• 20.08.2004 12:16

Brawn: Jean lässt mich meine Sache einfach machen

Ferraris Technischer Direktor über Rennstrategie, warum diese so oft funktioniert, den Schumi-Bonus und die Gegner

(Motorsport-Total.com) - Frage: "Ferrari scheint durchweg in der Lage zu sein, bessere Rennstrategien auszutüfteln als die Gegner. Liegt das an der operativen Scharfsinnigkeit an der Boxenmauer oder an der Stärke der Management-Struktur?"
Ross Brawn: "Wie soll ich darauf antworten, ohne eingebildet zu klingen? Ich glaube, wir haben eine weitläufige Struktur von Leuten, die ein stark ausgeprägtes Verständnis dafür haben, was in einem Rennen vorgeht; nicht nur mich alleine. Hervorzuheben ist Luca Baldisseri, der in den letzten drei Jahren für die Präsentation der Strategie und für die Herangehensweise an ein Rennen verantwortlich war. Das ist sehr gut, weil Luca früher Michaels Renningenieur gewesen ist, sodass er nicht nur ein Mathematiker ist, der mit den Zahlen jongliert; er versteht wirklich die Nuancen eines Rennens. Das ist sehr wichtig."#w1#

Titel-Bild zur News: Brawn und Todt

Jean Todt lässt Ross Brawn alle notwendigen Freiheiten

Frage: "Sind diese feinsinnigen Nuancen genauso wichtig wie die sichere Kalkulation?"
Brawn: "Absolut. Man kann tausende oder sogar Millionen von Kalkulationen durchführen; Prozesse, die in der perfekten Rennstrategie münden. Dann siehst du dir das an und denkst: 'Ja, aber die Tatsache, dass dies eine Strecke ist, bei der es viele Safety-Car-Phasen gibt oder wo man die Möglichkeit zum Überholen hat oder dass es letzte Nacht einen Wolkenbruch gegeben hat und Schmutz auf der Streckenoberfläche liegt, wurde nicht in Betracht gezogen.' Alle Sachen, die dir ein Experte mitteilt, können mit in eine mathematische Kalkulation aufgenommen werden. Aber so verfahren wir nicht. Wir haben immer eine ganze Reihe von Strategien und kombinieren diese mit allen anderen Abwägungen, um zu entscheiden, wie wir das Rennen angehen."

Frage: "Wo beginnt dieser Prozess?"
Brawn: "Luca sorgt für das Fundament, wenn sie so wollen, mit der Hilfe von anderen Renningenieuren. Das beginnt schon in der Fabrik, wo wir vor jedem Rennen ein Strategiemeeting haben, um eine Idee zu entwickeln, wie wir das Training angehen und wie wir die restlichen Informationen erhalten. Während des Wochenendes bekommen wir ein Bild davon, wie sich die Reifen verhalten und wie stark die Gegner sein werden. Im Rennen treffen Luca und ich die Entscheidung."

Frage: "Sind sie manchmal überrascht über ihre eigenen Strategien?"
Brawn: "Nun, nehmen wir mal Silverstone. Ich war selbstverständlich sehr glücklich mit Michaels Strategie, aber nicht mit Rubens', weil der im Verkehr feststeckte, als er von seinem ersten Boxenstopp herauskam. Da hatten wir in einem Rennen eine sehr erstaunliche Strategie und eine, die nicht funktionierte."

Frage: "Aber das ist doch nicht alles nur Glück, oder?"
Brawn: "Nein, kein Glück. Man gibt eine Anweisung und versucht sie auch anzuwenden. Aber - offen gesagt - Michael ist jemand, der wirklich das Beste aus jeder Möglichkeit macht."

Frage: "Also wie viel davon liegt an Michael? Könnten Montoya oder Ralf dasselbe tun oder haben Sie einen Schumi-Bonus?"
Brawn: "Ich glaube schon, dass wir bei Michael einen Puffer haben, was sicherlich hilft. Rubens war auch hin und wieder in der Lage sich eine Strategie zurechtzulegen und umzusetzen. Aber Michael scheint mehr als alle anderen Fahrer die Gabe zu haben, ein paar erstaunliche Runden zu fahren, wenn es wirklich darauf ankommt. Er hat das schon so oft gemacht, dass man es einfach nicht ignorieren kann."

Frage: "Was denken sie, inwieweit das geschlossene und unpolitische Umfeld bei Ferrari hilfreich ist?"
Brawn: "Die Zuständigkeiten im Management bei Ferrari sind klar und eindeutig definiert und das ist für die gesamte Belegschaft sehr gut. Das rechne ich auch Jean (Todt) hoch an. Er sitzt nie auf dem Kommandostand neben mir und sagt: 'Was zum Teufel machst du da eigentlich?' Er weiß genau, dass es das beste ist, mich meine Sachen machen zu lassen. Wenn er der Meinung ist, ich hätte eine andere Entscheidung treffen sollen, reden wir da später in Ruhe drüber. Er funkt mir da nicht zwischen."

Frage: "Es gibt bei Ferrari also keine gegenseitigen Anschuldigungen, sondern nur unterschiedliche Zuständigkeiten?"
Brawn: "Wir erwarten Kompetenz und Verpflichtung, und einen gewissen Standard. Wenn etwas schief läuft, dann liegt so etwas meistens am System."

Frage: "Wenn sie sich ihre Konkurrenten anschauen, sehen sie BAR und Renault als die neue Generation an, welche die etablierten Teams herausfordert?"
Brawn: "Ja, im gewissen Maße. Renault ist wieder da und BAR-Honda tritt auch sehr stark und geschlossen auf. Man kann dort keine Konflikte erkennen, wie man sie woanders sieht. Man bekommt ja die Stimmung an der Rennstrecke mit und von Renault oder BAR her ist da nichts zu spüren - bei einigen anderen Teams dagegen schon. Ich glaube, dass Renault und BAR auf dem aufsteigenden Ast sind. Im Moment sind sie noch nicht beständig genug, aber das kann noch kommen."

Frage: "Könnten sie auch bei einem anderen Team das umsetzen, was sie bei Ferrari geschafft haben?"
Brawn: "Wir haben einen besonderen Schlag von Leuten hier. Ich bin gar nicht in der Stimmung wegzugehen und das irgendwo anders zu versuchen; ganz einfach, weil ich es nicht möchte."