• 12.06.2008 16:57

  • von Dieter Rencken

Das große Interview mit Ross Brawn

Ross Brawn unplugged: Warum KERS kein Muss ist, wie die neuen Regeln das Überholen vereinfachen und was es mit den Reifenwärmern auf sich hat

(Motorsport-Total.com) - Die Formel 1 steht vor der größten Revolution der vergangenen Jahre, was das Reglement angeht, denn 2009 sollen Hybridtechnologie und Slicks eingeführt, die Aerodynamik stark modifiziert und die Reifenwärmer verboten werden. Wir ließen uns all diese Baustellen in Montréal von einem Mann erklären, der sich mit der Materie bestens auskennt: Ross Brawn.

Titel-Bild zur News: Ross Brawn

Ross Brawn macht sich Gedanken über das Formel-1-Reglement für 2009

Der Honda-Teamchef erläuterte im Gespräch mit 'Motorsport-Total.com' unter anderem, warum es durchaus sein kann, dass KERS gar nicht eingesetzt wird, und er ging detailliert auf die Nachteile des Systems ein - zum Beispiel das Brandrisiko aufgrund der Batterien. Außerdem outete er sich als Gegner des Verbots der Reifenwärmer und als Fan der neuen Aerodynamik, die von seinem Kumpel Rory Byrne maßgeblich mitentwickelt wurde.#w1#

Simulationen wichtiger als Streckentests

Frage: "Ross, ich glaube, ihr werdet das erste Team sein, das KERS auf der Strecke testen wird. Ist das richtig?"
Ross Brawn: "Ich weiß es ehrlich gesagt nicht, denn ich weiß nicht, was die anderen machen. Wir stehen kurz davor, das System auf der Strecke einzusetzen. Wir müssen das in unseren Testplan einbauen. Noch können wir aber keine Leistungseinschätzungen machen, sondern es geht erstmal nur um Funktionstests. Aber das wird in den nächsten Monaten passieren. Es ist ein bisschen schwierig, das in den Testplan einzupassen, weil wir ja auch viele andere Dinge für nächstes Jahr testen müssen. Es tut sich aber sehr viel hinter den Kulissen, daher ist das Streckentestprogramm für die nächsten Monate vielleicht gar nicht allzu entscheidend."

"Wir stehen kurz davor, das System auf der Strecke einzusetzen." Ross Brawn

Frage: "Werdet ihr eine Interimsversion eures aktuellen Autos testen, damit ihr euch auf KERS einstellen könnt, oder werdet ihr KERS erst ins neue Auto einbauen?"
Brawn: "Nein. Wir werden es mit dem diesjährigen Auto testen."

Frage: "Ist euer KERS ein Honda-Design oder geht ihr mit jemandem eine Partnerschaft ein?"
Brawn: "Das ist gemischt. Es ist fundamental ein Honda-System, denn wir haben jede Menge Expertise im Unternehmen. Es gibt aber auch Bereiche wie etwa die Batterien, wo wir mit anderen Partnern zusammenarbeiten, weil es sich dabei um einzigartige Technologien handelt, mit denen wir überfordert wären. Es ist also ein Honda-System, aber wir werden von einigen technischen Partnern unterstützt."

Frage: "Ihr habt euch für eine elektrische KERS-Variante entschieden und für eine Batterielösung. Machst du dir Sorgen wegen des Sicherheitsaspekts in Bezug auf Batterien?"
Brawn: "Ich würde nicht sagen, dass wir uns schon auf eine Batterielösung festgelegt haben, aber ich möchte da auch gar nicht ins Detail gehen, denn ich möchte unseren Konkurrenten ja nichts verraten. Alle machen sich über KERS Gedanken, die Teams wie auch die FIA. Die Sicherheit ist uns allen ein Anliegen und niemand möchte, dass die Sicherheit dem Wettbewerb untergeordnet wird."

"Ich glaube, dass man sich überlegen muss, wie man KERS sicher betreiben kann, sobald die Systeme etwas konkreter werden. Man darf ja auch nicht vergessen, dass wir immer noch 70 bis 80 Liter Benzin in den Autos haben, aber wir haben eine Möglichkeit gefunden, das sicher zu handhaben. Ich sehe keinen Grund, warum wir das mit KERS nicht auch schaffen sollten, aber es muss gründlich überlegt werden."

Sicherheitsprobleme in Bezug auf KERS?

Frage: "Aber es hat lange gedauert, bis es der Formel 1 gelungen ist, die Benzintanks sicher zu gestalten. Wird es mit den Batterien auch so lange dauern?"
Brawn: "Ich weiß es nicht, glaube aber, dass wir uns seither weiterentwickelt haben. Damals haben die Leute einfach akzeptiert, dass es in der Formel 1 ein gewisses Risiko gibt, also nahm man den einen oder anderen Feuerunfall einfach hin. Das will heute niemand mehr. Ich denke, dass KERS nicht zugelassen wird, solange die Sicherheitsprobleme nicht gelöst sind."

"Damals haben die Leute einfach akzeptiert, dass es in der Formel 1 ein gewisses Risiko gibt." Ross Brawn

Frage: "Zieht ihr es auch in Betracht, nächstes Jahr ohne KERS zu fahren?"
Brawn: "Ich denke, jedes Team wird beide Optionen abdecken, denn heute weiß niemand, wie gut KERS sein wird. Daher bin ich mir sicher, dass jedes Team ein Auto bauen wird, das mit oder ohne KERS fahren kann."

Frage: "KERS bedeutet natürlich einen Gewichtsnachteil. Wie groß wird dieser sein?"
Brawn: "Ich denke, wir reden von 20 oder 30 Kilogramm. Das ist die Schwierigkeit: Der theoretische Vorteil von KERS beträgt vielleicht zwei oder drei Zehntelsekunden pro Runde, aber man muss 20 oder 30 Kilogramm mehr Gewicht mitnehmen. Es gibt aber auch andere negative Aspekte in Zusammenhang mit KERS, zum Beispiel die Kontrolle der Bremsproportion hinten. KERS wird durch die Hinterachse und die Bremsen angetrieben, aber sobald das Speicherelement bis zum erlaubten Maximum gesättigt ist, kann sich das Drehmoment der Hinterachse ändern. Das ist einer der schwierigen Punkte, die man managen muss. Man gewinnt also zwei oder drei Zehntelsekunden, aber man verliert beim Gewicht, beim Packaging und beim Drehmoment hinten. Es ist jedenfalls sicher keine klare Entscheidung für KERS."

Frage: "Ist es möglich, dass die Nachteile jene drei Zehntelsekunden überschatten werden, die ihr durch KERS gewinnt?"
Brawn: "Ich glaube, es wird eine Weile dauern, bis wir die Nachteile eliminieren können. Es wird verschiedene Versionen von KERS geben - und vielleicht gibt es ja noch weitere Versionen, an die wir bisher nur noch nicht gedacht haben. Erst wenn wir die Nachteile überwinden, beginnt das System für uns zu funktionieren."

KERS: Auswirkungen auf die Strategie?

Frage: "Wird sich KERS auf die Rennstrategien auswirken?"
Brawn: "Das haben wir ehrlich gesagt noch nicht in Betracht gezogen. Das hängt auch davon ob, ob man das System am Start einsetzen kann oder nicht. Dann kann es nämlich sein, dass man sich für eine konservativere Strategie im Qualifying entscheidet, weil man ja weiß, dass man am Start Gelegenheit haben wird, Positionen wettzumachen. Ich kann mir einige Dinge vorstellen, die passieren könnten, aber zu behaupten, dass diese sicher eintreten werden, wäre nicht angemessen."

Jenson Button

Honda kann sich vorstellen, nächstes Jahr weiter ohne KERS zu fahren Zoom

Frage: "Nächstes Jahr gibt es auch eine komplett neue Aerodynamik. Wo siehst du da die größten Änderungen?"
Brawn: "Es gibt da zwei Grundsätze. Einer ist, die aerodynamische Leistung zu reduzieren, um das Verhältnis zwischen der Performance, die man aus Aerodynamik und Reifen gewinnt, zu korrigieren. Wir werden Slicks mit viel mehr Grip und weitaus weniger aerodynamische Performance haben. Dadurch müssten wir eigentlich mehr Überholmanöver sehen, weil die Autos einander dichter folgen können."

"Zweitens wurden die Autos so entwickelt, dass das hinterherfahrende Auto im Windschatten eines anderen Autos keinen Nachteil mehr hat. Ein kleines Feature diesbezüglich ist ein verstellbarer Frontflügel - der Fahrer kann den Frontflügel vom Cockpit aus verstellen, während er fährt. Wenn er also einem anderen Auto folgt und Unter- oder Übersteuern hat, dann kann er den Frontflügel umstellen, um dem Gegner dicht folgen zu können. Das erhöht die Chancen des Überholens. Es ist eine ganz andere Philosophie. Die Autos werden ohne diese Zusatzflügel auch ganz anders aussehen. Die meisten Barge-Boards werden verschwinden, die Autos werden aufgeräumter aussehen. Das ist sicher die größte Aerodynamikänderung seit sehr langer Zeit."

Frage: "Wenn wir schon von der Ästhetik der Autos sprechen: Wird sich KERS darauf auswirken?"
Brawn: "Nicht wirklich, denn die Regeln geben da die meisten Aspekte vor. Die Position des Fahrers in der Überlebenszelle ist zum Beispiel festgelegt, genau wie auch die Position von anderen Komponenten bis zu einem gewissen Grad geregelt ist. Natürlich werden sich die Leute Gedanken darüber machen, wie man das Packaging mit KERS anders gestalten kann, aber ich glaube nicht, dass man das von außen sehen wird."

Honda kein Freund der Homologierung

Frage: "In Monaco gab es Überlegungen, die Motorenhomologierung früher zu beenden. Würdest du das begrüßen?"
Brawn: "Für Honda ist die Motorenentwicklung eine wichtige Herausforderung, denn wir sehen das als Teil dessen, was die Formel 1 sein sollte. Insofern haben wir das Einfrieren der Motoren nie unterstützt. Uns wären andere Wege lieber gewesen, um auf das Thema abzuzielen, und das Thema waren die Kosten. Es wird viel Geld für die Entwicklung der Motoren ausgegeben. Wie können wir das kontrollieren? Wir waren also nie ein Fan des Einfrierens, aber als es beschlossen wurde, haben wir es hingenommen und uns damit abgefunden."

"Wir haben das Einfrieren der Motoren nie unterstützt." Ross Brawn

"Nachdem wir dann die Motorenabteilungen umstrukturiert hatten, kamen die Diskussionen auf, ob wir das Einfrieren frühzeitig beenden sollen. Das ist für die Planungen nicht gerade hilfreich, daher würden wir ein Aufheben der Homologierung jetzt nicht unbedingt begrüßen. Ein Punkt, der aufgekommen ist - und der seine Berechtigung hat -, ist, dass das, was wir eingefroren haben, ein sehr hochgestochener Formel-1-Motor ist. Das ist aber eine Anomalie, denn wir haben hier etwas, was für alle gleich ist und woran niemand arbeiten darf - also warum nehmen wir dann nicht gleich einen Motor, der nur noch 300.000 Euro kostet? Was ich damit sagen will: Wenn wir den Motor schon als technische Herausforderung wegfallen lassen, dann müssten wir eigentlich auch das Niveau der Kosten einfrieren."

"Ich finde die Idee des Einfrierens grundsätzlich interessant, aber es macht für mich keinen Sinn, einen dermaßen teuren Motor einzufrieren. Außerdem ist es ein bisschen unfair, ein Element einzufrieren, bei dem ein Team einen Vorteil gegenüber einem anderen Team hat. Das wäre so, als würde man sagen: Jungs, Stand heute frieren wir das ganze Auto ein! Das ist doch unfair, denn Teams wie wir, die Fortschritte machen wollen, können dann nicht aufholen. Aber genau das haben wir mit dem Motor gemacht."

Frage: "Begrüßt Honda die geplante Budgetobergrenze?"
Brawn: "Wir sind uns noch nicht sicher, was die beste Variante für die Formel 1 ist. Honda ist dafür, die Kosten in Zukunft zu kontrollieren. Die Formel 1 ist ein teures Geschäft. Heute erhalten die Hersteller einen angemessenen Return of Investment, aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht einen Punkt erreichen, an dem das nicht mehr der Fall ist. Insofern sollten wir alle kostensenkenden Maßnahmen diskutieren."

"Eine Budgetobergrenze ist eine interessante Idee. Die Frage ist, wie man es kontrollieren wird, denn gerade bei den Herstellerteams muss man sich auch Kontrollmechanismen für Vorgänge abseits der Formel-1-Teams einfallen lassen. Das Konzept finde ich also gut, aber wir sind uns nicht sicher, ob es in der Praxis umgesetzt werden kann. Wir warten auf einen Vorschlag von der Finanziellen Arbeitsgruppe. Ich kann mir vorstellen, die Budgetobergrenze zu unterstützen, sobald wir wissen, wie eben diese Themen gehandhabt werden sollen."

Zweischneidiges Schwert: Reifenwärmer

Frage: "Wie stehst du zum geplanten Verbot der Reifenwärmer für nächstes Jahr?"
Brawn: "Ich bin einerseits dafür, weil ich glaube, dass die paar Runden nach dem Boxenstopp, in denen die Fahrer versuchen müssen, auf Geschwindigkeit zu kommen, ziemlich aufregend werden könnten. Das bedeutet einen weiteren Punkt für die Rennstrategie, den ich sehr interessant finde. Das Dilemma, vor dem wir stehen, ist, dass diese Reifen gemessen an den Belastungen, denen sie standhalten müssen, relativ klein sind. Insofern muss man innerhalb eines bestimmten Luftdruckfensters operieren, denn man kann nicht unter einem bestimmten Luftdruck fahren."

"Die Runden nach dem Stopp, in denen die Fahrer versuchen müssen, auf Geschwindigkeit zu kommen, könnten aufregend werden." Ross Brawn

"Zu erwarten, dass Bridgestone eine komplett neue Reifenphilosophie entwickelt, die auch mit wenig Druck funktioniert, wäre unrealistisch. Also muss es wohl eine Kontrolle durch die FIA geben, ob jemand mit zu wenig Reifendruck fährt, aber das halte ich für einen Albtraum. Was ich damit meine: Reifen ohne Heizdecken wären großartig, wenn wir Reifen hätten, die man mit weniger Reifendruck einsetzen könnte. Das ist aber nicht der Fall."

Frage: "Geld sparen kann man mit dem Verbot ja nicht, denn ihr habt die Reifenwärmer sowieso schon..."
Brawn: "Das stimmt. Und noch etwas kommt dazu: Sie werden im Rennen verboten sein, aber nicht bei den Tests. Wir werden aber sicher nicht bei den Tests ein paar Runden verschwenden, indem wir ohne Heizdecken und damit mit zu wenig Druck fahren. Sportlich könnte es bei den Boxenstopps eine interessante Sache sein, aber ich bin mir nicht sicher, ob wir die anderen Herausforderungen bestehen können."

Frage: "Nun haben wir momentan eine Situation, in der die Strategie sehr wichtig ist für das Überholen, weil es auf der Strecke sehr schwierig ist. Durch die neuen Aerodynamikregeln soll das anders werden. Wird sich die neue Aerodynamik also auch auf die Strategien auswirken?"
Brawn: "Das kann sein. Wenn man weiß, dass man überholen kann, dann kann das dazu führen, dass man sich mehr auf die Rennperformance als auf die Startposition konzentrieren wird. KERS kommt da ja auch noch hinzu als Faktor, der das Überholen einfacher machen müsste. Heute ist das Risiko ja zum Beispiel: Wenn man mit einer Zweistoppstrategie am Start hinter einen Einstopper zurückfällt, dann kann man die Strategie nicht optimal ausfahren. Wenn man aber weiß, dass man den Einstopper wieder überholen kann, dann ist das ein Argument für die schnellere Zweistoppstrategie."

Brawn erwartet mehr Überholmanöver

Frage: "Rory Byrne, der ja an der neuen Aerodynamik gearbeitet hat in dieser Arbeitsgruppe, hat gesagt, dass heute ein hinterherfahrendes Auto um zwei Sekunden schneller sein muss als der Vordermann, um überholen zu können. Er sagt auch, dass dieser Abstand mit dem neuen Reglement nur noch eine Sekunde beträgt. Stimmst du dieser Aussage zu?"
Brawn: "Wir haben da noch keine Studien angestellt, um ehrlich zu sein, aber ich kann mir das gut vorstellen. Hier in Kanada ist der notwendige Zeitunterschied eventuell nicht so groß, auf anderen Strecken wie in Monaco ist er noch viel größer. Diese zwei Sekunden sind also ein Durchschnitt, aber ich glaube auch, dass dieser Durchschnitt runterkommen wird. Und es gibt wie gesagt auch noch KERS, was für eine kurze Zeit mehr Leistung bringt. Das wird natürlich helfen."

CFD-Simulation

Mit CFD-Simulationen wurde die neue Aerodynamik für 2009 erarbeitet Zoom

Frage: "Es gibt Gerüchte, dass das Super-Aguri-Team Arbeit für euer nächstjähriges Auto erledigen könnte. Stimmt das?"
Brawn: "Es stimmt nicht genau so. Wir haben die Aerodynamikabteilung von Super Aguri bereits im Vorjahr übernommen, denn Super Aguri hatte nicht die Ressourcen, um ein eigenes Auto zu entwickeln. Also haben wir ihre Aerodynamiker übernommen. Als Super Aguri dann zusperren musste, stießen diese Leute endgültig zum Honda-Team."

Frage: "Arbeiten diese Leute von Leafield oder von Brackley aus?"
Brawn: "Sie sind in Brackley."

Frage: "Gibt es noch eine Verbindung nach Leafield?"
Brawn: "Nein."

Frage: "Könnt ihr euch vorstellen, nach Super Aguri wieder ein Kundenteam zu beliefern? Und wenn ja, werdet ihr dann auch KERS und so weiter mitliefern?"
Brawn: "Ich kann dazu nichts sagen, weil wir uns darüber seit dem Ende von Super Aguri keine Gedanken gemacht haben. Sollte jemand mit einem Angebot an Honda herantreten, dann würde Honda das sicher in Erwägung ziehen. Es geht uns aber im Moment nicht primär darum, einen Partner zu finden, sondern das Wichtigste ist, dass wir unser eigenes Team hinbekommen. Es geht auch darum, was richtig für Honda und richtig für die Formel 1 ist. Ich bin mir sicher, dass Honda das tun würde, was für die Formel 1 richtig ist."