• 17.02.2012 15:29

  • von Sven Haidinger & Dieter Rencken

Ist der neue McLaren ein Fehlgriff?

Obwohl McLaren-Teamchef Martin Whitmarsh derzeit in Woking um Ruhe bemüht ist, kritisieren Experten Nase, Auspuff und Seitenkästen des neuen McLaren MP4-27

(Motorsport-Total.com) - Nach dem ersten Test in Jerez ist die Unsicherheit beim stolzen McLaren-Rennstall merkbar angestiegen. "Für Schönheit kann man sich nichts kaufen", verwies Lewis Hamilton in Jerez gegenüber 'auto motor und sport' auf die Nase seines MP4-27, die als einzige im Feld keinen Höcker trägt. "Da wir die einzigen mit einer tiefen Nase sind, muss ich sagen: Entweder haben wir Recht oder alle anderen."

Titel-Bild zur News: Lewis Hamilton

Vor allem Hamilton war nach seiner Premiere im MP4-27 wenig eurphorisch

Zudem machen derzeit wilde Gerüchte die Runde, wonach der Brite zu seinem ehemaligen Teamkollegen Heikki Kovalainen gesagt haben soll, er sei mit seinem Auto unzufrieden. Jenson Button gab sich nach den Tests etwas diplomatischer. Das neue Auto seit "um Welten besser als das letztjährige zu Testbeginn", wird der Weltmeister 2009 von 'auto motor und sport' zitiert. "Wir fahren ohne technische Probleme."

Kein besonders aussagekräftiges Statement des McLaren-Stars, denn viel schlechter als die Truppe aus Woking im Vorjahr kann ein Team gar nicht mehr in eine Testsaison starten. Durch das zu komplexe Auspuffsystem kam man damals weder auf konkurrenzfähige Zeiten, noch auf Kilometer.

Ascanelli sieht McLaren am falschen Weg

Toro-Rosso-Technikchef Girogio Ascanelli ist der Meinung, dass McLaren tatsächlich bei der Nase danebengegriffen hat. Der Italiener weiß: "McLaren hatte bereits zuvor ein niedrigeres Chassis. Sie haben die Form der Unterseite des Cockpits aus dem Vorjahr übernommen und bleiben damit nur ihrer Herangehensweise bei der Entwicklung treu. Aber natürlich sind wir der Ansicht, dass es besser ist, hoch zu bauen."

Auf die Frage, warum er dies glaube, stellt Ascanelli rasch klar: "Das ist keine Frage des Glaubens, sondern eine Frage der Simulation." Die tiefere McLaren-Nase hätte zwar den Vorteil eines niedrigeren Schwerpunkts, der sich vorteilhaft auf die Traktion auswirkt, doch man bekommt dadurch weniger Luft unter das Auto, um den Unterboden zum Arbeiten zu bringen.

McLaren-Mercedes MP4-27

Kein Höcker: McLaren verzichtet auf eine hässliche Frontpartie Zoom

"Man hat zwei unterschiedliche Lösungen und rechnet Vorteile und Nachteile aus", gibt Ascanelli Einblicke in die Arbeitsweise seines Teams. "Dann stellt man den aus einem höheren Schwerpunkt resultierenden Verlust an Traktion dem durch diese Lösung gewonnen Abtrieb gegenüber und rechnet aus, wie viel man bei der Rundenzeit gewinnen kann. Wir glauben an unsere Lösung, denn unsere Simulationen sagen uns, dass es ein Vorteil ist."

Whitmarsh verteidigt tiefe McLaren-Nase

Doch möglicherweise hat Ascanelli einen Vorteil der tiefen Nase außer Acht gelassen, den man bei McLaren kennt. Denn niemand kennt sich mit der tiefen Nase so gut aus wie die Konstrukteure aus Woking. Der Splitter des MP4-27 ist deutlich größer als bei anderen Autos. Nicht auszuschließen, dass die von Toro Rosso in der Simulation verwendete Nase nicht alle Kniffe des McLaren-Modells beinhaltete.

Mclaren-Teamchef Martin Whitmarsh stellt klar, dass die FIA die Teams dieses Jahr im Bereich der Nase zu einigen Kompromissen zwingt. Das Chassis darf zwar wie bisher 625 Millimeter hoch sein, die Nase liegt aber aus Sicherheitsgründen nur mehr bei 550 Millimetern Höhe. McLaren schenkt allerdings bereits beim Chassis freiwillig 75 Millimeter her.

"Ja, mit einer höheren Nase könnten wir unten mehr Luft durchleiten", gibt Whitmarsh gegenüber 'auto motor und sport' zu. "Aber dafür haben wir einen tieferen Schwerpunkt, mehr Freiheiten bei der Aufhängungsgeometrie, und eine angenehmere Sitzposition für den Fahrer mit einer besseren Sicht."

Neuer McLaren zu konservativ?

Insgesamt erinnert der neue McLaren durchaus an seine Vorgänger. Hat man durch das Vorjahres-Trauma, als man sich beim Auspuff-System komplett übernahm und über das Ziel hinausschoss, diesmal den gegenteiligen Fehler gemacht und zu sehr auf Sicherheit gesetzt? "Dieses Auto ist eine Evolution", dementiert Whitmarsh nicht, dass man den MP4-26 weiterentwickelt hat.

Er verspricht aber dennoch kleine Überraschungen: "Beim Barcelona-Test werden Sie einige Neuheiten am Auto erkennen. Beim Saisonstart in Melbourne noch mehr. Aber im Sinne radikaler am Auto direkt sichtbarer Innovationen muss ich Sie enttäuschen. Dazu lassen die Regeln keinen Spielraum mehr."

Auspuff-Einschränkungen treffen McLaren hart

Die größte Einschränkung erfolgte im Bereich des Auspuffs. Der abgasangeblasene Diffusor und das Zwischengas wurden von der FIA verboten. Derzeit kämpfen die Teams darum, den verhinderten Saugeffekt zu einem kleinen Teil wieder aufzuholen. Das ist vor allem für McLaren schwierig, denn im Vorjahr bastelte man eine der wirkungsvollsten Auspuff-Lösungen

"Ich glaube, wir können froh sein, wenn wir 20 bis 25 Prozent davon erreichen. Nicht am Anfang des Jahres, aber später.", sagt Whitmarsh. "Letztes Jahr hat der Auspuff unabhängig von der Gaspedalstellung geblasen. Jetzt muss der Fahrer wieder damit rechnen, dass beim Bremsen die Auspuffwirkung fehlt", stellt der McLaren-Teamchef gegenüber 'auto motor und sport' vor allem ein verändertes Fahrverhalten fest.

Jenson Button

Eigenwillig: Der McLaren-Auspuff verläuft in einen Schacht Zoom

"Wenn man die Verluste auf diesem Gebiet kompensieren will, muss man auf allen anderen Gebieten, die nicht durch das Anblasen der Auspuffgase profitieren, Optimierung betreiben. Nicht nur in der Aerodynamik."

Anderson: Mclaren-Auspuff illegal?

Auch beim Auspuff setzt McLaren auf eine andere Lösung als die Konkurrenz: Die Endrohre wurde wurden in einen Schacht gelegt, der die Gase in Richtung der Hinterreifen leitet. Man zielt somit die Bremsbelüftungen an, die die Abgase auf das Diffusordach leiten sollen. Red Bull setzt auf eine andere Idee: Man nützt die vorderen Querlenker der Hinterrad-Aufhängung, um die Abgase auf das untere Heckflügel-Element zu leiten und versucht auf diese Weise, Abtrieb zu erzielen.

Ex-Jordan-Technikchef Gary Anderson wundert sich gegenüber 'Autosport' über das McLaren-System. "Dieses Design ist eigenartig", hält er sich mit seiner Meinung nicht zurück. "Das Auspuff-Endrohr zielt nach oben, mündet aber dann in einem Schacht. Dadurch sollen die Auspuff-Gase nach unten in Richtung Unterboden geleitet werden." Der Ire ortet ein illegales System: "Ich bin nicht sicher, wie das mit den technischen Direktiven der FIA übereinstimmen soll. Am Ende der Auspuffrohre sollte es kein zusätzliches Teil sein - ich wäre überrascht, wenn das legal wäre."

Anderson kritisiert McLaren-Seitenkästen

Das System dürfte aber regelkonform sein, denn Charlie Whiting begutachtete in Jerez alle Lösungen und fand laut eigenen Angaben keine Ungereimtheiten. Anderson kritisiert aber nicht nur das Auspuff-System, sondern auch die Seitenkästen des MP4-27. "Man setzt diesmal auf einen rechteckigen Lufteinlass, während sich die meisten Teams für ein Dreieck entschieden haben", fällt ihm auf. "Dadurch ist der Seitenkasten im Winkel von 40 bis 45 Grad unterschnitten."

"Das Ziel eines Cola-Heck ist es ja, die Luft zu beschleunigen", erklärt Anderson. "Die Luft wird in Richtung Heck gesaugt. Dadurch entsteht unter dem Seitenkasten Unterdruck. Man sorgt aber auch auf dem Unterboden für Unterdruck. Wenn der Seitenkasten zu horizontal ist, dann gleich sich das aus. Wenn aber der Winkel des Seitenkastens größer ist, dann entsteht eine größere Oberfläche und der Unterdruck-Bereich geht über den Unterboden hinaus. Ich halte nicht viel vom horizontalen Seitenkasten. Ich möchte McLaren nicht kritisieren, aber ich bin nicht sicher, ob man es nicht hätte besser machen können."

McLaren-Mercedes MP4-27

Die Seitenkästen des MP4-27 verfügen über einen rechteckigen Einlass Zoom

Folgen Sie uns!