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"Eine Frage, Mister Anderson!": Ein Experte erklärt die Technik
Ex-Formel-1-Designer Gary Anderson über Ferraris Weigerung, sich an die eigene Nase zu packen, Hungerhaken als Risikofaktor und Duschen mit James Hunt
(Motorsport-Total.com) - Die neue Formel-1-Saison wird nach der großen Reglementnovelle dominiert von Technikfragen. Warum hat Mercedes im Winter ein Wunderauto auf die Beine gestellt und wieso läuft Ferrari, ebenfalls ein Werksteam, seiner Form chronisch hinter? Gary Anderson, früher Chefmechaniker bei McLaren, Designer bei Jordan, Stewart sowie Jaguar und heute TV-Experte der 'BBC' hat seine Meinung - und äußerst sie auch klar, wenn es um Radikaldiäten, die Sounddebatte und hässliche Nasen geht.

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Fernando Alonso und Kimi Räikkönen haben derzeit ein echtes Gurkenauto Zoom
Chris Patajac (Facebook): "Was ist los bei Ferrari? In den vergangenen Jahren haben sie immer den Windkanal für ihre Probleme verantwortlich gemacht. Mit den neuen Regeln, darunter auch ein neuer Motor, sind sie weiter in Schwierigkeiten. Sollten Stefano Domenicali vor die Tür gesetzt werden? Vielleicht braucht es einen Mann wie Ron Dennis."
Gary Anderson: "Chris, es sieht so aus, als hätte deine Frage etwas bewegt in Maranello. Nachdem du sie gestellt hast, ist Domenciali gegangen.
"Sein Job war bestimmt nicht einfach. Wenn man als Italiener unter Luca di Montezemolo arbeitet, ist das Leben sehr hart. Vielleicht war ein einfach ein zu netter Kerl. Ferrari sollte sich ansehen, warum Jean Todt einen so guten Job gemacht hat. Er war kein Italiener und stand nicht unter dem Einfluss politischer Begleitumstände. Einer von dieser Sorte würde nicht schaden und dann gibt es weiter Ross Brawn. Er hat mittlerweile sicher genug geangelt... "
Ist bei Ferrari immer jemand anderes der Schuldige?
"Du hast es selbst zusammengefasst: Ferrari alles und jeden immer wieder verantwortlich gemacht, sich aber nie selbst hinterfragt. Das macht es schwierig, weiterzuarbeiten. Sie müssen damit aufhören, die politische Karte zu spielen. Die Formel 1 ist für niemanden einfach und es braucht einen Teamchef mit der Fähigkeit, die eigene Position zu bestimmen, Schwächen zu identifizieren und der Autorität, Personal einzustellen und zu entlassen. Das ist eine Grundbedingung für den Erfolg."
"Ein Ferrari-Mann auf Lebenszeit wurde mit Also Costa gefeuert. Jetzt arbeitet er bei Mercedes und zeichnet für das Chassis verantwortlich, das die Meisterschaft anführt. In Bahrain stand er auf dem Podium und holte stolz den Pokal für den siegreichen Konstrukteur ab. Wenn die neuen Regeln keine neue Motorenformel vorgesehen hätten, dann hätte Ferrari sicher ganze Arbeit geleistet. Leider gab es auch einen 1,6-Liter-V6-Motor mit Turbolader, Benzin- und Durchfluss-Begrenzung sowie ERS. Für Ferrari ist das Neuland."
Rob Halls (Facebook): "Warum ist Mercedes allen anderen so weit voraus? Hat Ross Brawn einfach den Unterschied gemacht ist der Grund viel tiefer im Design des Autos zu suchen?"
Anderson: "Mercedes hatte 2013 eine gute Saison, aber wirklich erwachsen geworden sind sie erst in diesem Jahr. Das, so glaube ich, ist das Resultat dessen, was Ross Brawn aufzubauen versuchte. Brawn holte viel hoch bezahltes Personal in ein Team, das schon fähige Leute hatte. Alle Neuzgänge waren zuvor Technikchefs bei anderen Teams. Bob Bell, der jetzt geht, Geoff Willis und Aldo Costa sind kompetente Ingenieure, aber sie brauchten ihre Zeit, um sich zurechtzufinden und sich in den Personalstamm zu integrieren."
Alles aus einem Guss bei Silber

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Mercedes scheint sich zur Zeit nur selbst noch schlagen zu können Zoom
"Die Besten setzen sich durch, aber zuvor braucht es etwas Unkraut Jäten. Läuft das richtig, bleiben eine starke Struktur und motivierte Leute zurück. Mercedes ist ein Werksteam, das Chassis und Antriebsstrang baut. Das hat zur Folge, dass alle Systeme integriert werden und das Auto ständig optimiert wird. McLaren bezieht ein Paket, das Mercedes gestaltet hat und muss es nutzen, so gut es geht. Noch wichtiger ist, dass sie offenbar anders arbeiten wollen. Sie glauben an flache Personalstrukturen, es gibt keine individuelle Führung. Die große Frage ist: Ist das richtig oder falsch? Betrachtet man die Leistungen, als John Barnard oder Adrian Newey an Bord waren, dann denke ich, dass jedes Schiff einen Kapitän braucht."
Craig Harper (Twitter): "Gary, kannst du erklären, warum der Mercedes klingt wie eine fahrende Big Band klingt, während sich Ferrari und die anderen eher durch durchschnittlich anhören?
Anderson: "Ich muss gestehen, dass mir das nicht wirklich aufgefallen ist. Der Mercedes klingt im Qualifying und im Rennen ganz unterschiedlich, aber ich hatte immer das Gefühl, das hinge mit dem Mapping des Drehmoments zusammen, das für neue und gebrauchte Reifen angepasst wird. Ich bin kein Motorenexperte. Aber um einen Hersteller davon abzuhalten, eine Geheimwaffe in den Regeln zu finden, muss man zwei Pleuelstangen an den Kurbelwellenzapfen montieren. Vielleicht gäbe es sogar dann eine andere Zündreihenfolge."
"Mercedes scheint den Antriebsstrang als ein System begriffen zu haben und hat ein Paket, um das höchste Drehmoment herauszuholen, während Ferrari versuchte, jede einzelne Komponente zu optimieren und jetzt probiert, alle zusammen zum Funktionieren zu bringen. Der Auspuff ist ein Beispiel: Beim Ferrari sind das Haupt- und Endrohr zugunsten der Motorleistung gestaltet, obwohl der gesamte Effekt flöten geht, wenn der Turbo dranhängt."
Roy Canfield (Twitter): "Ich halte Pastor Maldonados Unfall für den Beweis, dass die neuen Nasen gefährlich sind. Was denkst du?"
Gary Anderson: "Roy, nachdem ich mir den Unfall aus diversen Perspektiven angesehen habe, halte ich Kontakt zwischen den Reifen für den Grund, dass sich Esteban Gutierrez überschlagen hat. Bei einem Auto mit freistehenden Reifen gehört das zu den Dingen, die sich nicht verhindern lassen. Ich will die Chance nutzen und der FIA sowie allen Teams zu gratulieren, dass die seit dem Unfall Ayrton Sennas in Imola 1994 die Sicherheit massiv gefördert haben."
Bei jedem Start droht ein Horrorszenario
"Trotzdem bin ich kein Freund der neuen, tiefen Nasen. Es wurde gemacht, um das Risiko eines Aushebelns bei Kontakt von Nase und Hinterreifen zu verhindern - ähnlich dem Vorfall um Mark Webber in Valencia 2010. Es bleibt ein Einzelfall und für mich ist das größte Risiko, dass ein Auto am Start stehenbleibt und jemand mit verhinderter Sicht ins Heck kracht. Das hätte schwerwiegende Konsequenzen. Die tiefe Nase gräbt sich eher unter die hintere Crashstruktur. Sie, die Vorder- und die Hinterachse haben die gleiche Höhe um die 300 Millimeter. Dort hätte die Crashstruktur an der Nase liegen sollen - dann hätten die Autos auch nicht so dämlich ausgesehen."
David McDonagh (Facebook): "Was hältst du davon, dass Jean Todt Extremdiäten als problemlos bezeichnet? Sollte das Mindestgewicht deshalb nicht erhöht werden?"
Anderson: "Wenn Jean Todt damit glücklich ist, schwerere Piloten durch die Hölle zu schicken, um ein paar Kilogramm zu verlieren, dann soll er die Karten auf den Tisch legen. Ich bin nicht dieser Meinung. Einige Rennen können extrem fordernd sein, zum Beispiel Ungarn an einem heißen Tag. Ich habe Piloten aussteigen sehen, die kaum noch stehen konnten."
"In den späten Siebzigerjahren hatte ich in Rio bei McLaren die Aufgabe, unsere Fahrer mit einem Eimer kaltem Wasser zu überschütten, wenn sie in die Boxengasse kamen. James Hunt war da und ich erledigte pflichtgemäß meine Arbeit, aber der andere Fahrer, Patrick Tambay, kam nicht zum Stopp. Er wurde wegen der Hitze ohnmächtig und flog ab."
Hungerproblem wäre rasend schnell gelöst
"Das Gewichtsproblem ist einfach zu lösen und hätte ausgeräumt sein sollen, ehe die Saison überhaupt begann. Das Autogewicht mit Fahrer sollte bei 690 Kilogramm bleiben und ein Ballastbereich auf halber Höhe des Sitzes eingeführt werden. So wäre der Schwerpunkt eines Zusatzgewichts genau dort, wo auch der des Piloten liegt. Das würde jeden möglichen Vorteil, einen leichten und kleinen Fahrer anzuheuern, eliminieren."

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Zu Zeiten von James Hunt waren die Piloten noch körperliche Schwerarbeiter Zoom
"Man wiegt die Piloten, nimmt den zweischwersten und jeden leichteren - dann muss der Ballast entsprechend platziert werden. Es könnte aus Sicherheitsgründen schon jetzt geschehen, aber zu Jean Todt muss das durchsacken. Er glaubt nicht an ein Sicherheitsproblem. Definitionsgemäß sind die leichteren Fahrer die kleineren, also gibt es viel Raum für Ballast."
Jonathon Klein (Twitter): "Denkst du, dass der Motorsound bis zum Jahresende noch angepasst wird?"
Anderson: "Jonathon, es wird sehr schwierig, etwas zu unternehmen, weil alle drei aktuellen Hersteller und sogar Honda zustimmen müssten. Wenn etwas möglich ist, dann beeinflusst es fraglos die Leistung oder es wäre künstlich - das ließe die Formel 1 einfach dumm aussehen. Die Zeit wird zeigen, ob die FIA auf den 'Konsumenten' hört. Sie weiß, dass die Geräuschkulisse besser sein könnte und wird etwas unternehmen."
@ThisF1Kid (Twitter): "Was kann Force India bis zum Saisonende leisten?"
Anderson: "Wenn ich als ursprünglicher Technikdirektor des Teams in der Saison 1991 spreche, hoffe ich, dass sie unter den Top 4 der Konstrukteurs-WM landen. Seitdem das Team Jordan hieß gab es viele verschiedene Besitzer. Sie haben aber weiter viele talentierte Ex-Jordan-Mitarbeiter. Jetzt gibt es Stabilität und einen Eigner mit Perspektive. Das ist langfristig sehr wichtig. Trotzdem wird es nicht einfach, denn Force India hat zum Start von den Problemen der anderen profitiert. Das Auto ist gut, Sergio Perez und Nico Hülkenberg werden sich und das Team auf ein neues Niveau treiben."
Kein Limit - und das Sparen wäre schwieriger

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Kann sich Force India tatsächlich an der Spitze etablieren? Zoom
Tim van Wesemael (Facebook): "Warum fahren alle Teams mit so niedriger Drehzahl? Sie kommen kaum über 12.000 Umdrehungen pro Minute. Wäre der Unterschied bei Leistung, Verbrauch und Sound groß?"
Anderson: "Es liegt an der Benzin-Durchflussrate, nicht am Spritlimit. Mit maximal 100 Kilogramm pro Stunde wäre es Zeitverschwendung, noch höher zu drehen, weil man ständig den Turboeffekt mindern würde, um die Grenzen zu bleiben - ohne dabei an Leistung zu gewinnen."
"Wenn der Durchfluss nicht reguliert werden würde, würden die Teams 15.000 Umdrehungen pro Minute nutzen und den Turboeffekt im Qualifying variieren, wenn der Verbrauch kein Problem ist. Der Sound wäre etwas besser, speziell in der zweiten Hälfte langer Geraden. Weil der Turbo aber wie ein Schalldämpfer wirkt, wäre die Verbesserung nicht groß. Interessant wäre: Wenn das 100-Kilogramm-Spritlimit fällt, wäre das Sparen viel schwieriger und die Teams würden ganz unterschiedliche Strategien verwenden."

