• 24.05.2015 21:09

  • von Dieter Rencken & Stefan Ziegler

Analyse: Mercedes, Hamilton und der verschenkte Sieg

Auf Spurensuche bei Mercedes: Wie kam es zum Boxenstopp, der Lewis Hamilton in Monaco den Sieg kostete und Nico Rosberg ins Rampenlicht spülte?

(Motorsport-Total.com) - Ein perfektes Rennwochenende hatte Lewis Hamilton beim Großen Preis von Monaco in Monte Carlo angestrebt. Und der Mercedes-Fahrer war im sechsten Rennen der Formel-1-Saison 2015 in der Tat auf allerbestem Weg, dieses Ziel auch zu erreichen. Denn von der Pole-Position aus ging er gleich in Führung und schickte sich an, seinen vierten Saisonerfolg einzufahren. Doch dann kam Runde 65.

Titel-Bild zur News: Lewis Hamilton

Lewis Hamilton ist der große Verlierer des Großen Preises von Monaco 2015 Zoom

Ein Umlauf zuvor war Max Verstappen (Toro Rosso) mit Romain Grosjean (Lotus) kollidiert, was eine Gelbphase zur Folge hatte. Erst wurde das Rennen mit einer Virtual-Safety-Car-Phase neutralisiert, kurz darauf schickte die Rennleitung das Safety-Car auf die Strecke. Und in diesem Moment unterlief dem Kommandostand des Mercedes-Werksteams ein folgenschwerer Fehler bei Hamiltons Strategie.

Denn die Silberpfeile beorderten den führenden Hamilton in Runde 65 an die Box, wo er sich noch einmal frische Reifen abholte - ganze 13 Runden vor dem Ende des Rennens. Und als der Grand Prix in Runde 71 wieder freigegeben wurde, fand er sich plötzlich an dritter Stelle wieder. Hinter Nico Rosberg (Mercedes) und Sebastian Vettel (Ferrari), die beide ohne weiteren Boxenstopp durchgefahren waren.

24 Sekunden hätte Hamilton gebraucht...

Wenige Minuten später fiel die Zielflagge, aber nicht Hamilton gewann den Großen Preis von Monaco, sondern Rosberg - vor Vettel. Für Hamilton blieb nach dem zusätzlichen Reifenwechsel nur der dritte Platz. Und so wundern sich die Experten, was Mercedes mit dieser Taktik wohl im Sinn hatte. Der frühere Formel-1-Fahrer Johnny Herbert etwa sagt: "Ich kann diese Entscheidung nicht nachvollziehen."


Großer Preis von Monaco

Denn Hamilton habe vor seinem Boxenstopp in Runde 65 nicht das erforderliche Zeitpolster gehabt, um an erster Stelle wieder auf die Strecke zurückzukehren. "Für einen Boxenstopp brauchst du hier etwa 24 Sekunden. Der Vorsprung betrug aber nur 19 Sekunden", erklärt Herbert. "Und wenn ich richtig rechne, bedeutet das, dass du damit nicht vorn bleiben kannst. Genau das ist auch passiert."

Aber hätte es den Mercedes-Strategen auffallen müssen, dass der Abstand auf Rosberg und Vettel zu gering war? "Wir", meint TV-Experte Herbert, "sitzen ja nur vor den Fernsehbildschirmen. Aber das Team hat alle Daten und viele Monitore. Wie um alles in der Welt hat ihnen der Computer gesagt, es wird schon passen? Ich weiß es wirklich nicht. Zumal ja nur noch knapp zehn Runden zu fahren waren."

Zu viel Risiko? Eine Fehlentscheidung?

Ex-Weltmeister Damon Hill kann es ebenfalls kaum fassen. "Damit man so knapp vor dem Ende noch mal die Reifen wechseln kann, braucht es schon einen sehr großen Abstand zwischen dir und deinem Verfolger", sagt er bei 'Sky' und merkt an: "Es war also sehr riskant, was Lewis und Mercedes da gemacht haben. Sie scheinen sich damit ins Knie geschossen zu haben." Das sieht auch Niki Lauda so.

Niki Lauda

Für Niki Lauda ist klar, dass sich das Mercedes-Team einfach verzettelt hat Zoom

Der Aufsichtsratsvorsitzende des Mercedes-Teams war "not amused" über die Ereignisse in den Schlussrunden. Der Boxenstopp von Hamilton sei "eine absolute Fehlentscheidung" gewesen, sagt er bei 'RTL'. Dergleichen dürfe einfach nicht passieren. "Wir sind ein professionelles Team und haben im richtigen Moment die richtigen Entscheidungen zu treffen. Und heute wurde das absolut falsch gemacht."

Um die Gründe dafür herauszufinden, schickte Lauda umgehend Mercedes-Sportchef Toto Wolff auf Spurensuche. Und Laudas österreichischer Landsmann hatte alsbald eine erste Antwort parat: "Wir haben uns verrechnet. Wir dachten, wir hätten einen Abstand, den es aber so nicht gab." Mercedes hatte sich von Virtual- und Safety-Car-Phase verwirren und in einen Strategiefehler treiben lassen.

Die Angst vor Sebastian Vettel im Ferrari

Aus Angst vor Ferrari-Pilot Vettel, der zu diesem Zeitpunkt knapp hinter Rosberg auf Position drei lag. Einem Reifenwechsel Vettels wollte Mercedes mit Hamilton zuvorkommen, erklärt Wolff. "Sebastian hätte auf die weicheren Pneus setzen und damit eine Gefährdung darstellen können." Diesen vermeintlichen "Angriff" von Vettel wollte Mercedes mit dem zusätzlichen Boxenstopp "abwehren".

Toto Wolff

Toto Wolff und Mercedes haben sich von falschen Daten in die Irre führen lassen Zoom

Die - wie sich später herausstellt - falschen Abstandsdaten hatten den Ausschlag gegeben. Obwohl der gesunde Menschenverstand der möglichen Vettel-Taktik nur geringe Erfolgschancen eingeräumt hat, wie Wolff hinzufügt. "Wenn du als Dritter mit der superweichen Reifenmischung auf die Strecke kommst, wird es in Monaco schwierig, einen Fahrer zu überholen - geschweige denn gleich zwei Piloten."

"Dennoch", so betont der Mercedes-Sportchef, "muss man sich auf die Daten verlassen. Unsere große Diskussion war: Wie wiegen wir unsere Daten gegen gesunden Menschenverstand auf? Und Menschenverstand ist gut und schön, gewinnt dir auf Dauer aber keine Rennen", sagt Wolff. "Ich denke, wahrscheinlich sollte man sich eher auf die Daten als auf das Bauchgefühl verlassen."

Niki Lauda: "Es wird zu viel diskutiert"

Lauda widerspricht. Für seinen Geschmack wird am Kommandostand ohnehin zu viel analysiert und debattiert. "Da reden sehr viele Ingenieure und Oberstrategen, wie man das Rennen zu fahren hat", sagt er bei 'RTL'. "Es wird vor und zurück diskutiert." Und in diesem Fall vielleicht so viel, dass die entscheidenden Fakten untergingen. Nämlich die, dass Hamilton hinter dem Safety-Car Zeit verlor.


Fotos: Mercedes, Großer Preis von Monaco


"Er lief kurz vor der Boxeneinfahrt auf das Safety-Car auf. Das hat ihn Zeit gekostet", meint Formel-1-Experte Marc Surer. "In der Zeit sind die Verfolger nähergekommen, die zwar nach Deltazeit fuhren - sie dürfen nicht volles Rohr fahren, bis sie das Safety-Car erreicht haben -, aber immer noch viel schneller als das Safety-Car. Das hat ihm die wichtigen Sekunden genommen, die er gebraucht hätte."

Und das sind die Sekunden, die in der Mercedes-Rechnung fehlten. Oder wie es Wolff ausdrückt: "Lewis ist auf das Safety-Car aufgelaufen und hat dabei vermutlich Zeit verloren. Das hat wohl auch eine Rolle gespielt." Zumal in Monaco nicht - wie sonst - GPS zur Verfügung stehe, um die Position der Piloten auf dem Kurs zu überwachen. "Das macht die Aufgabe noch schwieriger", meint Wolff.

Hamilton ohne Schuld am Boxenstopp-Dilemma

Hamilton wird von Lauda in jedem Fall aus der Schusslinie genommen: "Er kann nicht wissen, was sich hinter ihm abspielt. Er fährt das Auto." Mit dem Funkspruch, wonach seine Reifen Temperatur und Grip eingebüßt hätten, trug Hamilton allerdings auch nicht zur Entspannung der Situation am Mercedes-Kommandostand bei. Schlussendlich wurde so eben eine falsche Entscheidung getroffen.

"Wir treffen Entscheidungen gemeinsam. Es gibt da keinen Schuldigen." Toto Wolff

Einen Schuldigen, der die Panne zu verantwortlichen hat, gibt es laut Sportchef Wolff aber nicht. "Es ist eine Teamentscheidung. Wir alle sind dafür verantwortlich", sagt er am Abend in Monte Carlo. "Wir treffen Entscheidungen gemeinsam. Es gibt da keinen Schuldigen. Wir gewinnen zusammen, wir verlieren zusammen." Konsequenzen müsse daher niemand im Team befürchten, sagt Wolff bei 'Sky'.

Lauda widerspricht erneut und sagt, in Zukunft müsse eine "einfache" Regelung gelten. "Es muss da oben (am Kommandostand; Anm. d. Red.) einer sitzen, wenn alle Strategen sich zu Tode reden. Das tun sie sehr oft. Und der muss dann eine logische Entscheidung treffen. Das fehlt mir bei uns. In unserem Fall ist das Paddy Lowe (Technischer Direktor; Anm. d. Red.). Er muss entscheiden."

Für Hamilton kommt eine solche Maßnahme zu spät. Er hat einen sicher geglaubten Sieg verpasst. "Ich habe mich noch in der Medienzone bei Lewis entschuldigt", sagt Mercedes-Sportchef Wolff. Er ist mental sehr stark. Dennoch schmerzt es ihn sicherlich, dieses Rennen verloren zu haben. Es war ja nur noch eine Sache von 13 Runden. Lewis hätte es einfach nur noch nach Hause fahren müssen."