Formel-1-Countdown 2010: Virgin

Last Exit Virgin: Was sich Timo Glock vom CFD-Projekt von Nick Wirth erhofft und welche Erwartungen Hauptinvestor Richard Branson hat

(Motorsport-Total.com) - Am Sonntag beginnt in Manama (Bahrain) die neue Formel-1-Saison - und die Königsklasse birgt dieses Jahr so viel Spannung wie schon lange nicht mehr: Vier Weltmeister, sensationelle Comebacks und klingende Namen lassen jedes Racingherz höher schlagen. 'Motorsport-Total.com' nimmt vor dem Auftaktrennen wie jedes Jahr alle Teams genau unter die Lupe. Heute zum Abschluss: Virgin.

Titel-Bild zur News: Virgin-Cosworth VR-01

Diese "Jungfrau" soll Timo Glocks Karriere wieder in Schwung bringen

Würde man den Teamnamen aus dem Englischen ins Deutsche übersetzen, es würde "Jungfrau" dabei herauskommen - damit schlägt Virgin wahrscheinlich noch die Geschlechtsumwandlungs-Therapie namens HRT! Tatsächlich wirkte Virgin bei den Wintertestfahrten noch ein wenig "jungfräulich", als der Cosworth-befeuerte VR-01 meistens mit Hydraulikproblemen an der Box stand, anstatt die zwölf Testtage produktiv zu nutzen.#w1#

Nur HRT hat weniger Testkilometer

Schwierigkeiten bereitete wie auch bei den anderen Cosworth-Teams die Anbindung des Xtrac-Getriebes. Trotzdem schafften Timo Glock und Lucas di Grassi immerhin mehr als 1.500 Testkilometer, was fünf Renndistanzen entspricht. Das ist für einen neuen Rennstall keine optimale Vorbereitung, aber Virgin ist damit besser dran als HRT, wo der Cosworth-Motor im Dallara-Chassis erst Stunden vor Trainingsbeginn erstmals gezündet werden konnte.

Mit einem durchschnittlichen Rückstand von knapp acht Sekunden war Virgin im Winter auch um zwei Sekunden langsamer als Lotus und damit natürlich das klare Schlusslicht - nur gut, dass es die 107-Prozent-Regel nicht mehr gibt. Aber für Glock, der im Vorjahr in Bahrain aus der ersten Reihe starten durfte und den Grand Prix rundenlang anführte, muss es frustrierend sein, nicht einmal zwölf Monate später die rote Laterne mit sich herumzuschleppen.

Álvaro Parente, Timo Glock, Nick Wirth, Lucas di Grassi und Luiz Razia

Coole Truppe: Das Virgin-Team beim Launch - Álvaro Parente musste gehen Zoom

"Frust ist überhaupt keiner da", dementiert der sympathische Wersauer. "Ich weiß ja, auf was ich mich eingelassen habe. Mir war klar, dass es am Anfang hart wird. Ich glaube, das Potenzial ist da, dass wir übers Jahr kleine Schritte nach vorne machen können. Ob wir Richtung Mittelfeld kommen oder in einem Chaosrennen mal einen Punkt abstauben können, das wäre ein Traum. Da müssen wir abwarten und hart arbeiten."

Virgin erinnert an den "Jordan-Spirit"

Glock hatte Ende vergangenen Jahres die Wahl, entweder zu einem etablierten Team wie Renault oder Sauber zu wechseln oder sich auf das Abenteuer Virgin einzulassen. Renault und Sauber waren damals unsichere Varianten, was den Reiz von Virgin weiter wachsen ließ. Außerdem gefiel dem Ex-Toyota-Piloten das Motorsportverständnis von Teamchef John Booth, der das Projekt als Manor initiiert hatte und später des Geldes wegen in Virgin umtaufen ließ.

¿pbvin|512|2505||0|1pb¿'Motorsport-Total.com'-Experte Marc Surer kann die Gründe verstehen, aus denen Glock der Faszination Virgin erlegen ist, meint aber auch: "Ich habe ohnehin keine bessere Möglichkeit für ihn gesehen. Bei Renault war zu dem Zeitpunkt nicht klar, ob es weitergeht - dann hätte er vielleicht gar kein Auto gehabt. Selbst Kubica hing da eine Zeit lang in der Luft. Virgin war eine Möglichkeit, um sicher in der Formel 1 zu bleiben."

Die Umstellung von einem Werksteam mit 650 Mitarbeitern auf eine Garagentruppe wie Virgin ist groß, zumal die finanziellen Ressourcen ganz andere sind. Aber Glock sieht den Wechsel nicht nur negativ: "Toyota mit damals 650 Mitarbeitern hatte ganz andere Möglichkeiten, auf Probleme zu reagieren, als wir sie jetzt haben. Bei uns dauert es vielleicht den einen oder anderen Tag länger, bis wir etwas aussortiert haben", gibt er zu.

Klein, aber oho

Allerdings fügt er an: "Der positive Punkt, den ich sehe, ist, dass wir eine kleine Truppe sind. Da sitzt abends ein harter Kern zusammen, der über Lösungen diskutiert. Die Probleme werden dann angepackt und sehr schnell behoben. Auf der materiellen Seite ist es natürlich schwieriger, weil wir nicht die Ressourcen haben, die Toyota hatte. Aber wir sind sehr, sehr flexibel und zielorientiert. Das ist das, was wir brauchen."

Dass Manor ein etabliertes Formel-3-Team war, bevor es in die Formel 1 ging, sollte die Arbeitsabläufe vereinfachen: "Das ist sicherlich das Positive an diesem Team", analysiert Surer, "denn der Ablauf an der Rennstrecke wird bestimmt hervorragend funktionieren. Das ist eine alte Truppe, die schon lange zusammenarbeitet und das tägliche Geschäft kennt. Aber davon wird das Auto weder schneller noch standfester."

John Booth und Nick Wirth

Manor-Boss und Projektgründer John Booth mit Designer Nick Wirth Zoom

Dafür ist Nick Wirth zuständig, ein erst 43-jähriger Designer, der 1994 jenen Simtek gebaut hat, in dem Roland Ratzenberger tödlich verunglückt ist. Später heuerte Wirth bei Benetton an, zuletzt entwickelte er den aerodynamisch hochgelobten Acura-Sportwagen. Das Geheimnis des Briten: Er setzt nicht auf die konventionelle Methode, Modelle im Windkanal zu erproben, sondern führt den kompletten Designprozess mit CFD-Computern durch.

CFD: Technologie der Zukunft

Ob die Zeit dafür schon reif ist, wird bezweifelt: "Ich habe früher selbst mit Nick Wirth gearbeitet", erinnert sich Surer. "Ich würde ihn nicht als Träumer bezeichnen, aber er braucht eigentlich jemanden, der ihn kontrolliert - wie es früher Pat Symonds bei Benetton war. Ich finde die Entscheidung, ohne Windkanal zu arbeiten, toll und mutig, aber es braucht für ein Formel-1-Auto nicht nur einen Mann, sondern viele Leute mit Erfahrung. Das fehlt mir bei denen."

"Dass Teile aus dem Windkanal kommen und am Auto plötzlich nicht mehr funktionieren, hat es immer schon gegeben. Wenn Teile aus diesem Simulator angebaut werden, ist die Gefahr noch viel größer, weil Einflüsse da sind, die man gar nicht eingeben kann", erklärt der ehemalige Formel-1-Pilot. "Dass es eines Tages mit einer Software, die mit viel Erfahrung entwickelt wurde, funktionieren kann, glaube ich schon. Das System ist ja clever. Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass das auf Anhieb ein konkurrenzfähiges Formel-1-Auto sein wird."

Timo Glock

Der Virgin-Cosworth VR-01 verfügt über einen extrem langen Radstand Zoom

Wirth verteidigt seinen Ansatz: "CFD ist ein Werkzeug, um aerodynamische Antworten zu bekommen - genau wie zum Beispiel auch ein Windkanal. Aber letztendlich hängt es von den Menschen und ihren Ideen ab, von den Formen, die sie designen." Sprich: Man soll ihm und seinen 16 Designkollegen die Schuld geben, wenn das Auto eine Gurke ist, aber nicht der CFD-Methode. Gut möglich, dass ihm das am Jahresende auf den Kopf fallen wird...

Entwicklungsgeschwindigkeit als Vorteil?

Doch auch wenn die Basis mit dem VR-01 im Moment schlecht ist, hat Virgin dank CFD das Potenzial, schnell Fortschritte zu machen. Denn während die anderen Teams jeden neuen Flügel erst als Modell bauen, in den Windkanal stellen und dann produzieren müssen, kann Virgin im begehbaren Simulator in Bicester Änderungen in Echtzeit testen. Auf diese Weise wird eine Menge Zeit und Geld gespart. Die Frage ist, ob die CFD-Daten dann auch zuverlässig sind und sich im Praxisbetrieb auf der Strecke als korrekt erweisen.

Mulmig wurde den Fahrern auch, als sich bei den Testfahrten in Jerez de la Frontera aus heiterem Himmel der Frontflügel selbstständig machte - da wurden böse Erinnerungen an Imola 1994 wach. Doch das Team gibt an, die ärgsten Kinderkrankheiten inzwischen im Griff zu haben. Das erklärte Ziel für das erste Rennen ist, die komplette Distanz zu überstehen, um möglichst viele Erfahrungswerte zu sammeln.

Timo Glock

Flügel weg: Ein Zuverlässigkeitswunder war Virgin bisher noch nicht... Zoom

Das gilt ganz besonders für Glocks Stallgefährten Lucas di Grassi, der 2007 in der GP2 der große Titelkonkurrent des Deutschen war. Di Grassi war in den vergangenen Jahren jeweils einer der Spitzenfahrer in der GP2 und schien längst reif für den Sprung in die Formel 1. Von den meisten Experten wird er jedoch als Nummer zwei eingeschätzt. Auch die Testfahrer Andy Soucek und Luiz Razia sind Formel-1-Neulinge.

Branson: Erst die Formel 1, dann das Weltall

Übrigens: Hinter Virgin steht als Investor niemand Geringerer als Richard Branson. Der Milliardär, der in Zukunft das Weltall erobern will, war im Vorjahr noch Sponsor bei Weltmeister Brawn. "Wir ziehen es vor", so Branson, "ein kleines Team beim Aufbau zu unterstützen, anstatt für ein etabliertes Team einfach nur einen Scheck auszufüllen. Wir erwarten zunächst keine Siege, aber das Team wird alles daran setzen, sich schnell zu verbessern. Vielleicht werden wir das erste Jahr in der hinteren Hälfte sein, im zweiten vielleicht schon in der vorderen und im dritten in den Top 5."

Sein Hauptziel für 2010 ist, das Lotus-Team zu besiegen, denn dort ist Tony Fernandes Teamchef, ein alter Bekannter. Branson wie auch Fernandes betreiben eine Airline - und die beiden haben sich auf eine Wette eingelassen: Derjenige, dessen Team 2010 schlechter abschneidet, arbeitet einen Tag lang als Stewardess für die Airline des Siegers! Bransons erster Kommentar war: "Da müssen wir für Tony eine nuttige Uniform suchen!"

Virgin-Cosworth VR-01

Zumindest mit der Lackierung hat Virgin schon voll ins Schwarze getroffen Zoom

"Im Ernst: Es gibt eine tolle, freundschaftliche Rivalität zwischen uns. Es ist einfach nur ein Spaß", schmunzelt der Virgin-Konzernchef. "Tony hat vor Jahren mit mir zusammen bei Virgin gearbeitet, als ich vor vielen Jahren die Plattenfirma hatte. Alles, was er weiß, hat er von mir gelernt. Er hat AirAsia aufgebaut und uns nun sozusagen den Fehdehandschuh hingeworfen. Wir werden einen kleinen Kampf und viel Spaß am Ende der Startaufstellung haben!"


Fotos: Virgin, Testfahrten in Barcelona


Saisonstatistik 2009:

Team:

Konstrukteurswertung: -
Siege: -
Pole-Positions: -
Schnellste Rennrunden: -
Podestplätze: -
Ausfallsrate: -
Durchschnittlicher Startplatz: -
Testkilometer 2010: 1.782 (11.)
Testbestzeiten 2010: 0 (8.)

Qualifyingduelle:

Glock vs. Trulli: 4:11

Timo Glock (Startnummer 24):

Fahrerwertung: 10. (24 Punkte)
Gefahrene Rennen: 14/17
Siege: 0
Podestplätze: 2
Pole-Positions: 0
Schnellste Rennrunden: 1
Durchschnittlicher Startplatz: 12,3 (16.)
Bester Startplatz: 2.
Bestes Rennergebnis: 2.
Ausfallsrate: 0,0 Prozent (1.)
Testkilometer 2010: 944 (20.)
Testbestzeiten 2010: 0 (12.)

Lucas di Grassi (Startnummer 25):

Fahrerwertung: -
Gefahrene Rennen: -
Siege: -
Podestplätze: -
Pole-Positions: -
Schnellste Rennrunden: -
Durchschnittlicher Startplatz: -
Bester Startplatz: -
Bestes Rennergebnis: -
Ausfallsrate: 0,0 Prozent -
Testkilometer 2010: 837 (21.)
Testbestzeiten 2010: 0 (12.)