Anderson: "Neuer Mercedes sollte Schritt nach vorne sein"

Der F1 W03 gilt als Schlüsselauto für Mercedes - Ross Brawn und Gary Anderson erklären, wieso das Team einen Schritt zurück machte, um nach vorne zu kommen

(Motorsport-Total.com) - Mercedes steht dieses Jahr unter enormem Druck. Nach zwei mageren Jahren (Formel-1-Datenbank: die Mercedes-Bilanz seit 2010) muss der neue F1 W03 endlich ein deutlicher Schritt nach vorne sein, damit die Zukunft des Formel-1-Programms gesichert ist. Denn in der Mercedes-Konzernzentrale in Stuttgart ist das Team mit Sitz in Brackley längst auf dem Prüfstand - wichtige Mercedes-Entscheidungsträger sind durchaus Formel-1-kritisch eingestellt.

Titel-Bild zur News: Nico Rosberg

Langer Radstand, schmales Heck - der F1 W02 soll Siege bringen

Um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, hat man in Brackley keine Mühen gescheut. Im Vorjahr stellte man mit Bob Bell, Geoff Willis und Aldo Costa zu diesem Zwecke gleich drei ehemalige Technikchefs ein, um den Silberpfeil wieder zum glänzen zu bringen. Doch hat der neue Bolide das Zeug dazu, Nico Rosberg und Michael Schumacher endlich zu Grand-Prix-Siegen oder zumindest zu regelmäßigen Podestplätzen zu verhelfen?

"Das ist das dritte Jahr seit der Rückkehr von Mercedes und diese Saison muss zählen, sonst wird das Programm in den oberen Etagen hinterfragt", weiß Ex-Jordan-Technikchef Gary Anderson. "Das Ziel beim aktuellen Auto war es, die fundamentalen Probleme des letztjährigen Modells auszumerzen."

Neuer Bolide ähnelt 2009er- und 2010er-Auto

Der Ire umreißt gegenüber 'Autosport' die Schwachpunkte des MGP W02 aus dem Vorjahr: "Der Radstand war zu kurz. Das hatte einen höheren Schwerpunkt und dadurch einen größeren Reifenverschleiß zur Folge. Es gab auch andere aerodynamische Mängel." Auf den ersten Blick fällt sein Urteil aber positiv aus: "Diese Schwächen wurden bearbeitet und das Auto sieht wie ein Schritt vorwärts aus."

Nico Rosberg

Das neue Auto kehrt zum langen Radstand des MGP W01 zurück Zoom

Dazu war es notwendig, einen Schritt zurückzugehen. Denn beim Vorjahresauto hatte sich die Mannschaft aus Brackley in die falsche Richtung verlaufen. "Während unser letztjähriges Auto ein bisschen radikaler war, ähnelt unser aktuelles Modell hinsichtlich der Basis-Geometrie eher den Lösungen der Jahre zuvor", gibt Teamchef Ross Brawn gegenüber 'Sport Bild' zu, dass der neue Bolide eher mit dem Weltmeisterauto von Jenson Button aus dem Jahr 2009 oder dem Comeback-Auto Schumachers aus dem Vorjahr verwandt ist. "Aber alle Aspekte des Autos sind ein Schritt nach vorn."

Damit spielt er vor allem auf den zu kurzen Radstand aus dem Vorjahr - das Grundübel des MGP W02 - an. "Deshalb fahren wir jetzt wieder mit einem, wie ich ihn nennen würde, konventionelleren Radstand. Das bedeutet, das Auto ist länger als 2011, was uns wiederum mehr Platz im Heck lässt. Darum wirkt es hinten sehr aufgeräumt."

Brawn verzichtet (vorerst) auf Auspuff-Trick

Das fällt auch Anderson auf. Er kritisiert, dass die Seitenkästen in den vergangenen Jahren oft etwas "klobig" aussahen: "Damit meine ich, dass die Kühler-Auslässe plump aussahen und dort angebracht waren, wo man einen schnellen Luftstrom benötigen würde. Das neue Paket sieht aber sehr aufgeräumt aus - der Auslass auf der Motorabdeckung entspricht dem Trend, dadurch können sie die Cola-Flaschenform dem Getriebe annähern, wo der Luftstrom dann beim Hinterrad mündet. Die Lufteinlässe sehen etwas größer aus als üblich, aber Mercedes hatte im Vorjahr zu Saisonbeginn Kühlprobleme - das könnte also eine Vorsichts-Maßnahme sein."

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Konventionelles Design: Beim Auspuff verzichtet man auf eine komplexe Lösung Zoom

Interessant ist, dass Mercedes im Vergleich zu Teams wie Red Bull, Ferrari oder McLaren nicht auf einen offensichtlichen Auspuff-Trick setzt, um die enormen Restriktionen bei der Positionierung der Endrohre zu umgehen. Adrian Newey zielt beim RB8 mit dem Auspuff auf den vorderen Querlenker der Hinterrad-Aufhängung und lenkt die Gase so auf das untere Heckflügel-Element, bei McLaren nützt man die Bremsbelüftungen, um das Diffusordach anzuströmen, Ferrari nützt das Ende der Seitenkästen, damit der Diffusor angeblasen wird.

Brawn gibt zu, dass man beim Mercedes - zumindest vorerst - auf eine vergleichbare Lösung verzichtet: "Das Auspuffsystem ist eher einfach gehalten. Auch wir haben das im Blick, aber wir haben uns für diese konventionelle Variante entschieden. Sie hat ebenso einen aerodynamischen Effekt, aber nicht so viele Nachteile wie die komplizierteren Varianten." Der Brite vermutet, dass diese Lösungen zu einem Überhitzen von Karosserieteilen führen könnte.

Höckernase liegt im Trend

Bei der Nase entspricht der F1 W03 hingegen wieder dem Trend. Auch die Truppe aus Brackley setzt auf den wenig ästhetischen Höcker - die Nase ist allerdings deutlich schmäler als im Vorjahr. Anderson findet die Mercedes-Variante "hübscher" als die der anderen Teams. "Vielleicht gewöhne ich mich aber auch nur daran", ist der Ire nicht ganz sicher. "Es handelt sich beim Mercedes um das zehnte neue Auto und der McLaren ist immer noch das einzige Auto, bei dem man auf ein anderes Konzept setzt", spielt er auf die niedrige Nase des MP4-27.

Mercedes

Auch der Mercedes F1 W02 ist mit einer Höckernase versehen Zoom

Anderson kennt die Vorteile der hohen Variante, die 2009 beim Red Bull RB5 erstmals auftauchte: "Das Chassis ist dadurch höher und erlaubt daher einen größeren Luftstrom zwischen den Rädern. Das öffnet wiederum die Tür zu weiteren Entwicklungen an den Leitblechen."

Wo bleibt der F-Schacht-Frontflügel?

An der Spitze der Mercedes-Nase klafft ein großes Loch. Ein Hinweis, auf den sagenumwobenen F-Schacht-Frontflügel, den das Team Ende der vergangenen Saison im Training mehrmals ausprobierte. Durch das Loch soll Luft über die Halterung in den Frontflügel geleitet werden. Wenn sich die Luft ab einer gewissen Geschwindigkeit staut, wird diese unter das Auto abgeleitet. Der dadurch erzielte Strömungsabriss soll bis zu acht km/h auf der Geraden bringen.


Fotos: Mercedes, Testfahrten in Barcelona


"Wir suchen immer nach neuen Lösungen, sind aber noch zu keinem endgültigen Urteil gekommen", deutet Brawn gegenüber 'Sport Bild' an, dass man die innovative Idee noch nicht zur vollsten Zufriedenheit ausgearbeitet hat. "Konzepte wie diese sind eben sehr knifflig." Dennoch freut sich Anderson gegenüber 'Autosport' beim Anblick des Mercedes-Frontflügels. Seit Jahren kritisiert er, dass man in Brackley stets auf eine Konstruktion mit zwei Flügelelementen setzt - endlich fühlt er sich erhört. "Es freut mich, dass sie meine Kolumnen lesen", scherzt der ehemalige Jordan-Technikchef.

Mercedes F1 W03, Frontflügel

Beim Frontflügel setzt sattelt man von zwei auf drei Elemente um Zoom

"Diese Lösung gibt ihnen ein stabileres aerodynamisches Paket und eine größere Auswahl an Setup-Varianten bei sich verändernden Bedingungen." Abgesehen davon, dass man dieses Jahr von zwei auf drei Elemente wechselte, erinnert der Flügel eher an die Brawn-Lösung aus dem Jahr 2009 als an das 2011er Modell.

Mercedes rüstet bei Aufhängungssystem nach

Beim Aufhängungssystem springen Anderson keine besonderen Auffälligkeiten ins Auge. "Bei der Vorderrad-Aufhängung setzt man auf eine konventionelle Lösung mit einem Doppel-Querlenker, einer Druckstrebe und einem Dämpfer. Was die Geometrie, oder zumindest die Querlenker-Winkel, angeht, ist das System nicht so extrem wie andere."

Das gilt auch für die Hinterrad-Aufhängung: "Hier setzt man auf einen konventionellen Doppel-Querlenker mit einer Zugstrebe und einem Dämpfer. Dieses Paket ist jetzt die Norm und bisher tanzt nur Ferrari mit seiner Zugstreben-Vorderrad-Aufhängung aus der Reihe. Das ist keine große Sache, aber ich denke nicht, dass es zu viele Vorteile haben sollte."

Was Anderson nicht sieht, sind die technischen Raffinessen, die der F1 W03 unter der Haut trägt. Dort befinden sich laut Brawn "die wirklich wichtigen Dinge". So setzt man auf ein hydraulisch vernetztes Fahrwerk, das alle vier Aufhängungen miteinander verbindet, damit das Auto nicht aufschaukelt. Das ist in der Formel 1 inzwischen Standard.

"Während wir es im vergangenen Jahr nachträglich eingebaut haben, ist es nun aber voll in das neue Auto integriert", verrät der Teamchef gegenüber 'Sport Bild' stolz. "Damit haben die Ingenieure jetzt verschiedene Abstimmungs-Optionen für Kurveneingang, -mitte und -ausgang".