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  • 18.03.2015 08:04

  • von Gary Anderson (Haymarket)

Formel-1-Technik 2015: Die wahren Gewinner und Verlierer

Ex-Designer Gary Anderson nimmt die Performance der Teams in Melbourne unter die Lupe: Ferrari hat im Gegensatz zum Vorjahr auf Mercedes verloren

(Motorsport-Total.com) - Manchmal kann es verwirrend sein, was man im Grand-Prix-Sport auf den ersten Blick sieht. Damit man es im Detail versteht, muss man sich einige Zeit nehmen und die genauen Zahlen studieren. Ich habe genau das gemacht und die Leistungen der Teams mit Melbourne aus dem Vorjahr verglichen. Dabei bin ich auf interessante Überraschungen gestoßen. Die Performance der Autos im Rennen kann im Falle Ferrari sehr vielversprechend aussehen, aber wenn man sich die genauen Zahlen der reinen Pace ansieht, dann sieht es für die Scuderia überhaupt nicht gut aus.

Titel-Bild zur News: Lewis Hamilton, Nico Rosberg, Felipe Massa, Sebastian Vettel

Welches Team hat im Vergleich zum Vorjahr auf Mercedes aufholen können? Zoom

Diesem Thema widmen wir uns etwas später. Schauen wir uns zuerst die schnellste Runde jedes Fahrers von 2014 an und vergleichen sie mit 2015. Das ergibt folgendes Bild. Wenn man diese Zahlen mit den Fortschritten von Mercedes vergleicht, dann hatten die Verfolger viel mehr Möglichkeiten für Fortschritte. Man kann davon ausgehen, dass Mercedes selbst Schritte nach vorne gemacht hat.

Es hätten alle Verfolger die Lücke zu Mercedes verringern müssen. Laut meinen Kalkulationen haben aber nur drei Teams wirklich den Rückstand reduziert. Was hat nun jedes Team auf Mercedes gewonnen oder verloren? Es ist immer schwierig, genau zu sagen, wo ein Team etwas gefunden hat. Das ist vor allem bei den besten Autos schwierig zu beurteilen.

Ich würde schätzen, dass Mercedes in allen Bereichen gewonnen hat. Beim Antrieb schätze ich es auf 60 Prozent ein und die restlichen 40 Prozent beim Chassis. Alle 100 Prozent der Fortschritte würden demnach von Mercedes direkt kommen, aber ich bin mir sicher, dass auch ein wenig von besseren Reifen kommt.

1 Lotus: 2,038 Sekunden gewonnen
Von der Pace her hat sich Lotus am meisten verbessert, aber ich denke nicht, dass wir zu viel hineininterpretieren sollten. Das Team hatte einen Albtraum-Start 2014. Da sie sich neu formiert und für 2015 auf den Mercedes-Antrieb gewechselt haben, waren Fortschritte unausweichlich. Im Vergleich zum Mercedes-Team ist der meiste Zeitgewinn darin begründet, dass sie im Vorjahr wirklich schlecht gestartet sind. Leider hat sich das im Rennen nicht ausgezahlt, denn beide Autos waren nach zwei Minuten ausgeschieden.

2 Sauber: 0,507 Sekunden gewonnen
Ähnlich wie Lotus hatte auch Sauber einen sehr schwierigen Start 2014. Wir müssen tief graben, um die Gründe für diesen Zeitgewinn zu finden. Das Auto sieht viel besser ausbalanciert aus. Mit Felipe Nasr, und zu einem gewissen Grad auch Marcus Ericsson, haben sie zwei junge und hungrige Fahrer. Nachdem Sauber im vergangenen Jahr keinen einzigen WM-Punkt gesammelt hat, haben sie in Melbourne schon angeschrieben. Das wird für das Team eine große Erleichterung sein.

Marcus Ericsson

Sauber hat sich im Vergleich zum Vorjahr viel stärker präsentiert Zoom

3 Williams: 0,154 Sekunden gewonnen
Williams hat den Rückstand ein wenig verkürzt, aber das Team war zu Saisonbeginn 2014 noch nicht so stark wie später im Jahr. Ich bin mir sicher, dass dieser Zeitgewinn verschwinden würde, wenn wir die Performance mit der zweiten Saisonhälfte 2014 vergleichen würden.

4 Toro Rosso: 0,498 Sekunden verloren
Toro Rosso hat im Vergleich zu Mercedes etwas verloren, aber das ist schwierig zu beurteilen. Sie haben zwei unerfahrene Piloten. Beide haben ihr Talent gezeigt, aber ich denke, wir müssen den weiteren Saisonverlauf abwarten, bis wir beurteilen können, was sie in Zukunft zeigen werden.

5 Ferrari: 0,673 Sekunden verloren
Nach diesen vier Teams werden die Vergleiche richtig interessant. Man hört ständig, dass sich Ferrari so stark verbessert hat, aber die Zahlen zeigen das nicht. Sie haben mehr als eine halbe Sekunde auf Mercedes verloren. Sie haben zwei Topfahrer, also gibt es am Steuer keine Ausreden. Wenn Ferrari wirklich an der Spitze mitkämpfen will, dann müssen sie die Entwicklung vorantreiben, denn im Moment macht Mercedes größere Fortschritte als Ferrari.

Sebastian Vettel

Ferrari hat laut meiner Analyse Boden auf Mercedes verloren Zoom

6 Red Bull: 0,996 Sekunden verloren
Ich bin schon etwas älter, aber ich kann mich noch gut erinnern, als Red Bull die dominierende Kraft war. So lange ist das auch nicht her, aber wo ist das hingekommen? Im Moment scheint Red Bull alle Energie darin zu investieren, Renault zu kritisieren. Sie sollten lieber schauen, was das Schwesternteam Toro Rosso macht. Sie sollten vom Juniorteam lernen.

7 Force India: 1,078 Sekunden verloren
Nachdem das Team den Großteil der Wintertestfahrten mit dem 2015er-Auto verpasst hat, hatten sie noch nicht die Zeit, um mit der Abstimmung zu experimentieren. Bei den Testfahrten konzentrierte man sich in erster Linie auf die Zuverlässigkeit, um vielleicht einige Punkte abzustauben. Das hat in Melbourne auch gut geklappt, denn beide Autos landeten in den Top 10. Da Force India an Boden verloren hat, sind sie von anderen Teams überholt worden. Deswegen wird es für sie schwierig, im Saisonverlauf weitere Punkte zu sammeln, sollten sich die Probleme der anderen Teams nicht fortsetzen.

8 McLaren: 3,950 Sekunden verloren
Ich weiß nicht, wo ich bei diesem Team anfangen soll. Wir haben zu Saisonbeginn 2014 gesehen, dass einige Teams - vor allem Motorenhersteller - Probleme hatten. Das wird aber bedeutungslos, wenn man sieht, welche Schwierigkeiten McLaren und Honda durchmachen. Seit dem Testbeginn habe ich klar gesagt, dass niemand aufsteht und Verantwortung für diese Probleme übernimmt. Es ist Zeit für Ron Dennis zu zeigen, dass er wieder für das Team verantwortlich ist.

Jenson Button

Wer übernimmt bei McLaren-Honda für die desaströse Vorstellung Verantwortung? Zoom

Die technischen Probleme sind eine Sache, aber ich sehe keinen Grund, warum McLaren und Honda nicht für eine schnelle Runde im Qualifying voll aufdrehen können. Honda hat gemeint, sie können das nicht machen, weil die Kühlung am Limit ist. Jeder hat darüber gesprochen, wie kompakt das Heck des McLaren ist. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, diesen Bereich etwas zu öffnen.

Das würde eine etwas bessere Kühlung erlauben und Honda hätte mehr Raum für Experimente und könnte sehen, wie viel Leistung zur Verfügung steht. McLaren hat sich mit beiden Autos für die letzte Startreihe qualifiziert. Jenson Button kam als Letzter und Elfter ins Ziel. Er hat es zumindest ins Ziel geschafft. Ich denke, das hat McLaren-Honda nicht erwartet.

McLaren wird sich an das Vorjahr erinnern, als nach der Disqualifikation von Ricciardo beide Autos auf dem Podest standen. Was ist alles in der Zwischenzeit passiert? Ich habe während der Wintertests mehrmals betont, dass bei McLaren niemand die Probleme an der Wurzel packen will. Alle verhalten sich in dieser Situation zu nett. Alle betonen weiterhin, dass sie dachten, der Honda-Antrieb sei eine Rakete. Ich muss fragen, warum sie das denken?


Fotostrecke: GP Australien, Highlights 2015

Wir können uns alle an den letzten Honda-Auftritt in der Formel 1 erinnern. Zuerst waren sie Partner von BAR und übernahmen dann das komplette Team. Button war damals der letzte Führungsfahrer des Teams. Honda versuchte viele Jahre lang, die WM zu gewinnen. Als es dann nach zwei katastrophalen Jahren richtig schwierig wurde, zog man sich zurück und überließ Ross Brawn den Laden. BrawnGP gewann 2009 die Weltmeisterschaft und anschließend war es die Geburtsstunde des heutigen Mercedes-Werksteams.

Jenson muss einige Albträume haben und sich fragen, warum er nicht Ende 2014 zurückgetreten ist. Fernando Alonso muss sich fragen, was er tun muss, damit er ein konkurrenzfähiges Auto bekommt, bevor seine Zeit vorüber ist. Ein Spruch sagt, dass es nur bergauf gehen kann. Es kann aber einige Zeit dauern, bis es bei McLaren und Honda vorwärts geht.

Ein langweiliges Rennen

Der Grand Prix von Australien war für mich nicht das spannendste Rennen, vor allem weil nur 15 Autos gestartet sind. Abgesehen vom Skandal-Rennen in Indianapolis 2005 war das das kleinste Feld seit 1982 in San Marino, wo damals nur zwölf Autos gestartet sind. Irgendwer muss davon Notiz nehmen und etwas unternehmen, ansonsten werden die Fernsehzuschauerzahlen dramatisch fallen. Ich bin nicht mehr direkt in die Formel 1 involviert, aber als Lehnstuhl-Enthusiast war Australien nicht sehr beeindruckend.

Da drei Rookies aus dem Mittelfeld gestartet sind, habe ich für die erste Kurve ein Feuerwerk erwartet. Zu einem gewissen Grad haben wir das auch gesehen, aber dadurch und dem anschließenden Ausfall von Romain Grosjean in der Safety-Car-Phase, waren es nur noch 13 Autos. Man muss den drei Rookies Lob aussprechen. Vielleicht sollte man eine Altersbegrenzung nach oben statt nach unten einführen?

Als zu Beginn des Rennens der Wettbewerb am härtesten war, fuhr Felipe Nasr auf Platz fünf und hielt Daniel Ricciardo und Kimi Räikkönen in Schach. Als die Kameras auf ihn gerichtet waren, fuhr Nasr wir ein absoluter Profi. Sein fünfter Platz hat ihn zum Rookie des Wochenendes gemacht. Er war einer der Stars des gesamten Wochenendes.


Fotostrecke: F1 Backstage: Melbourne

Als Team des Wochenendes würde ich auch Sauber sehen. Sie haben sich nach dem schwierigen Jahr 2014 zurückgemeldet. Noch wichtiger war die Tatsache, dass der Rechtsstreit mit Giedo van der Garde das Wochenende nicht ruiniert hat. Das Resultat sind 14 WM-Punkte, mehr als im gesamten Vorjahr.

Bevor der Toro Rosso von Max Verstappen verraucht ist, ist auch er sehr gut gefahren. Verstappen wird zwar enttäuscht sein, aber mit 17 Jahren ist er der jüngste Grand-Prix-Starter. Er hat eine vielversprechende Zukunft vor sich. Carlos Sainz hatte am Ende mit den abgefahrenen Reifen Mühe. Auf dem Weg zu Platz neun hat er aber eine gute Leistung gezeigt. Diese zwei WM-Punkte können am Saisonende entscheidend sein. Sein Vater, der zweimalige Rallye-Weltmeister, kann stolz auf ihn sein.