel ist mit dem Lokalmatador einer Meinung. Es wäre "sehr schwierig", in Q1 nur auf den harten Reifen zu setzen. Ursache ist nicht nur die langsamere harte Mischung - die Gefahr kommt hingegen von ganz hinten. "Die Nachzügler sind näher ans Mittelfeld herangerückt", vermutet der Weltmeister eine Kettenreaktion. "Das bedeutet, dass die mittleren Teams weiche Reifen verwenden müssen, um die Nachzügler zu schlagen. Das wiederum zwingt uns, mit weichen Reifen zu fahren, um vor dem Mittelfeld zu bleiben."

"Bei einigen Teams haben die Reifen eine sehr hohe Lebensdauer." Paul Hembery

Somit hätte Vettel nur noch "einen neuen Reifensatz für Q3" und müsste im Rennen ausschließlich mit gebrauchten weichen Reifen fahren. Ein Faktor, der es manchen Teams womöglich schmackhaft machen könnte, eine unübliche Strategie mit einem langen Stint auf dem harten Reifen auszuprobieren.

Hembery deutet an, dass es Rennställe gibt, die sich für so ein Unterfangen regelrecht anbieten würden: "Bei einigen Teams haben die Reifen eine sehr hohe Lebensdauer. Ich möchte nicht sagen, wer sie sind, denn diese Information wäre am Renntag für ihre Strategie sehr wichtig." Es ist nicht auszuschließen, dass es sich um das Team handelt, dass bisher als einziger Rennstall diese Saison mit nur einem Boxenstopp über die Distanz gekommen ist.