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  • 09.06.2022 10:51

  • von Adam Cooper, Übersetzung: Stefan Ehlen

Budgetobergrenze: Ein Verstoß könnte sogar die Formel-1-WM entscheiden!

Könnte ein Verstoß gegen die Budgetobergrenze die Formel-1-Weltmeisterschaft 2022 entscheiden, weil ein Team in der Saison zu hohe Ausgaben hatte?

(Motorsport-Total.com) - Theoretisch könnte das Finanzielle Reglement der Formel 1 über den Ausgang der Weltmeisterschaft entscheiden. Dann nämlich, wenn ein Team gegen die strengen Auflagen der Budget-Obergrenze verstößt und zu viel Geld ausgibt. Und ein solches Szenario ist zumindest laut Aussagen einiger Teamchefs eher wahrscheinlich.

Titel-Bild zur News: Zwei Masterminds in der Formel 1: Adrian Newey und Christian Horner von Red Bull

Zwei Masterminds in der Formel 1: Adrian Newey und Christian Horner von Red Bull Zoom

Aber: Bislang weiß niemand, welche der möglichen Strafen im Fall eines Regelverstoßes tatsächlich ausgesprochen werden. Denn Präzedenzfälle gibt es noch nicht.

Das Finanzielle Reglement listet allerdings eine Vielzahl an denkbaren Verstößen auf, die meisten davon für zu spät eingereichte Dokumente oder für den Versuch, die "Cost Cap Administration" (CCA), die "Budget-Polizei" der Formel 1, in die Irre zu führen.

Der erste Verstoß gegen die Budgetobergrenze: Williams

Nun ist es zu einem ersten solchen Verstoß gekommen, wenn auch zu einem kleinen: Formel-1-Team Williams ist mit einer Geldstrafe in Höhe von 25.000 US-Dollar (umgerechnet etwa 23.300 Euro) belegt worden. Denn Williams hatte seine Budgetdaten für die Saison 2021 nicht fristgerecht zum 31. März 2022 eingereicht.

Wirklich interessant wird es im Finanziellen Reglement allerdings in den Fällen, wenn ein Team mehr ausgibt als von der Budgetobergrenze vorgesehen. Solche Verstöße werden direkt an das "Cost Cap Adjudication Panel" (CCAP) gemeldet. Dabei handelt es sich um eine Gruppe von sechs bis zwölf Sachverständige, die vom Weltverband (FIA) und den Teams vorgeschlagen wurden.

Jede Entscheidung dieser Sachverständigen kann anschließend vom betroffenen Team oder anderen Beteiligten angefochten werden. Der Gang vor das Internationale Berufungsgericht ist möglich.

Warum fünf Prozent so entscheidend sind

Doch noch einmal zurück zum eigentlichen Regelverstoß: Gibt ein Team in einer Formel-1-Saison zu viel Geld aus, dann fällt das in eine von zwei Kategorien - und zwar unabhängig davon, ob das Team freiwillig mit seinen Zahlen herausrückt oder ob der Verstoß bei einer späteren Untersuchung festgestellt wird.

Der große Unterschied in der Bewertung der Verstöße ist: Liegen die Ausgaben im Bereich bis fünf Prozent oberhalb der Budgetobergrenze, wird das als "geringe Zusatzausgaben" eingestuft. Doch alles, was über diese fünf Prozent hinausgeht, gilt als "deutliche Zusatzausgaben", und das wird entsprechend härter sanktioniert.

Diese Fünf-Prozent-Marke ist nicht unbedeutend. Denn wir reden in der Saison 2022 von einem Jahresbudget in Höhe von 140 Millionen US-Dollar (etwa 130,7 Millionen Euro) plus 1,2 Millionen Dollar (etwa 1,1 Millionen Euro) extra für das 22. Saisonrennen. Macht zusammen also 141,2 Millionen US-Dollar oder umgerechnet rund 131,8 Millionen Euro.

Wer fünf Prozent mehr ausgibt, kommt auf eine Extrasumme von 9,8 Millionen US-Dollar (rund 9,1 Millionen Euro). Und das ist viel Geld, das zum Beispiel in die Entwicklung gesteckt werden könnte, um am Ende vielleicht den Unterschied auszumachen zwischen dem Titelgewinn und Platz zwei in der WM-Gesamtwertung.

Welche Konsequenzen das Reglement vorsieht

In Finanziellen Reglement heißt es dazu, dass bei Zusatzausgaben bis fünf Prozent über der Budgetobergrenze "eine Geldstrafe und/oder eine kleinere sportliche Strafe" ausgesprochen werden können. Die Geldstrafe ist in den Regeln nicht präzise definiert. Es heißt dort nur: Es handle sich um "eine Strafe, deren Höhe von Fall zu Fall festgelegt wird".

Für ein Team, das mehr Geld hat, als es ausgeben kann, könnte eine solche Strafe theoretisch ein kleiner Klaps auf die Hand sein, mehr nicht. Viel interessanter wird es da schon bei der Liste an "kleineren sportlichen Strafen", von denen "eine oder mehrere" zur Anwendung kommen könnten.

George Russell, Max Verstappen

Red Bull und Mercedes: Zwei Teams, die einen Regelverstoß bei sich selbst befürchten Zoom

Die schwächste davon ist eine öffentliche Verwarnung. Allerdings wäre das bereits peinlich für Teams wie Mercedes, hinter denen ein großer Automobilhersteller steht. Viel dramatischer wäre eine konkrete Sanktion wie ein Punkteabzug in der Fahrer- oder in der Konstrukteurs-WM in der jeweiligen Rennsaison.

Eine Rennsperre ist denkbar

Außerdem sieht das Finanzielle Reglement theoretisch eine "Sperre für eines oder mehrere Segmente einer Veranstaltung vor", was ausdrücklich auch "das Rennen" einschließen kann.

Es gibt darüber hinaus zwei Strafen, die künftige Leistungen betreffen statt vergangener Resultate: eine Reduzierung der Budgetobergrenze des Teams im folgenden Jahr und "Einschränkungen für die Durchführung von Aerodynamik- oder anderen Tests".

Was also passiert, wenn ein Team die Budgetobergrenze um mehr als fünf Prozent übertritt und damit in den Bereich kommt, der als "schwerer Verstoß" gewertet wird?

Bis hin zum WM-Ausschluss ist vieles möglich

Eines passiert dann in jedem Fall: Die Verantwortlichen werden "einen Punktabzug in der Konstrukteurswertung" veranlassen. Zusätzlich kann "eine Geldstrafe und/oder jede andere schwere Sportstrafe" verhängt werden.

Bei kleinen Verstößen sind die im Reglement genannten Strafen nur "Optionen" für die Regelhüter. Eine Ausnahme stellt hierbei die öffentliche Verwarnung dar.

Am anderen Ende der Spanne stehen die zwei wohl schärfsten Sanktionen, nämlich der "Ausschluss aus kompletten Wettbewerben", was auch "das Rennen" einschließen kann, und vor allem der "Ausschluss aus der Meisterschaft".

Was sich strafmildernd auswirken könnte

Wie genau das "Cost Cap Adjudication Panel" seine Strafen auswählt, muss sich erst noch zeigen. Doch die Regeln sehen vor, dass die Umstände des Verstoßes in Betracht gezogen werden. Sprich: Wer mit den Verantwortlichen kooperiert, sich offen und ehrlich gibt, der hat womöglich bessere Karten.

Schlecht wäre dagegen, wenn ein Team "in böser Absicht [oder] unehrlich" vorgeht oder sich zu "Geheimhaltung oder Betrug" hinreißen lassen würde. Negativ bemerkbar machen könnten sich ferner mangelnde Kooperationsbereitschaft oder mehrere Verstöße innerhalb eines Jahres oder Verstöße aus dem Vorjahr. Entscheidend sei auch "das Ausmaß des Verstoßes", so heißt es.

FIA Logo

Nicht der Automobil-Weltverband (FIA) tritt als Regelhüter bei den Finanzen auf, sondern Sachverständige Zoom

Ausdrücklich strafmildernd könnten "freiwillige Angaben" sein oder eine bisher "weiße Weste" beim Einhalten der finanziellen Vorgaben. Auch eine "uneingeschränkte Kooperation" kann hilfreich sein, ebenso wie "unvorhergesehene Fälle von höherer Gewalt".

Was bedeutet "höhere Gewalt"?

Letzteres ist ein interessanter Punkt. Können die Teams zum Beispiel die weltweite Inflation anführen oder den Krieg in der Ukraine, wenn es darum geht, ihre gestiegenen Ausgaben zu rechtfertigen? Als ein solcher Fall von "höherer Gewalt"?

So oder so: Wer davon ausgeht, die Budgetobergrenze nicht einhalten zu können, wird den Fünf-Prozent-Schwellenwert natürlich kennen und die damit verbundenen Strafen. Doch bisher weiß niemand, wie genau diese Strafen angewendet werden. Das bedeutet: Selbst im Bereich bis fünf Prozent über dem Limit zu bleiben, das könnte ein gewisses Risiko darstellen.

Ferrari-Teamchef Mattia Binotto meint: "Wenn man einen geringen Verstoß hat und innerhalb der fünf Prozent bleibt, was bedeutet das, wenn wir es mit höherer Gewalt zu tun haben? Was werden FIA und Sportkommissare dazu sagen? Ich habe keine Ahnung. Ich sehe aber nicht, wie wir oder andere Teams [unter dem Limit] bleiben können."

"Ich halte es auch nicht für einen guten oder richtigen Ansatz, Angestellte zu entlassen. Wir befinden uns schon im Sommer. Bis man das organisiert hat, hat man nicht genug Vorteile, als dass davon die zu hohen Preise und Kosten weggingen."

Muss die Formel 1 ihr System hinterfragen?

Deshalb glaubt Binotto: Wenn das Finanzielle Reglement [für die Saison 2022] nicht nach oben angepasst wird, um der Inflation Rechnung zu tragen, werden mehrere Teams gegen die Regeln verstoßen. "Und das wäre schlecht für das Finanzielle Reglement", sagt Binotto.

"Wir würden dann unweigerlich das Finanzielle Reglement in Frage stellen. Funktioniert es? Dann hinterfragt man alles. Das sollten wir vermeiden, denn ich halte es für wichtig, eine Budgetdeckelung zu haben. Deshalb sollten wir durchatmen und uns etwas mehr Zeit nehmen, um für nächstes Jahr und die folgenden Jahre eine bessere Regelung zu treffen."

Auch Red-Bull-Teamchef Christian Horner zeigt sich besorgt. Er meint: "Ich gehe davon aus, dass sicherlich alle großen Teams in diesem Jahr über die [Budgetobergrenze] hinauskommen."

Christian Horner, Mattia Binotto

Christian Horner und Mattia Binotto: Sie halten die aktuelle Budgetgrenze für nicht haltbar Zoom

"Und wie Mattia schon sagte: Es gibt einen Schwellenwert von fünf Prozent. Aber was ist die Strafe für einen geringen Verstoß? Wir wollen auf jeden Fall vermeiden, das Angsthase-Spiel zu spielen. Im Sinne von: Geht er bis 4,9 Prozent? Gehen wir bis 4,7 Prozent? Das könnte ein möglicherweise entscheidendes Upgrade sein in dieser WM."

Kritik am aktuellen Finanziellen Reglement

Die Teamchefs der Spitzenteams sprechen also ganz offen darüber, dass sie einen Regelverstoß für wahrscheinlich halten. Ähnlich offen haben sie sich bei Versammlungen der Formel-1-Kommission und in anderen Gremien geäußert.

Im Prinzip kündigen sie an: Mehrere Teams werden zu viel Geld ausgeben. Das wiederum bringt die Verantwortlichen in die Bredouille, wenn sie nach der Saison die finalen Zahlen vorgelegt bekommen.

Wird man Gnade vor Recht ergehen lassen bei denjenigen, die ihr Budget nur ein klein wenig überzogen haben? Und wie geht man damit um, dass die Teams praktisch das ganze Jahr über wussten, über die Budgetobergrenze hinauszukommen? Dass die Teams das sogar geplant haben, obwohl es in den Regeln heißt, "es darf keine relevanten Ausgaben über die Budgetobergrenze hinaus geben".

Würde man nachträglich die WM-Entscheidung anpassen?

Die wahrscheinlich größte Frage hierbei lautet, ob man nach der Saison eine Strafe aussprechen würde, die nachträglich den Ausgang der Fahrer- und/oder Konstrukteurs-WM beeinflussen würde. Nur zur Erinnerung: Die zuständigen Sachverständigen arbeiten unabhängig vom Weltverband (FIA) und können völlig frei entscheiden.

Jemandem einen WM-Titel wegzunehmen, das wäre sicherlich eine Entscheidung mit großer Tragweite. Man könnte andererseits sagen: Olympiasieger haben Monate oder gar Jahre nach ihrem Sieg noch Goldmedaillen wieder verloren, weil zum Beispiel dann erst Blutproben ausgewertet waren. Und es ist nie zu spät, um Betrug zu bestrafen.

Allerdings: Würde es tatsächlich dazu kommen, diese neuen Ereignisse würden den Grand Prix von Abu Dhabi 2021 und die dabei entstandene Farce glatt in den Schatten stellen.

Und jemand würde zweifelsohne vor das Berufungsgericht ziehen, was die Sache noch einmal hinausziehen dürfte. Auch die Budget-Aufsichtsbehörde selbst kann innerhalb von drei Monaten noch einmal neu entscheiden, sollten bis dahin neue Beweise vorliegen.

Max Verstappen, Lewis Hamilton

Abu Dhabi 2021: Lewis Hamilton und Max Verstappen beim Finalrennen Zoom

Selbst Jahre später kann noch eingegriffen werden

Wichtig zu wissen ist an dieser Stelle: Das Finanzielle Reglement der Formel 1 kann über einen Zeitraum von fünf Jahren angewendet werden. Sprich: Man gibt etwaigen Whistleblowern die Möglichkeit, zum Beispiel nach ihrem Ausscheiden aus einem Team rückwirkend noch fehlerhaftes Verhalten bei der Budgetobergrenze zu melden. Das bedeutet, die Verantwortlichen könnten selbst 2027 noch einmal Nachforschungen zur Saison 2022 anstellen.

Was also haben die Topteams der Formel 1 im Sinn? Spielen sie einfach damit, dass es für geringe Verstöße bis fünf Prozent kaum merkliche Strafen geben wird, weil praktisch jedes Team einen Regelverstoß dieser Größenordnung haben wird? Dass die Strafen zumindest nicht so empfindlich ausfallen werden, dass dadurch die WM beeinflusst wird? Es wirkt so.