Analyse: Die Rolle des Pirelli-Tests bei Ferraris Formanstieg
Hat die Teilnahme an Pirellis Reifentests im vergangenen Jahr Ferrari und Sebastian Vettel einen entscheidenden Vorteil gebracht? Wir suchen die Antwort ...
(Motorsport-Total.com) - 2016 nahmen Ferrari, Mercedes und Red Bull an einem speziellen Testprogramm teil, um Pirelli bei der Entwicklung der breiteren Prototyp-Reifen zu helfen. Weil das auch zu diesem Zeitpunkt schon die drei Topteams waren, war es mit oder ohne Regeländerungen unausweichlich, dass sie auch 2017 die dominierenden Kräfte sein würden. Doch hat das Testprogramm Ferrari einen entscheidenden Schub gegeben, um es in dieser Saison mit Mercedes aufzunehmen?
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Sebastian Vettel war 2016 der fleißigste Stammpilot bei den Pirelli-Testfahrten Zoom
Es ist deutlich sichtbar, dass Ferraris verbesserte Form von Fortschritten in allen Bereichen stammt. Viele kleine Schritte addieren sich zu einem größeren Gesamtfortschritt. Die Reifen waren dabei eindeutig ein Schlüsselelement. In der ersten Saisonhälfte hatte Ferrari beim Reifenmanagement meistens einen Vorteil - wenn man die Probleme in Silverstone einmal ausklammert, die reines Pech waren.
Für Pirelli war es bislang schwierig, die Testfahrten fair für alle zu gestalten. Als man das ursprüngliche Entwicklungsprogramm gestartet hatte, konnte man zumindest durch die Nutzung des neutralen Toyota TF109 Chancengleichheit gewährleisten, da der japanische Hersteller aus dem Sport ausgestiegen war. Als das Chassis sein Ablaufdatum überschritten hatte, benötigte Pirelli für 2012 ein aktuelleres Auto und nahm den Renault R30.
Schon Lotus legte nach Reifentests zu
Für die großen Teams schien das eine angemessene Lösung zu sein, da das Team aus Enstone zu diesem Zeitpunkt keine Gefahr für Rennsiege war: 2011 wurde man mit 73 Zählern abgeschlagener Fünfter. Es war das am schlechtesten platzierte Team, das in der Lage war, ein Testprogramm durchzuführen.
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Nachdem Lotus Pirellis Testobjekt war, war das Team plötzlich zu Siegen gut Zoom
In den Händen von Lucas di Grassi und Jaime Alguersuari fuhr das Auto 2012 fünf Testsessions in Jerez, Spa, Barcelona und Paul Ricard und spulte dabei mehr als 7.000 Kilometer ab. Indem man allen Teams Berichte und Daten der Tests gab, gab Pirelli sein Bestes, um für Ausgeglichenheit zu sorgen. Trotzdem waren einige Teams in Sorge, dass das umbenannte Lotus-Team einen Vorteil haben würde, obwohl seine beiden Stammpiloten nicht in den Test involviert waren.
Die Ergebnisse taten wenig, um die Sorgen abzumildern: Nach den 73 Punkten in der Saison 2011 holte man 2012 bereits 303 Punkte, 2013 waren es 315. War das einfach der Kimi-Räikkönen-Effekt oder hatte die Beteiligung an den Testfahrten dem Team ein Extra-Insider-Wissen über die Reifen verschafft? Es war dieser Verdacht, den Pirelli und die FIA unbedingt vermeiden wollten, als sie das Testprogramm für 2017 planten.
Schwieriger wurde es dadurch, dass die Reifen breiter sein würden und mit viel höheren Abtriebsleveln zurechtkommen müssten. Von daher konnte man sie nicht einfach nur an existierende Autos schrauben. Die Lösung war ein Testpaket: ein Chassis von 2015, das an breitere Reifen angepasst ist, und mit höherem Abtrieb, um sich den Belastungen von 2017 zu nähern. Alle Teams konnten sich bewerben, wenig überraschend nahmen die großen Drei - Mercedes, Ferrari und Red Bull - teil.
Angst vor einem möglichen Nachteil
Alle hatten die Ressourcen, um auch in einer hektischen Saison, in der man sich auf die neuen Regeln vorbereiten musste, ein spezielles Auto zu bauen und einzusetzen. Niemand wollte ausgeschlossen werden, weil alle wussten, dass eine Teilnahme ein paar Vorteile bringen würde. Warum sollte man einen Hauptgegner also einen Vorteil bekommen lassen?
Die Arbeit wurde sorgfältig zwischen allen drei Teams aufgeteilt. Jeder bekam die gleiche Anzahl Tage und die gleiche Möglichkeit, alle Reifen im Angebot zu probieren - inklusive der Regenreifen -, was schließlich in einem finalen Test in Abu Dhabi gipfelte, bei dem alle drei Teams anwesend waren.
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Zusammen mit der FIA bemühte sich Pirelli, dass die drei Teams keinen Vorteil über den nicht teilnehmenden Rennställen erhalten würden. Der Test wurde "blind" abgehalten. Das heißt, dass den Teams und Fahrern nicht gesagt wurde, was sie bekommen. Die Daten wurden zwischen allen Teams geteilt, und Rivalen konnten zu jedem Test einen Beobachter schicken, wenn sie wollten.
Auch wollte die FIA sicherstellen, dass der hohe Abtrieb nicht direkt zur Aero-Entwicklung für 2017 beiträgt, indem man vorschrieb, dass das Aero-Paket des Testautos nicht die neuen Regeln reflektiert. "Die Testautos wurden so entwickelt, dass man jede Lösung vermied, die den Teams einen Vorteil geben könnten", sagt Pirellis Formel-1-Chef Mario Isola. "Statt Unterböden, Flügel und alle Änderungen im Aero-Paket der aktuellen Autos zu entwickeln, mussten sie Schürzen, alte Technologie und so ein Zeug benutzen."
"Ich darf zudem daran erinnern, dass jegliche Daten allen Teams zur Verfügung standen. Auch Daten, die mit dem Set-up der Autos zu tun hatten - wie Gewichtsverteilung, Aero-Verteilung und mechanische Balance -, wurden in den Bericht gepackt. All diese Daten waren allen Teams verfügbar, und die Teams fingen an, die Daten zu analysieren und zu versuchen, die Reifen zu antizipieren."
Vettel wollte Arbeit selbst erledigen
Einer der faszinierendsten Aspekte der Testfahrten war die Identität der Fahrer. Schon früh wurde klar, dass Ferrari seine Stammfahrer in größerem Ausmaß als die anderen Teams nutzen würde. Das war das Signal, dass Maranello - und speziell Sebastian Vettel - daran glaubten, dass es etwas zu gewinnen gab.
Vettel war damals auch der einzige Formel-1-Fahrer, der Pirellis Fabrik vor der Rückkehr der Italiener in den Sport besuchte und den Ingenieuren auf den Zahn fühlte. Auch 2010 zeigte er sein Engagement, als er in Abu Dhabi den Titel holte, nach Europa für eine Sieges-Eil-Tour flog und dann wieder in den Nahen Osten zurückkehrte, um zum ersten Mal die neuen Pirelli-Reifen auszuprobieren. Wie Landsmann Michael Schumacher lässt er nichts unversucht.
Auch lange nachdem klar wurde, dass Ferrari den Einsatz seiner Stammfahrer für eine gute Idee hielt, blieb Mercedes strikt bei Pascal Wehrlein, der zu diesem Zeitpunkt bei Manor fuhr. Gegen Ende des Jahres wurden Lewis Hamilton und Nico Rosberg gefragt, ob sie etwas verpassen würden, wenn sie nicht dem Beispiel Ferraris folgen und den Löwenanteil der Testfahrten absolvieren würden. Schulterzucken und ein verwirrter Blick waren die Antwort: Neben ihrem Titelkampf sahen sie keinen Sinn.
Später waren beide noch involviert, doch Rosbergs Session wurde durch Regen gestört, und Hamilton legte nur einen symbolischen Auftritt hin, bevor er sich unwohl fühlte. Auch bei Red Bull tauchten Daniel Ricciardo und Max Verstappen erst zum Ende des Programms auf. Die Hauptarbeit übernahmen Pierre Gasly und Sebastien Buemi. Pirellis Zahlen der absolvierten Kilometer erzählen ihre eigene Geschichte:
1. Pascal Wehrlein (Mercedes) - 3.248 Kilometer
2. Pierre Gasly (Red Bull) - 2.494
3. Sebastian Vettel (Ferrari) - 2.228
4. Sebastien Buemi (Red Bull) - 1.190
5. Kimi Räikkönen (Ferrari) - 1.054
6. Max Verstappen (Red Bull) - 517
7. Esteban Gutierrez (Ferrari) - 480
8. Antonio Fuoco (Ferrari) - 478
9. Nico Rosberg (Mercedes) - 209
10. Daniel Ricciardo (Red Bull) - 200
11. Lewis Hamilton (Mercedes) - 50
Hat Ferrari die Grenzen ausgelotet?
Spult man zu 2017 vor, dann war Ferrari nicht nur richtig konkurrenzfähig, der SF70H war zudem auch konstant und besaß ein breiteres Arbeitsfenster als seine Hauptgegner. Das Team hat sich mit scheinbarer Leichtigkeit an die neuen Reifen angepasst - zumindest verglichen mit Mercedes. Hat Ferrari also mehr aus den Testfahrten herausziehen können? Und wenn ja, wie?
Es scheint, als habe das Team einfach einen besseren Job beim Lernen vom Fahren mit hohem Abtrieb gemacht und dieses Wissen in die Entwicklung des Autos für 2017 transferiert. Es heißt, dass das Testauto von Ferrari die Grenzen bei der Aerodynamik ausgereizt habe und dass einige Elemente dem Team speziell geholfen haben, sich auf die neuen Regularien einzustellen - auch wenn die FIA das verhindern wollte.
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Pirelli-Manager Mario Isola garantiert Chancengleichheit für alle Teams Zoom
Ferrari hat das Testauto auch dazu verwendet, um die Korrelation des Windkanals mit hohem Abtrieb und breiten Reifen zu testen. Das ist etwas, mit dem Red Bull und Mercedes in der Anfangsphase der Saison Probleme hatten.
Und dann wäre da noch die Frage der Reifen selbst. Wie geschrieben, war der Test blind, sodass den Fahrern keine Details gegeben wurden, was sich von Test zu Test oder von Satz zu Satz verändert hatte. Aber sie konnten den generellen Trends folgen. "Bei diesen großen Änderungen im Reglement und bei unserer Philosophie der Reifen hatten sie zumindest ein Gefühl für die Richtung", sagt Isola.
"Es gab eine Aussage, die nach den Tests ziemlich häufig vorkam. Als wir die neuen Mischungen testeten, war der Unterschied in Sachen Nicht-Überhitzen so groß, dass sie es sofort spürten. Sie konnten mit den neuen Mischungen pushen. Als sie fertig waren, kamen alle Fahrer zurück und sagten: 'Wow, wir mögen die Reifen, weil ich pushen kann und kein Überhitzen spüre. Und selbst wenn ich den Reifen beim Rutschen etwas überhitze, fahre ich ein paar Kurven etwas langsamer und der Reifen ist wieder da.'"
"Das war ein recht häufiger Kommentar. Und natürlich haben wir nach einem Reifen mit solchen Charakteristiken gesucht, von daher war klar, dass wir in diese Richtung gegangen sind."
Gab Vettel-Feedback die Richtung vor?
Alle Fahrer, die bei den Testfahrten beteiligt waren, konnten von den Einsätzen profitieren - speziell in den späteren Sessions, als sich die definitive Spezifikation für 2017 herauskristallisierte. Aber Vettel und mit Abstrichen Räikkönen waren die ganze Zeit involviert und konnten dem Entwicklungspfad gut folgen und ihn womöglich mitbestimmen.
Natürlich muss ein Fahrer von Vettels Kaliber mit seiner Erfahrung einen Einfluss haben, wenn er aus dem Auto steigt und den Pirelli-Ingenieuren so etwas wie "Heureka!" entgegnet, wenn er spürt, dass der Reifen einfach passt. Ohne despektierlich gegenüber Wehrlein und Gasly zu sein, die die meisten Runden der anderen Teams fuhren, aber wenn du Pirelli wärst: Wessen Meinung würdest du mehr Gewicht geben?
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"Die Erfahrung eines viermaligen Weltmeisters ist natürlich wertvoll. Das ist klar", sagt Isola. "Ein Fahrer hat Eindrücke und Gefühle, wenn er ein Auto fährt. In der Formel 1 haben wir das Glück, dass wir viele Sensoren haben, mit denen wir nachahmen und checken können, ob das Gefühl des Fahrers übereinstimmt. Ich denke, dass es mehr um Erfahrung geht, weil Pascal zum Beispiel einen sehr guten Job gemacht hat. Er war immer verfügbar und hat uns gutes Feedback gegeben."
"Sebastian ist ein professioneller Fahrer, und wenn er etwas testete, dann gab er uns nach jedem Run viele detaillierte Informationen und seine Meinung über jeden Satz. 'Ich mag das, ich mag das nicht', aus diesem oder jenem Grund. Bei den anderen Fahrern war es genauso. Wir hatten auch eine Art Formular, das sie ausfüllen mussten, um kein Detail zu vergessen."
"Natürlich versucht ein Fahrer dich in die Richtung des Reifens zu schieben, den er mag. Wenn er etwas fand, was er mag, dann hieß es: 'Das ist ein guter Reifen, ein schöner Reifen', aber der Test war blind. Er weiß also am Ende des Tages nicht, ob wir den Reifen genommen haben, den er mochte, oder nicht."
Red Bull schlägt falsche Richtung ein
Es gibt keinen Zweifel daran, dass alle drei Teams versucht haben, die Testfahrten zu ihrem Vorteil zu nutzen. Verblüffenderweise musste Red Bull zugeben, dass es nicht wie geplant funktioniert hat. Christian Horner besteht darauf, dass Red Bull dachte, dass man alles im Griff habe und den RB13 passend machen würde, doch dann änderten sich die Spezifikationen der Reifen.
"Ich denke, dass uns der Einsatz des Testautos in gewisser Weise geschadet hat", sagt er. "Ein paar Dinge an den Reifen, um die wir unser Auto designt hatten, wurden ziemlich spät geändert. Ich denke, dass das vielleicht unsere Entwicklungsrichtung beeinflusst hat. Ich würde nicht sagen, dass es nach hinten losgegangen ist, aber es hat uns in eine Richtung geleitet, die nicht mehr mit den Reifen übereinstimmt, die ursprünglich nominiert worden waren. Fakt ist, dass Mercedes und Ferrari bei der Interpretation der Regeln bessere Arbeit geleistet haben."
Horner stellt zwar Mercedes heraus, doch Toto Wolff ist gleichfalls frustriert damit, wie die Testfahrten ausgegangen sind. Er gibt zu, dass es besser gewesen wäre, wenn Hamilton und Rosberg mehr Kilometer gefahren wären. Zwar fährt der Deutsche in diesem Jahr nicht mehr, doch sein Input wäre wertvoll gewesen. Trotzdem sagt Wolff, dass es logisch schien, sie nicht von ihrem Alltag abzulenken.
Wolff verteidigt Mercedes-Strategie
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Bei Mercedes musste vor allem Pascal Wehrlein Testkilometer abspulen Zoom
"Wir waren mitten in einem internen Titelkampf", sagt der Mercedes-Motorsportchef. "Da ist es verständlich, dass keiner der Fahrer viel Zeit damit verbringen wollte, auf zukünftige Technologien und Reifen zu schauen, sondern sich auf seine eigene Meisterschaft konzentrieren wollte. Rückblickend betrachtet ... In der Formel 1 findet man selten die goldene Lösung, die den Unterschied ausmacht. Es geht darum, die kleinen Verbesserungen zusammenzusetzen."
"Und vielleicht - aber das ist nur eine Hypothese und ich weiß nicht, ob es stimmt - kann Sebastians Glaubwürdigkeit und Feedback einen Einfluss auf Pirelli haben. Ich denke nicht, dass die Fahrer etwas Spezielles gelernt haben, aber Pirelli wird eher auf die Ergebnisse und das Feedback vertrauen als bei einem Nachwuchsfahrer. Wir haben aber nicht die Daten, die diese Hypothese unterstreichen."
Trotzdem ist das ein Gedankengang, den er gerne mitteilen möchte. Wahrscheinlich ist, dass die Meisterschaft 2017 durch ein paar Punkte entschieden wird. Ein schlechtes Rennen hier und da - wie bei Hamilton in Monaco - kann sich als entscheidend erweisen. Sollte Vettel vorne bleiben, dann haben die marginalen Verbesserungen ihren Wert bewiesen.