• 07.10.2007 17:36

Haug: "Wir holen uns den Lohn ab, keine Angst!"

Mercedes-Sportchef Norbert Haug stellt sich voll hinter Shanghai-Pechvogel Lewis Hamilton und kündigt für São Paulo den WM-Titel an

(Motorsport-Total.com/Premiere) - Was man nicht alles noch erleben darf! Anlässlich des heutigen Rennens in Shanghai brach Norbert Haug sogar mit seiner festgefahren geglaubten Tradition, keine Prognosen zu treffen, denn in den Fernsehinterviews nach dem China-Grand-Prix ließ er eine ganz klare Ansage vom Stapel: "Unsere Jungs haben einen Megajob gemacht. Dafür wird es eine Belohnung geben - die holen wir uns in Brasilien ab!"

Titel-Bild zur News: Norbert Haug

Mercedes-Sportchef Norbert Haug kündigt für São Paulo den WM-Gewinn an

Der Mercedes-Sportchef war naturgemäß nicht glücklich über den Ausgang des heutigen Rennens, denn nach Fuji haben seine Silberpfeile nun auch den zweiten Matchball vergeben - und mit sieben Punkten Vorsprung auf Kimi Räikkönen könnte es für Lewis Hamilton noch eng werden. Und noch eins ist klar: Auch wenn es nie jemand zugeben will, wäre Hamilton in den silbernen Herzen der bevorzugte Weltmeister gegenüber Fernando Alonso...#w1#

Frage: "Herr Haug, man konnte etwa zwei Runden lang sehen, dass Lewis Hamilton Probleme mit dem rechten Hinterreifen hatte. Warum hat ihn McLaren-Mercedes nicht früher an die Box geholt?"
Norbert Haug: "Ich weiß nicht, ob man das zwei Runden lang so deutlich gesehen hat. Er sitzt im Auto und wir hatten eine Regenankündigung, eine neue, und dann versucht man vielleicht, die Runden noch mitzunehmen."

An den anderen Autos orientiert

"Jetzt haben wir was falsch gemacht - ganz klipp und klar. Dafür dürfen wir kritisiert werden." Norbert Haug

"Wir wussten letztlich nicht, wie sehr die Reifen schon mitgenommen sind. Die Fahrzeuge drumherum waren ja auf den gleichen Reifen, deshalb war das die Basis der Entscheidung. Hinterher ist man klüger. Wir haben in diesem Jahr so viel richtig gemacht, jetzt haben wir was falsch gemacht - ganz klipp und klar. Dafür dürfen wir kritisiert werden, aber wir sind stark und gut aufgestellt."

"Beide Fahrer können noch um den WM-Titel fahren. Die anderen haben keine überragende Performance gezeigt. Solange Lewis fuhr, war er Chef im Ring, und die Punkte, die er noch braucht, waren sicherlich absolut drin. Wir haben sie nicht geholt. Für die Fans ist es sicherlich schön, dass es bis zum letzten Rennen offen ist. Kimi hat von vielen Ausfällen beim letzten Rennen schon profitiert und ist sicherlich in einer ganz guten Position, nur muss man zuerst Zweiter werden, um vor uns zu sein - und wir wollen wenn es irgend geht auf der Strecke so fahren, dass wir vorne sein können. Das haben wir in diesem Jahr gezeigt."

"Die Ausgangsposition ist immer noch sehr gut. Wer jetzt Panik macht, der ist sicherlich bei uns an der falschen Stelle. Das Team wird ruhig sein. Die Jungs haben sich wirklich eine kleine Erholung verdient jetzt - es war harte Arbeit. Wir werden das durchstehen und ich habe ein sehr gutes Gefühl, dass wir in Brasilien einen guten Job machen können."

Frage: "Der WM-Titel war heute schon zum Greifen nahe. Wie schwierig ist es, mit so einer Situation auch im Team umzugehen?"
Haug: "Ich kann damit umgehen. Wer da draußen nicht damit umgehen kann, okay. Ich höre schon wieder eine gewisse Dramatik in der Geschichte. Wenn mir vor einem Jahr einer gesagt hätte, dass wir in den letzten Grand Prix mit sieben Punkten Vorsprung gehen, dann hätte ich glatt unterschrieben."

Blick mit Wehmut auf Fuji

"Jetzt haben wir es im zweiten Anlauf nicht geschafft." Norbert Haug

"Ja, ich hätte mir was anderes gewünscht. Ich habe großen Respekt für Kimi, aber klar ist: Wenn es in Fuji nicht crasht zwischen Red Bull und Toro Rosso und wenn Fernando auf der Bahn bleibt, dann ist er drei Plätze weiter hinten - dann ist der Sack dort schon zu. Jetzt haben wir es im zweiten Anlauf nicht geschafft."

"Ich werde alles andere tun als so einem feinen Kerl wie Lewis einen Vorwurf zu machen. Auch da kann man im Nachhinein sagen, dass man mit so einem lädierten Reifen vielleicht noch langsamer in die Box fahren muss, aber das ist müßig. Wir stehen zu diesem Mann - er hat so viel gegeben - und wir sind stark, wenn es Druck gibt. Das zeichnet uns aus."

"Ich kann vielleicht hinterher mal im geschlossenen Raum irgendwo dagegentreten, aber draußen tue ich das sicherlich nicht. Unsere Jungs haben einen Megajob gemacht. Dafür wird es eine Belohnung geben - die holen wir uns in Brasilien ab. Das zählt und nichts anderes."

Frage: "Es gab schon am Start schwierige Bedingungen. Wie sind Sie damit umgegangen?"
Haug: "Hervorragend, wie man sehen konnte. Der Start war dominant von Lewis - ich habe nicht den kleinsten Fehler gesehen. Fernando hätte es fast geschafft, an den Ferraris vorbeizukommen, aber dann eben doch nicht. Er hatte einen kleinen Quersteher. Danach war der Speed schon ein klein bisschen unterschiedlich zu seinem Teamkollegen, das konnte man sehen."

"Es gab ohnehin riesige Speedunterschiede - es war nach 20 oder 15 Runden schon ganz weit auseinander gezogen. Insofern hatten wir eine hervorragende Ausgangsposition bis zur Rennhalbzeit, aber da falsch kalkuliert. Nur: Wir haben nicht gepokert! Wir wollten auf Nummer sicher gehen und haben die Reifensituation falsch eingeschätzt, wie mitgenommen der Reifen offensichtlich schon war. Wer uns dafür kritisieren will, der darf das."

Tränen beim Hamilton-Ingenieur

Lewis Hamiltons Reifen

Dieser Reifen war schuld an Lewis Hamiltons Ausfall beim China-Grand-Prix Zoom

Frage: "Wer trifft so eine Entscheidung? Macht das der Renningenieur, den wir später in Tränen aufgelöst gesehen haben?"
Haug: "Ich habe keinen in Tränen aufgelöst gesehen - vielleicht ist mir das entgangen. Und wenn, dann kann man da sicherlich auch einen Haken dranmachen. Wir haben strategische Bestarbeit geleistet. Ich habe schon Rivalen gesehen, die mit den falschen Reifen losgefahren sind. Wir haben hier nicht die Bestleistung geschafft, ganz klar."

"Ich denke auch, dass Fernando in einer Position hätte sein können, um den Sieg zu fahren, wenn er am Rennanfang etwas weniger Abstand gehabt hätte, aber er kam eben an Massa nicht vorbei. Lewis hat seine Marke sicherlich gesetzt mit der Pole. Ich glaube, der Anfang des Rennens hat ganz klar gezeigt, was der Junge leisten kann. Ich war sehr stolz auf ihn, dass er zurückgekommen ist zu seinen Mechanikern. Das ist ein Großer, der sich dann auch stellt. Jetzt war es ein gemeinsamer Fehler, für den ich ihn noch nicht mal einen Hauch kritisiere. Wer nicht Fehler wegstecken kann - auch dann, wenn er sieben Punkte Vorsprung hat -, der wird es in der Formel 1 zu nichts bringen."

"Wir haben sieben der letzten elf Rennen gewonnen, wenn ich mich nicht irre. Bei allergrößtem Druck hat sich die Mannschaft immer weiterentwickelt, denn man hat es uns wirklich von keiner Seite leicht gemacht. Offensichtlich sind wir auch nicht die Typen, die es sich selbst leicht machen wollen - wir brauchen offensichtlich hohe Hürden, die man überspringen muss. Das werden wir in Brasilien versuchen. Noch einmal: Ich hätte mir etwas anderes gewünscht, aber stark ist nur, wer mit der Situation jetzt umgehen kann - und ich denke, wir sind stark."

Frage: "Die Szene, als Kimi Räikkönen an Lewis Hamilton vorbei in Führung ging, können sie wahrscheinlich gar nicht mehr sehen..."
Haug: "Zunächst mal kann ich die Szene 17 Mal hintereinander angucken und habe damit überhaupt kein Problem."

Lernen aus dem Fehler

"Ich werde mir die Szene noch sehr häufig angucken, um etwas daraus zu lernen." Norbert Haug

Frage: "Mich würde das nerven, wenn ich Sie wäre..."
Haug: "Sie sind eben nicht ich. Ich werde mir die Szene noch sehr häufig angucken, um etwas daraus zu lernen. In diesem Fall war Kimi einfach besser und schneller. Es ist sicherlich richtig gewesen von Lewis, sich am Anfang zu wehren, aber dann nachzugeben."

"Ab da hat das Rennen eigentlich einen anderen Lauf genommen. Da hätte man an die Box müssen. Es war für die nächsten Runden Regen angesagt, aber unsere Reifen hätten auch im Regen nicht mehr den allerbesten Job gemacht. Die sichere Lösung wäre gewesen, noch einmal rein, auf Intermediates wechseln und schauen, wie es damit geht - nicht mit Trockenreifen pokern. Aber das war ein Vabanquespiel. Da muss man die vier Punkte im Blickfeld haben. Es war eine Momententscheidung, die sicherlich falsch war."

"Was in der Boxeneinfahrt passiert ist, ist sehr ärgerlich. Überall rings um die ganze Strecke ist übrigens Asphalt - ich glaube, das ist ziemlich das einzige Kiesbett weit und breit, aber das haben wir gleich getroffen. Asphalt an dieser Stelle hätte sicherlich mit sich gebracht, dass gar nichts passiert wäre."

Frage: "Hätten die Streckenposten etwas anders machen können oder hatten die gar keine Chance?"
Haug: "Nein, das glaube ich nicht - das hat nichts mit Streckenposten zu tun. Das ist eine unsichere Stelle. Hätte man es mit Manneskraft geschafft, wäre es sicherlich okay gewesen, ihn rauszuschieben - dann wären Punkte immer noch drin gewesen. Aber so war es eben - abhaken und konzentrieren. Wir haben jetzt ein DTM-Finale in Hockenheim zu bestreiten und wir gehen dann nach Brasilien. Wir werden dort sicherlich alles tun, um unseren Vorsprung mit nach Hause zu nehmen."

Erinnerungen an den Nürburgring 2005

"Wir haben schon viele Ankündigungen von vielen Wettbewerbern gehört." Norbert Haug

Frage: "Irgendwie klebt es ihnen als Spitzenteam aber auch an den Hacken, denn vor zwei Jahren am Nürburgring hat es mit Kimi Räikkönen in der letzten Runde einen ähnlichen Zwischenfall gegeben..."
Haug: "Ich glaube nicht, dass wir es an den Hacken kleben haben. Wir haben den besten Job nach Ferrari gemacht über zehn oder zwölf Jahre. Wir haben schon viele Ankündigungen von vielen Wettbewerbern gehört. Etwas wie heute gehört dazu. Das ist nicht unser Plan."

"In dem Fall hatte sich Kimi einen Bremsplatten gefahren, damals unnötigerweise beim Überrunden von Villeneuve. Man wusste, dass am Nürburgring da und dort Wellen sind. Das war auch unnötig, aber das gehört zum Lernprozess dazu. Wer ist ohne Fehler? Ich nicht! Und ich denke, die Zuschauer, die mit sich kritisch umgehen, die werden sich auch zugestehen, hier und da mal einen Fehler zu machen. Die Hauptsache ist, dass man das Meiste richtig macht oder sehr viel - und wenn man vor dem letzten Rennen doch mit deutlichem Abstand führt, dann hat man so viel nicht falsch gemacht."

Frage: "Warum war der Reifen bei Lewis Hamilton eigentlich so mitgenommen, aber bei Fernando Alonso mit den gleichen Reifen und dem gleichen Auto nicht?"
Haug: "Er war zu diesem Zeitpunkt auch schon 20 Sekunden oder mehr dahinter. Klar ist, dass Lewis eine Pace gegangen ist, die natürlich auch auf die Reifen geht. Umso mehr muss man dann total auf Nummer sicher spielen."

"Wir hatten sicherlich gesehen, dass wir mit einem Fünf-Sekunden-Abstand zu Kimi um den Sieg fahren können - und den Sieg gibt man nicht freiwillig her. Aber - ich habe es jetzt mehrfach gesagt - wir hätten sicherlich die Entscheidung treffen müssen, ganz, ganz, ganz auf sicher zu gehen."

Hamilton wäre wohl durchgefahren

Kimi Räikkönen und Lewis Hamilton

Kurz nach Halbzeit verlor Lewis Hamilton seine Führung an Kimi Räikkönen Zoom

Frage: "Wäre es für Lewis Hamilton der letzte Stopp gewesen?"
Haug: "Nein, da war beides möglich und beides auch noch in der Diskussion. Man hat in Betracht gezogen, bis zum Rennende vollzutanken. Es war beides möglich, aber es war knapp nach Rennhalbzeit. Da fährt man sicherlich durch. Mit großer Wahrscheinlichkeit wäre man durchgefahren."

Frage: "War Lewis Hamilton nach dem Ausfall schon einigermaßen gefasst?"
Haug: "Ja, absolut. Wir fliegen heute auch zusammen nach Hause. Das halten wir schon aus. Wir haben die Substanz. Die Mannschaft hat so viel richtig gemacht. Und wer ehrlich und kritisch mit sich umgeht, der sagt einfach mal, ich habe hier falsch kalkuliert und einen Fehler gemacht, aber das Allermeiste wurde richtig gemacht. Da bin ich stolz drauf. Und wer das Meiste richtig macht, der wird auch in Brasilien zuschlagen. Wir holen uns dort schon den Lohn ab, keine Angst."

Frage: "Freut man sich im Team über den zweiten Platz von Fernando Alonso?"
Haug: "Ja klar freuen wir uns darüber. Wir haben zwei Fahrer. Wenn er sich immer so über die Ergebnisse freut, dann ist es schön. Wir haben zwei Fahrer, die um den WM-Titel fahren. Wir haben nie etwas getan, was ihn nicht in die Position bringt, um das auch klar zu sagen."

Frage: "Bernie Ecclestone wollte die Entscheidung im letzten Rennen haben..."
Haug: "Ja, das hat er jetzt mit drei Mann. Nun ist der Druck mal auf unserem Freund Kimi. Der muss mal Zweiter werden, wenn wir einen Nuller machen. Jetzt schauen wir, dass wir die zwei oder drei Punkte zusammenkriegen. Unsere Ausgangsposition ist die bessere. Hier hätte der Sack zugemacht werden müssen, aber wir haben das feste Ziel, das in Brasilien zu schaffen. Für die Zuschauer ist es gut."