Kommentar: Warum Newey Red Bull ohne "gardening Leave" verlassen darf

Eine Analyse: Warum Adrian Newey schon Anfang 2025 gehen darf und was wirklich hinter den freundlichen Aussagen in der Pressemitteilung steckt

Liebe Leserinnen und Leser,

Titel-Bild zur News: Christian Horner, Adrian Newey, Mark Thompson

Adrian Newey und Christian Horner haben sich offenbar auf einen "Nichtangriffspakt" verständigt Zoom

Adrian Newey ist 65 Jahre alt. Er ist der gleiche Jahrgang wie mein Vater, und der läuft seine Halbmarathons gerade schneller als je zuvor. So gesehen ist 65 kein Alter. Aber: Mein Papa ist inzwischen in Rente, und ehrlich gesagt bin ich wahrscheinlich nicht der Einzige, der 2023, als Newey seinen Vertrag mit Red Bull nochmal um "mehrere Jahre" verlängert hat, dachte, dass der Stardesigner seine einzigartige Karriere in der Formel 1 in Milton Keynes beenden würde. In nicht allzu ferner Zukunft.

Doch es kam anders. Heute, am 1. Mai 2024 (übrigens genau 30 Jahre nach Ayrton Sennas Tod in einem Newey-designten Williams-Renault), hat Red Bull Racing die Trennung in einer Presseaussendung offiziell bestätigt. Und man muss diese Presseaussendung präzise lesen und mit gesammelten Informationen verknüpfen, um zu verstehen, was hinter den Kulissen wirklich los war.

Viel wurde darüber berichtet, dass die einstige Freundschaft zwischen Newey und Teamchef Christian Horner zerbrochen sei. Nicht nur, aber vor allem an der sogenannten "Horner-Affäre".

Warum Newey und Horner keine Freunde mehr sind

Horner - für ihn gilt die Unschuldsvermutung - wird von seiner ehemaligen Assistentin sexuelle Belästigung vorgeworfen. Dass er sich trotz der Schwere der Vorwürfe verbissen an seinen Job klammert, führte zu jenem Machtkampf im Formel-1-Programm von Red Bull, über den in den vergangenen Wochen schon genug berichtet wurde.

Zwischen Newey und Horner war bereits vor der "Horner-Affäre" nicht mehr alles in Ordnung. Horner hatte sich, so berichten das mehrere Personen, die mit der internen Situation bei Red Bull vertraut sind, mit dem Tod von Dietrich Mateschitz verändert.

Er soll mehr Machtbewusstsein ausgestrahlt haben, sich selbst, vor allem gegenüber dem nunmehr noch mächtigeren Yoovidhya-Clan, den Mehrheitseigentümern aus Thailand, als Dreh- und Angelpunkt des Erfolgs von Red Bull in der Formel 1 inszeniert haben.

Dazu muss man verstehen: Adrian Newey ist ein Genie - aber auch ein hochgradig feinfühliger, komplexer Charakter. Als Horner Ende 2023 in einem Interview andeutete, dass Newey für den Erfolg des Teams heute nicht mehr so entscheidend sei wie früher, kränkte das den Mann, unter dessen technischer Führung Red Bull Racing erst zu jener Erfolgsmaschine wurde, die es heute ist.

Und, nebenbei bemerkt, auch seine Frau. Auf den Tweet, den unsere Kollegen im Motorsport Network abgesetzt haben, um das Horner-Interview zu promoten, antwortete sie mit: "Was für ein Schwachsinn." Das war am 5. Januar.

Womöglich hätte Newey nicht gekündigt, wenn Horner im Februar zurückgetreten wäre. Er hatte eigentlich schon abgeschlossen mit dem Thema Ferrari, das ihn jetzt plötzlich doch wieder reizt. Erst 2023 hatte er in einem Interview gesagt, der Mythos Ferrari würde ihn locken, "wenn ich 20 Jahre jünger wäre". Doch das sei nicht der Fall, weswegen er wahrscheinlich bei Red Bull in Rente gehen werde.

Dann passierte die "Horner-Affäre". Und plötzlich hat Newey eine ganz andere Meinung.

Was hinter der Presseaussendung steckt

Die freundlichen Worte, die sich Newey und Horner in der Presseaussendung ums Maul schmieren, sind der Versuch, die Trennung zumindest nach außen möglichst reibungslos über die Bühne zu bringen. Kurz und schmerzlos, und würdig eingedenk der fast 20 Jahre herausragender Performance, die Newey für Red Bull erbracht hat.

Sein Vertrag mit Red Bull lief bis Ende 2025, und hätte einen "gardening Leave" von weiteren zwölf Monaten, bis Ende 2026, vorgesehen. Dass er jetzt schon im ersten Quartal 2025 zu einem anderen Team wechseln darf, ist Ergebnis eines Kompromisses, den Eddie Jordan für Newey ausgehandelt hat.

Jordan bezeichnet Newey in der Presseaussendung als "Freund und Manager", und er bedankt sich im gleichen Atemzug bei Red-Bull-CEO Oliver Mintzlaff. Mutmaßlich, weil der Jordans Hauptansprechpartner bei der Klärung der Trennungsmodalitäten war. Direkte Gespräche zwischen Horner und Newey wären angesichts der persönlichen Spannungen zwischen den beiden schwer vorstellbar gewesen.

Keine Interviews: Newey stimmt "Nichtangriffspakt" zu

Die freundlichen Worte in der Presseaussendung, so hört man, sind ein Teil des Deals. Offenbar hat Newey eingewilligt, nicht über seine Meinung zur "Horner-Affäre" zu sprechen - auch nicht in Interviews nach der Trennung. Dafür kam man ihm beim "gardening Leave" entgegen.

Und auch, weil der österreichische Flügel von Red Bull der Ansicht war, dass man Newey mit all seinen Verdiensten die nächsten Schritte am Ende seiner Karriere nicht zerschießen darf. Eine Ansicht, die offenbar vor allem von Mintzlaff und Marko getragen wurde - ganz im Sinne des Vermächtnisses von Dietrich Mateschitz, der es wahrscheinlich genauso gemacht hätte.

Wie es jetzt mit Red Bull weitergeht, ist fraglich. Ganz unabhängig davon, welche Schuld Horner mit seinem Verhalten gegenüber der Mitarbeiterin auf sich geladen hat oder nicht: Die Affäre scheint der Anfang vom Ende der Erfolgsära zu sein.

Mit Newey ist der geistige Vater der erfolgreichsten Rennautos weg, und mit Max Verstappen könnte der nächste Superstar bald folgen. Vielleicht nicht zu Ferrari, aber womöglich zu Mercedes.

Jos Verstappens erstes Statement lässt tief blicken

Die erste Reaktion aus dem Verstappen-Camp nach der Newey-Bekanntgabe hat nicht lang auf sich warten lassen. Jos Verstappen sagt heute im Telegraaf: "Das Team läuft Gefahr auseinanderzubrechen. Davor habe ich Anfang des Jahres schon gewarnt."

Und: "Für den Frieden im Team ist es wichtig, dass die wichtigsten Leute bleiben. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Newey geht, und Anfang des Jahres sah es so aus, als würden sie auch Helmut rausschmeißen. Das ist für die Zukunft nicht gut."

Anzeige
Max Verstappen Fanartikel

Eine Aussage, hinter der mehr stecken könnte. Schon lang wird kolportiert, dass Verstappen in seinen Vertrag Ausstiegsklauseln nachverhandeln hat lassen - die angeblich besagen, dass er vor Vertragsende im Jahr 2028 gehen darf, wenn Schlüsselpersonen wie Helmut Marko nicht mehr da sind. Vielleicht gilt diese Klausel auch für Newey.

Ich kann mir gut vorstellen, dass Toto Wolff zu Hause gerade eine Tüte Popcorn aufreißt. Er und Mercedes könnten die großen Gewinner der "Horner-Affäre" werden.

Und die Formel 1 insgesamt, irgendwie, auch. Denn, ganz ehrlich: Dabei zuzuschauen, wie Verstappen im Mercedes versucht, gegen die Übermacht von Red Bull zu gewinnen, das wäre das viel größere Spektakel als weitere Verstappen-Titel im Red Bull.

Ralf Schumacher: Red Bull wird jetzt zerbrechen

Ralf Schumacher ist davon überzeugt (und hat das heute bei den Kollegen von Sky auch neuerlich betont), dass Red Bull jetzt über kurz oder lang in der Mittelmäßigkeit versinken wird.

So schwarz sehe ich persönlich noch nicht. Aber dass Red Bull ohne Newey und Verstappen in ein ähnliches Formtief schlittern könnte wie Mercedes, das halte ich mittel- und langfristig für durchaus denkbar.

Die Zukunft wird zeigen, ob Christian Horner wirklich der Vater des Erfolgs ist, wie er das intern angeblich selbst darstellt, und ob er Red Bull auch ohne Newey zu Siegen und WM-Titeln führen kann. Oder ob der Yoovidhya-Clan den Einfluss des Teamchefs überschätzt - und es am Ende doch andere waren, die die Triumphe in der Formel 1 produziert haben ...

Euer

Christian Nimmervoll

Hinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's nicht in erster Linie "breaking News" aus dem Grand-Prix-Zirkus, sondern vor allem streng subjektive und manchmal durchaus bissige Einordnungen der wichtigsten Entwicklungen hinter den Kulissen der Formel 1.