Das große Interview mit Jean Todt
Jean Todt enthüllt, dass sein Rücktritt von langer Hand geplant war, spricht über seine Motive und Höhen und Tiefen einer bewegten Karriere
(Motorsport-Total.com) - Dass Jean Todt an diesem Wochenende in Malaysia ist, ausgerechnet nach der Ferrari-Pleite von Australien, ist für die Gazetten natürlich gefundenes Fressen: Der "Napoleon" kehrt zurück, hieß es, um seinen dilettantischen Nachfolgern auf die Sprünge zu helfen. Natürlich völliger Unsinn. Das wurde spätestens klar, als er heute nach dem Qualifying vor die Presse trat.

© Ferrari
Jean Todt hielt heute in Sepang eine sehr emotionelle Pressekonferenz ab
Der Franzose, der mit der malaysischen Schauspielerin Michelle Yeoh liiert ist und daher einen besonderen Bezug zum Land hat, will nicht als Schlaumeier in der Ferrari-Box herumgeiern, sondern seine alten Freunde besuchen - um sich zu verabschieden! Todt ist vom Tagesgeschäft zurückgetreten und nun nur noch als Vorstandsmitglied tätig, will in seinem Leben ein neues Kapitel aufschlagen. Darüber sprach er in einer emotionellen Pressekonferenz in Sepang.#w1#
Ein Leben für den Motorsport
Frage: "Jean, wie ist es, zum ersten Mal nach 15 Jahren nicht als Teamchef, sondern als Zuschauer an eine Rennstrecke zu kommen?"
Jean Todt: "Ich habe in meinem Leben schon viele Veränderungen durchgemacht. Mein Leben besteht bisher aus vier Kapiteln. Sehr bald werde ich das fünfte beginnen. Das dritte Kapitel war mein Studium. Ich habe den Rennsport und Autos von Anfang an geliebt. Als ich die Universität verlassen habe, war ich Beifahrer (in der Rallye-WM; Anm. d. Red.), und ich bin für die besten Teams der Geschichte gefahren."
"Dann wurde ich Rennleiter bei Peugeot. Wir waren in der Rallye-WM erfolgreich. Dann sind wir Langstreckenrallyes gefahren, Paris-Dakar. Wir haben sie alle gewonnen. Dann stiegen wir in den Sportwagensport ein. Das waren zwölf Jahre meines Lebens. Als ich bei den Sportwagen ausgestiegen bin, haben wir Le Mans gewonnen."
"Dann wurde ich von Ferrari engagiert. Das war immer mein Traum, denn Ferrari ist ein traumhaftes Unternehmen, das traumhafte Autos baut. Diese Verantwortung trug ich 13 Jahre lang, ehe ich erst Managing-Director und dann Geschäftsführer wurde. Mein Plan war vor vier Jahren schon, ab März 2008 nur noch im Vorstand tätig zu sein und kürzer zu treten. Es ist nicht mein Stil, im Vorhinein, währenddessen oder im Nachhinein große Bekanntgaben zu machen, sondern ich behalte so etwas für mich."
"Die Formel 1 war eine fantastische Zeit in meinem Leben und ich schätze mich deswegen als sehr privilegiert. Ich habe großartige Menschen kennen gelernt. Seit Mittwoch vergangener Woche bin ich Mitglied des Vorstands. Ich bin offizieller Berater von Präsident Luca di Montezemolo, dessen Amtszeit als Präsident der Confindustria (italienische Industriellenvereinigung; Anm. d. Red.) endet. Er wird also mehr Zeit haben, um öfter nach Maranello zu kommen. Ich werde ihn und das Team noch eine Zeit lang unterstützen, nämlich für ein bis drei Jahre."
25 Jahre voller Arbeit und Stress
"Danach werde ich die Hälfte meiner Zeit für mich haben. Das hat es in den vergangenen 25 Jahren nie gegeben. In den vergangenen 25 Jahren habe ich nicht einen einzigen Arbeitstag gefehlt. Mit meiner Freizeit werde ich ein neues Kapitel aufschlagen, professionell wie auch privat. Das ist fantastisch."
Frage: "Als Michael Schumacher nach seinem Rücktritt in Barcelona erstmals wieder in der Ferrari-Garage war, hat er gesagt, dass das ein sehr intensives Gefühl war. Ging es dir selbst heute ähnlich?"
Todt: "Ich möchte nicht für Missverständnisse sorgen. Dass ich nach dem Rennen in Australien hierher komme, könnte falsch verstanden werden. Das will ich nicht und ich werde alles unternehmen, damit es nicht dazu kommt. Ich habe mich sehr darüber gefreut, die Jungs wieder zu sehen, zu sehen, wie sie arbeiten. Ich bin sehr optimistisch für die Saison 2008, denn die Jungs haben wirklich großartige Arbeit geleistet. Was in Australien passiert ist, kann vorkommen, aber hoffen wir, dass es bei diesem einen Mal bleibt. Wir haben ein sehr gutes Paket und ich bin schon sehr gespannt auf das Rennen morgen. Ich drücke dem Team die Daumen."
Frage: "Du hast einmal gesagt, dass eine solche Veränderung in deinem Leben nicht deine Entscheidung sein könnte, sondern die eines anderen. War es deine eigene Entscheidung?"
Todt: "Das ist Unsinn. Das gehört zum Business dazu. Es kursiert so viel Unsinn. Zum Beispiel, dass ich Toro Rosso kaufen will. Gerhard Berger ist ein guter Freund, aber darüber haben wir nie gesprochen. Ich habe gehört, dass ich in Bahrain als Teameigentümer vorgestellt werden soll. Unsinn!"
"Ich bin jetzt Mitglied des Vorstands und Berater des Präsidenten. Angeblich haben wir kein gutes Verhältnis zueinander. Aber warum sollten wir das nach 15 so erfolgreichen Jahren nicht haben? Es wäre doch traurig, wenn es nicht so wäre. Wir leben in einer Welt, in der die Menschen die komplizierten Dinge lieber haben als die einfachen. Das müssen wir akzeptieren. Mir gefällt das nicht."
Perfektes Timing für den Rückzug

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Jean Todt mit seiner Lebensgefährtin, Schauspielerin Michelle Yeoh Zoom
"Um die Frage zu beantworten: Es ist meine Entscheidung. Vor zehn Jahren hätte ich sie noch nicht treffen können, denn damals wäre mein Leben und das der Menschen um mich herum noch nicht abgesichert gewesen. Aber jetzt kann ich sagen, dass der Zeitpunkt richtig ist. Vor vier Jahren habe ich mit Luca di Montezemolo beschlossen, dass ich meine Arbeit für Ferrari zu einem bestimmten Zeitpunkt beenden werde. Wenn es endgültig soweit ist, werde ich mehr Zeit für mich haben. Wenn einem eine Firma gehört, muss man sich voll dafür aufopfern. Aber vielleicht ist es mein Vorteil, dass ich nicht Eigentümer bin, weil ich so mehr Freiheiten habe."
Frage: "Du bist noch ein junger Mann und hast noch viel zu geben. Wärst du dazu bereit, in einer anderen Funktion für die FIA zu arbeiten?"
Todt: "Ich habe das gehört und weiß, dass ich es noch viele, viele Monate hören werde. Erstens: Ich bin leider nicht mehr so jung. Ich bin 62. Motiviert, ja, aber jung bin ich nicht mehr. Zum Thema FIA: Max Mosley ist ein großartiger Präsident. Ich weiß, dass er kontrovers betrachtet wird, aber in meinen Augen hat er Außergewöhnliches für den Sport geleistet. Und er ist ein Freund, jemand, den ich sehr respektiere. Er ist hingebungsvoll in seinem Job und zuverlässig und ich hoffe wirklich, dass er dem Sport noch viele, viele Jahre erhalten bleiben wird."
Frage: "Das war nicht meine Frage. Wärst du dazu bereit, für die FIA zu arbeiten?"
Todt: "Das ist das übliche Frage-und-Antwort-Spiel. Ich werde mich nicht auf Spekulationen einlassen. Ich bin kein junger Mann mehr, aber ich habe das Gefühl, dass ich noch zu jung bin, um in Rente zu gehen. Ich möchte weiterhin verschiedene Herausforderungen in meinem Leben haben. Ich hatte nie Zeit, um wirklich darüber nachzudenken, denn ich habe mich immer voll und ganz auf meine Arbeit konzentriert. Ich habe über viele Jahre hinweg 14 Stunden am Tag gearbeitet. Jetzt werde ich mit der Hälfte meiner Zeit erst einmal meine Verpflichtungen gegenüber Ferrari erfüllen, und mit der anderen Hälfte meiner Zeit werde ich andere Dinge machen."
Herzensangelegenheit: ICM-Institut in Paris
"Ich werde mich um den Bau des neuen medizinischen Instituts kümmern, der in einem Monat in Paris losgeht. In zwei Jahren wollen wir fertig sein. 25.000 Quadratmeter, acht Stockwerke, 1.000 der besten Forscher der Welt. Zufällig ist der Präsident Gérard Saillant, der im Moment Präsident der Medizinischen Kommission der FIA ist. Ich arbeite mit außergewöhnlichen Menschen zusammen. Acht von zehn Menschen werden von Krankheiten des Nervensystems betroffen sein. Daher finde ich es sehr erfüllend, zu einem solchen Projekt beitragen zu können - und natürlich auch zu einigen anderen."
Frage: "Nehmen wir mal an, dass dir der Rennsport eines Tages fehlen wird, könntest du dann verlockt sein, mit einem anderen Team als Ferrari zurückzukehren?"
Todt: "Wenn man in einer Position wie ich bei Ferrari war, dann ist das fast unmöglich. Ich habe im Motorsport schon so viel gemacht, aber es gibt nicht nur den Motorsport, sondern so viele andere Dinge auf der Welt. Ich habe gerade die Medizin erwähnt. Solchen Dingen kann man Zeit und Hingabe widmen. Es geht nur darum, dass man dazu in der Lage ist, und das bin ich heute."
Frage: "Du hast mit Michael Schumacher und Ross Brawn ein fantastisches Team aufgebaut. Machst du dir Sorgen, dass Ferrari ohne euch nicht mehr so erfolgreich sein könnte, wenn man zum Beispiel an das Rennen in Melbourne denkt?"
Todt: "Nein. Für mich steht das Wort Team für eine Gruppe von Menschen. Ich war der Anführer. Ich habe in meiner Karriere großartige Teams im Rallye- und im Sportwagensport wie in der Formel 1 aufgebaut, aber immer nur dank hervorragender Menschen, die mir dabei geholfen haben. Ich war wie Karajan - nur der Dirigent. Aber man braucht auch die Musiker, denn sonst kommt kein Ton dabei heraus."
"Was Australien angeht, war ich sehr enttäuscht, bei meinem ersten Grand Prix nach 246 Grands Prix so etwas zu erleben. Aber ich selbst habe auch solche Wochenenden gehabt. Wir wissen, dass wir ein sehr gutes Team haben, talentierte Fahrer und ein sehr gutes Auto. Wir müssen nur alle Puzzlesteine zusammenbauen, dann werden wir Rennen gewinnen. Da bin ich mir sicher. Das macht mich glücklich."
Hochdruck bis zum letzten Grand Prix
Frage: "Wie groß ist der Druck auf deinen Nachfolgern, die an deinem Erfolg gemessen werden? Ist es für sie schwierig, in deine Fußstapfen zu treten?"
Todt: "Dieses Geschäft ist hart. Es war für mich bis zum letzten Rennen in Brasilien hart. Das war natürlich ein fantastisches Rennen, aber ich war vom ersten bis zum letzten Rennen motiviert. Natürlich wird es hart für meine Nachfolger, aber Ferrari ist etwas ganz Besonderes. Die Formel 1 ist eine harte Welt und Ferrari steht im Mittelpunkt. Das ist der Preis, den man in Kauf nehmen muss, aber wenn man erfolgreich ist, ist der Lohn umso schöner. Unterm Strich stimmt die Balance."
Frage: "Was waren in deiner Zeit als Teamchef die schönsten Triumphe und die größten Herausforderungen?"
Todt: "Es gab viele schwierige Herausforderungen. Der Aufbau des Teams zwischen Juli 1993 und 1999. In diesen Jahren sind wir nicht Weltmeister geworden. Wir waren 1997 nahe dran, dann das tragische Ende zwischen Michael und Villeneuve. 1998 haben wir den Titel wieder im letzten Rennen verloren. 1999 hatte Michael den Unfall."
"Das Gute war, dass wir Leute hatten, die immer noch geglaubt haben, dass wir es schaffen können. Sie hatten Recht, aber das war eine sehr schwierige Zeit. Jedes Jahr war auf seine Weise schwierig, ich denke zum Beispiel an 2005. 2006 war kein einfaches Jahr, aber wir waren sehr konkurrenzfähig. Seit 1999 haben wir in jedem Jahr außer 2005 den Titel gewonnen oder erst im letzten Rennen verloren. Es war immer enorm anspruchsvoll, dieses Niveau zu halten, denn selbst oder gerade wenn man ganz oben ist, kann man sehr schnell fallen."
Ein Freund für Stefano Domenicali

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Jean Todt mit seinem Nachfolger als Teamchef, Stefano Domenicali Zoom
Frage: "Du kennst deinen Nachfolger Stefano Domenicali seit vielen Jahren. Hast du ihm Ratschläge gegeben, wie er das Team leiten soll?"
Todt: "Es wäre vermessen, von Ratschlägen zu sprechen, aber wir haben vorhin über Druck gesprochen. Da ist es wichtig, jemanden zu haben, den man mag und dem man vertrauen kann, dem man seine Emotionen, Ängste und Zweifel anvertraut. Manchmal nörgeln Menschen, die eine Sache verlassen, an ihren Nachfolgern herum, aber das ist nicht mein Stil. Mein Stil ist, sie zu unterstützen und ihnen zu helfen, wenn sie es brauchen."
Frage: "Wo siehst du in den nächsten Jahren die größten Herausforderungen für die Formel 1?"
Todt: "Die Kosten in der Formel 1 sind sehr hoch. Die Kosten in der Formel 1 müssen in den nächsten Jahren gesenkt werden. Die Kostenexplosion konnte in den vergangenen drei oder vier Jahren gestoppt werden, aber es ist immer noch zu teuer. Max arbeitet mit Unterstützung der Teams sehr hart an dieser Frage. Ich denke, das ist eine große Herausforderung. Und dann müssen auch die Regeln den Gegebenheiten angepasst werden, denn einige neue Regeln haben nicht die Resultate gebracht, die man sich von ihnen versprochen hat. Ich glaube aber, es geht in die richtige Richtung."
Frage: "Und was sind die größten Herausforderungen für Ferrari?"
Todt: "Ferrari ist ein sehr gesundes Unternehmen, was die Einnahmen angeht. Wir haben sehr starke Sponsoren. Wir machen keine Werbung für unsere Straßenautos. Ich denke, dass die Formel 1 für Ferrari ein Geschäft sein sollte. Daher wünsche ich mir geringere Kosten. Aber es ist auch so eine sehr gute Situation."

