Formel-1-Saison 2011 im Rückspiegel: HRT

Marussia-Virgin dank Platz 13 in Kanada geschlagen, aber für das spanisch-deutsche HRT-Team war auch das zweite Jahr in der Formel 1 der reinste Überlebenskampf

(Motorsport-Total.com) - Während die Teams hinter den Kulissen längst ihren neuen Autos den letzten Feinschliff verpassen, nimmt die Redaktion von 'Motorsport-Total.com' den Jahreswechsel zum Anlass, die Formel-1-Saison 2011 noch einmal unter die Lupe zu nehmen. Unsere Experten Marc Surer und Pit Lane geben ihre Einschätzungen ab und analysieren, was falsch oder richtig gemacht wurde. Heute: HRT.

Titel-Bild zur News: Vitantonio Liuzzi

Beim Grand Prix von Kanada sicherte sich HRT das beste Saisonergebnis

Obwohl der spanisch-deutsche Rennstall auch in seinem zweiten Jahr in der subjektiven Wahrnehmung vieler Experten das kleinste, ärmste und schlechteste Team in der Königsklasse war, gelang es HRT wie schon 2010, nicht Letzter zu werden und sich zwischen Lotus und Marussia-Virgin auf Platz elf der Konstrukteurs-WM einzureihen. Allerdings sollte man das bei einem Dreikampf, der ohne die Vergabe von WM-Punkten entschieden wird, nicht überbewertet: "Es ist wohl mehr Zufall", analysiert Surer nüchtern.

Starker 13. Platz beim Grand Prix von Kanada

Zu verdanken dem 13. Platz von Vitantonio Liuzzi beim Grand Prix von Kanada in Montreal, der beinahe gereicht hätte, um sogar Lotus gefährlich zu werden. Denn auch Heikki Kovalainen und Jarno Trulli gelang kein einziges Mal der Sprung ins vordere Dutzend, allerdings sammelte das finnisch-italienische Duo von Tony Fernandes gleich drei 13. Plätze. Montreal war für HRT eine kleine Sternstunde, denn Platz 13 gelang nicht nur durch Zufall, sondern in einem Rennen, in dem insgesamt 18 Fahrer in die Wertung kamen.

Vitantonio Liuzzi

In Melbourne begann für HRT das Wochenende praktisch mit dem Qualifying Zoom

Ansonsten ist es freilich müßig, die HRT-Saison 2011 aus sportlicher Sicht zu analysieren, schließlich stand jeder einzelne Tag ganz im Zeichen eines ständigen Überlebenskampfes. Umso bemerkenswerter, dass die 107-Prozent-Hürde nur beim Saisonauftakt im australischen Melbourne klar verpasst wurde, dann aber nur noch selten zum unüberwindbaren Hindernis wurde. "Sie waren das einzige Team, das kein neues Auto hatte - sie haben nur das alte Chassis modifiziert", sagt Surer. "So gesehen ist es schon eine Leistung, das sie ein relativ gut funktionierendes Auto hatten."

"Das Hauptproblem bei diesem Team ist ganz einfach das Eigentümerproblem, denn wenn das Geld nicht fließt und du nicht entwickeln kannst, kommst du eben nicht voran", fährt der ehemalige Grand-Prix-Pilot fort. "Ich habe mich darüber oft mit Geoff Willis unterhalten. Er hatte so viele Ideen, die er alle nicht umsetzen konnte, weil die Gelder gefehlt haben. Da ging es manchmal um ganz kleine Beträge. Wenn sie nochmal 200.000 Euro für einen Windkanaltest gebraucht hätten, ging das nicht. So kann man nicht Formel 1 machen."

Erst Willis, dann die Carabantes, dann Kolles

Von dieser Situation entnervt, gingen Willis und HRT ab Saisonmitte getrennte Wege. Teamchef Colin Kolles warf dem Briten vor, den Auftrag, bei Mercedes in Brackley ein zweites Standbein neben der Kolles-Fabrik im deutschen Greding aufzubauen, nicht erfüllt zu haben. Trotzdem hält sich Willis seither viel in Brackley auf: Als neuer Mitarbeiter des Mercedes-Werksteams kann er ähnlich wie früher bei Honda oder später bei Red Bull wieder aus dem Vollen schöpfen...

Bei HRT begann indes der große Umbruch: Erst warf die spanische Carabante-Familie, die den Rennstall Anfang 2010 aus den Überresten des gescheiterten Campos-Projekts gemeinsam mit Kolles gerettet hatte, das Handtuch - sie verkaufte an die spanische Investmentgruppe Thesan Capital. Wenig später war dann auch Kolles selbst weg. Der deutsche Überlebenskünstler hatte die Nase voll davon, dass Fehlentscheidungen über seinen Kopf hinweg getroffen wurden, und war auch mit der Verpflichtung von Pedro de la Rosa nicht einverstanden.

Nun steht HRT vor dem Nichts - das Team logiert in einem ehemaligen Modegeschäft in Madrid, diverse Mitarbeiter sind bei Kolles in Deutschland geblieben. Wie es Kolles-Nachfolger Luis Perez-Sala und seinen Mitstreitern gelingen soll, ohne jede Infrastruktur am Leben zu bleiben, ist vielen ein Rätsel. Immerhin soll aber der bisher bestehende Grundstock des neuen Autos, entstanden noch unter Kolles-Regie, recht anständige Daten liefern.

¿pbvin|512|4295||0|1pb¿"Zumindest geht es mit dem Team weiter, aber ob der neue Besitzer viel besser ist? Zumindest hat er ein klares Konzept, denn er will ein spanisches Team. Das finde ich positiv", analysiert Experte Surer, "denn was wäre sonst die Daseinsberechtigung für so ein Team, wenn man einfach das macht, was alle anderen machen? So ist es ein spanisches Team und man kann spanische Nachwuchsfahrer reinsetzen. So gesehen gibt es jetzt zumindest ein bisschen ein Konzept."

Für Kolles empfindet er nichts anderes als Bewunderung: "Jeder andere hätte den Bettel hingeschmissen. Dass er es überhaupt durchgestanden hat, so lange mit diesen Leuten zu verhandeln, dieser ewige Kampf, das ist schon bewundernswert. Er hat dem Team überhaupt eine Basis gegeben, denn die hatten nichts. So konnten sie es bei ihm zu Hause machen, mit seinen Möglichkeiten und seinen Mechanikern - bei HRT sprach ja alles Deutsch. Das ist alles Kolles zu verdanken."

Keine guten Aussichten für 2012

"Deswegen werden sie sich im nächsten Jahr schwer tun", vermutet Surer und begründet: "Ein Team, das ganz sicher hinten sein wird, ist HRT. Die haben sich verschlechtert. Auf der anderen Seite: Ob du jetzt Letzter oder Vorletzter bist, ist ziemlich egal, aber ein Team muss eine Story haben. Die Story wäre jetzt die spanische Connection. Somit macht das irgendwie noch Sinn, somit haben sie eine gewisse Daseinsberechtigung."

Mit Altstar de la Rosa steht ein Spanier für 2012 schon fest, Jaime Alguersuari könnte der zweite werden. Vielleicht läuft dafür sogar die Zusammenarbeit mit Red Bull weiter, denn Juniorteam-Chef Helmut Marko hatte 2011 ab Silverstone schon Daniel Ricciardo bei HRT eingekauft. Aber während Alguersuari die Zukunft noch vor sich hat, steht de la Rosa höchstens vor seinem x-ten Comeback. Surer versteht die Motivation dahinter: "Einen Formel 1 zu fahren, ist immer noch das Geilste, was es gibt auf dieser Welt. Also macht er das jetzt - auch wenn er weiß, dass er wahrscheinlich um den vorletzten Platz kämpfen wird."

¿pbvin|512|4293||0|1pb¿"Man fragt sich natürlich, warum sich Pedro das antut, im schlechtesten Auto des Feldes zu sitzen. Auf der anderen Seite ist er einfach geil aufs Fahren - und das kann ich verstehen. Heutzutage ist ja ein Testfahrer nichts mehr wert", erklärt der 'Motorsport-Total.com'-Experte. "Was hat er denn gemacht? Er ist irgendwelche Demorunden gefahren, hat Burnouts hingelegt - das war alles. Wenn er nicht ein Rennen für Sauber gefahren wäre, hätte er ja gar nichts getan." Denn: "Im Simulator kann jeder sitzen..."

Wer HRT 2011 beobachtet hat, der hat wahrscheinlich in erster Linie auf das teaminterne Stallduell geachtet. Narain Karthikeyan sah gegen Liuzzi erwartungsgemäß kein Land, überraschend kam aber, dass auch Red-Bull-Junior Ricciardo Schwierigkeiten mit dem Italiener hatte. Erst nach und nach kam Ricciardo besser in Schuss und drehte das Stallduell - und löste damit sein Ticket zu Toro Rosso nach Faenza, wo er Alguersuari beerben darf.

Ricciardo: Liuzzis Jungbrunnen?

Trotzdem hätte sich Surer mehr vom jungen Australier erwartet: "Ricciardo hat mich eher enttäuscht. Ich dachte, dass er Liuzzi locker im Griff haben würde, weil Liuzzi für mich kein Überflieger ist", sagt der Schweizer. "Die Wahrheit wahr wohl, dass Liuzzi plötzlich gemerkt hat, dass seine Tage in der Formel 1 gezählt sind, dass er aber noch im Gespräch bleibt, wenn er Ricciardo schlägt. Also hat er sich richtig Mühe gegeben - für mich übrigens das Hauptproblem, wenn du so weit hinten fährst: die Motivation zu haben."

Daniel Ricciardo

Daniel Ricciardo tat sich gegen Vitantonio Liuzzi erstaunlich schwer Zoom

"Das hat ihm offenbar neue Motivation gegeben, und deshalb hat sich Ricciardo gegen ihn sehr schwer getan, was mich sehr, sehr überrascht hat", so Surer. Immerhin war Ricciardo der Überflieger der Young-Driver-Tests in Abu Dhabi 2010, wo er ein paar Tage nach dem WM-Finale sogar schneller war als Weltmeister Sebastian Vettel am Rennwochenende - nicht unter gleichen Bedingungen, aber doch eine Duftmarke, die sich bei den Experten eingeprägt hat.

"Normalerweise müsste einer, der mit dem Red Bull schneller fährt als Vettel, Liuzzi locker im Griff haben. Das war aber nicht der Fall", wundert sich Surer über die Schwierigkeiten des 22-Jährigen. "Das zeigt wieder einmal, was das für ein Job sein muss, wenn du erst ein gutes Auto testen darfst und dann in ein Auto einsteigst, mit dem nichts geht. Das ist ein Schock für jeden Fahrer - und ich glaube, das hat Ricciardo jetzt lernen müssen."

Pit Lane

Daumen hoch für einen Deutschen: Für Pit Lane ist Kolles bei HRT Man of the Year Zoom

Pit Lane über HRT:

Saisonstatistik:

Link: HRT in der großen Formel-1-Datenbank

Team:

Konstrukteurswertung: 11. (0 Punkte)
Siege: 0
Pole-Positions: 0
Schnellste Rennrunden: 0
Podestplätze: 0
Ausfallsrate: 25,0 Prozent (12.)
Durchschnittlicher Startplatz: 22,5 (12.)

Qualifyingduelle:

Karthikeyan vs. Liuzzi: 1:7
Ricciardo vs. Liuzzi: 4:6
Karthikeyan vs. Ricciardo: 1:0

Narain Karthikeyan (Startnummer 22):

Fahrerwertung: 26. (0 Punkte)
Gefahrene Rennen: 8/19
Siege: 0
Podestplätze: 0
Pole-Positions: 0
Schnellste Rennrunden: 0
Durchschnittlicher Startplatz: 23,0 (28.)
Bester Startplatz: 22.
Bestes Rennergebnis: 17.
Ausfallsrate: 12,5 Prozent (8.)

Vitantonio Liuzzi (Startnummer 23):

Fahrerwertung: 23. (0 Punkte)
Gefahrene Rennen: 17/19
Siege: 0
Podestplätze: 0
Pole-Positions: 0
Schnellste Rennrunden: 0
Durchschnittlicher Startplatz: 22,3 (26.)
Bester Startplatz: 20.
Bestes Rennergebnis: 13.
Ausfallsrate: 29,4 Prozent (24.)

Daniel Ricciardo (Startnummer 22 & 23):

Fahrerwertung: 27. (0 Punkte)
Gefahrene Rennen: 11/19
Siege: 0
Podestplätze: 0
Pole-Positions: 0
Schnellste Rennrunden: 0
Durchschnittlicher Startplatz: 22,5 (27.)
Bester Startplatz: 20.
Bestes Rennergebnis: 18.
Ausfallsrate: 27,3 Prozent (21.)