• 15.03.2016 19:15

  • von Gary Anderson (Haymarket)

Frag Gary Anderson: Sorgen für McLaren-Honda-Fans?

Vor dem Auftakt der Formel-1-Saison 2016 beantwortet Experte Gary Anderson wichtige Fragen: McLaren-Hoffnungen, Mercedes-Gegner und ganz neue Regeln

(Motorsport-Total.com) - Die Formel 1 ist eine hochkomplizierte Wissenschaft für sich und stellt sogar Insider immer wieder vor große Herausforderungen. Aus diesem Grund beantwortet der ehemalige Jordan-Technikchef Gary Anderson regelmäßig Fanfragen in aller Ausführlichkeit. Heute erklärt uns der Ire, wie die neuen Reifenregeln wirken, wie das "Halo"-System mehr Sicherheit bringt und vor wem sich Mercedes möglicherweise fürchten muss. Außerdem: Warum nicht Honda allein für McLaren-Probleme verantwortlich ist.

Titel-Bild zur News: Gary Anderson

Gary Anderson stellt sich den Fragen der Formel-1-Fans: Starke Antworten des Iren Zoom

Rob Hitchens (E-Mail): "Als McLaren-Fan benötige ich dringend eine Antwort auf diese Frage: Am letzten Testtag war McLaren trotz der Supersofts mehr als 1,5 Sekunden hinter Toro Rosso. Sollten in Woking die Alarmglocken läuten?"
Gary Anderson: "Ich habe vor langer Zeit selbst bei McLaren gearbeitet und bin auch ein wenig Fan der Mannschaft geblieben. Für mich ist es ernüchternd zu sehen, dass ein Team von solcher Klasse seinem Geschäft derart nachgeht. Es scheint dort nicht der alte Kampfgeist zu sein."

"Ich stimme nicht oft mit Mike Gascoyne überein, aber als er neulich bei 'Sky Sports F1' sagte, dass er das Gefühl habe, McLaren verstecke sich hinter den Problemen von Honda, da musste ich ihm zustimmen. Beide Seiten haben einen Haufen Arbeit zu erledigen, bevor McLaren wieder als das Team auftreten kann, das es einmal war."

"Die große Frage lautet: Würde es McLaren mit einem Antrieb von Mercedes oder Ferrari im Heck tatsächlich auf der Strecke mit Mercedes und Ferrari aufnehmen können? Für mich ist die Antwort klar: Nein. Ich fürchte, man muss sich als McLaren-Fans darauf einstellen, dass das Lieblingsteam im unteren Mittelfeld herumfährt. Wenn mal alles perfekt zusammenkommt, dann sind vielleicht ein paar Punkte drin."

Kopieren ist nicht gleich Kopieren

Dan Hawthorn (E-Mail): "Es heißt immer, dass sich die Fahrzeug-Performance bei stabilen Regeln immer weiter angleicht. Warum ist das so? Bei der komplexen Aerodynamik müssten doch neue Konzepte erfunden werden können? Liegt es daran, dass die Teams immer mehr Kopieren? Oder gibt es nur eine einzige goldene Lösung?"
Anderson: "Die Regeln schreiben sehr genau vor, welche Elemente ich wo verbauen darf. Selbst die Formgebung einiger Bauteile ist fest definiert, zum Beispiel die zwei Elemente des Heckflügels oder der Mittelteil des vorderen Leitwerks. Es ist in einigen Bereichen sehr klar vom Reglement vorgegeben."

"Aus diesem Grund ist es schwierig, sich nicht durch das leiten zu lassen, was die anderen tun. Ich würde es nicht einfaches Kopieren nennen. Man sieht, in welche Richtung die anderen etwas entwickeln und versucht dann für sich selbst, die Entwicklungszeit auf dem Weg dorthin möglichst zu verkürzen. Am Rennwochenende wird alles für alle sichtbar. Jedes Team hat Fotografen im Paddock mit dem klaren Auftrag, gewisse Teile der Autos abzulichten."


Fotostrecke: Formel 1: Typenschilder auf vier Rädern

"Man wird dabei im Augenblick sehr auf die Nase und auf die Frontpartie fokussiert sein, denn dieser Bereich ist jener, der die Gesamtperformance am meisten beeinflussen kann. Wenn du es dort richtig hinbekommst, dann wird der Rest des Autos viel besser auf die weitere aerodynamische Entwicklung reagieren."

Säbelrasseln zwischen Mercedes und Ferrari?

Sam Payne (Twitter): "Glaubst du, dass Ferrari Mercedes einholen oder sogar besiegen kann? Werden wir einen echten Titelkampf erleben?"
Anderson: "Einholen und sogar Überholen sind wirklich schwierige Aufgaben. Ich glaube allerdings, dass Ferrari die Lücke so sehr hat schließen können, dass man bei Mercedes nun etwas genauer in den Rückspiegel schauen sollte. Wenn Ferrari das tatsächlich gelingt und etwas Druck aufbauen kann, dann bin ich gespannt, wie Mercedes damit umgehen wird."

"Ich bin sicher, dass sich der ohnehin schon harte interne Zweikampf der Piloten bei Mercedes sogar noch weiter intensivieren wird. Das war alles okay, solange es Nico Rosberg und Lewis Hamilton allein unter sich ausmachen konnten, aber wenn Sebastian Vettel dort nun mitmischen kann, dann wartet der nicht auf eine spezielle Einladung zum Überholmanöver. Warten wir mal auf den Saisonstart. Ich hoffe, dass wir in Melbourne einen offenen Kampf erleben dürfen."


Fotos: Mercedes-Motorsport-Kick-off 2016


Rob Watts (Twitter): "Manor bleibt offenbar bei der langen Nase. Ist das ein Fehler, oder machen sie es richtig, wenn sie sich auf andere Bereiche konzentrieren?"
Anderson: "Ich würde sagen, dass die kurze Variante der neun Teams - auch Force India hat eine lange Version - wohl meine erste Wahl wäre. Unabhängig von den Regularien war es immer so, dass man sich in diesem Bereich nicht so viel verbauen sollte. Hoch, schlank, oder sogar beides gleichzeitig war immer in Mode."

"Wenn man sich in diesem Bereich an das Maximum wagt, dann wird der Rest des Autos darauf reagieren. Als Beispiel sollte man sich dieses vielteilige Bargeboard am Mercedes anschauen. Das brauchen sie dort in dieser Form nur, weil dermaßen viel Luft zwischen den Vorderrädern hindurch dorthin gelangt. Es braucht ein sehr detailliertes Design, um all diese Luft dann zur Abrisskante des Unterbodens zu lenken. Wäre dort nicht so viel Luft, dann bräuchten sie nicht so ein kompliziertes Teil - aber dann hätte Mercedes auch niemals eine solche Performance realisieren können."

Cockpitschutz: "Halo" ist nicht erste Wahl

@eggry (Twitter): "Die Fahrer müssen sich nun die Reifenmischungen schon weit vor dem Grand Prix aussuchen. Wie macht man dies, vor allem bei neuen Strecken und angesichts neuer Mischungen?"
Anderson: "Die Fahrer selbst werden nur geringen Einfluss auf die Reifenwahl haben. Die Entscheidung wird vielmehr auf Grundlage der umfassenden Daten getroffen, die die Teams in den zurückliegenden Jahren gesammelt haben."

"Bei neuen Strecken gehen die Topteams dorthin, messen die Oberflächenbeschaffenheit des Asphalts aus und vergleichen dann mit existierenden Strecken. Dies wird dann kombiniert mit einer sehr genauen Simulation von Lenk- und Bremskräften, die nach detaillierten Satelliten-Vermessung vorgenommen werden kann. Die Kombination dieser Daten zeigt den Teams sehr genau, welche Lasten auf die Reifen einwirken. Dadurch bekommt man eine genaue Vorstellung davon, welche Mischung welche Rundenzeit ermöglicht und wie lange die Reifen halten. Dann muss man entscheiden, ob man auf sicher geht oder etwas Risiko spielt."

Aaron Steele (Twitter): "Welche Belastungstests gibt es für das neue 'Halo'-System? Was muss es aushalten können? Wird es in Spa in Eau Rouge vielleicht doch Probleme mit der Sicht geben?"
Anderson: "Ich fürchte, ich kann nicht genau beantworten, wie der Belastungstest der FIA aussehen wird. Ich weiß, dass sie es probiert haben, ein komplettes Rad samt Reifen bei Tempo 225 km/h dagegen prallen zu lassen. Was mich dabei irritierte war die Tatsache, dass ihnen der Rückprall mehr Sorge bereitete als der eigentliche Aufprall."

Sebastian Vettel

Erlebt die Formel 1 einen Zweikampf zwischen Ferrari und Mercedes? Zoom

"Das Problem ist, dass es niemals alles abhalten kann, was womöglich dort einschlagen wird. Wenn es aber in nur einer einzigen Situation etwas wirklich abhalten kann, dann hat es seinen Zweck erfüllt. Die Sicht wird vielleicht tatsächlich ein Problem, aber ich bin sicher, dass sich die Piloten daran gewöhnen werden. Sie richten ihren Blick immer weit voraus, also dürfte etwas, was so nahe ist wie das 'Halo' schon bald aus ihrem Sichtfeld ausgeblendet werden."

"Ich bin eher der Befürworter einer Schutzscheibe anstatt eines Systems wie 'Halo'. Nehmen wir den Fall Felipe Massa, dem 2009 eine Feder aus einem Dämpfersystem an den Helm geflogen ist. Eine schützende Scheibe kann kleine Objekte, die womöglich an den Kopf des Fahrers fliegen könnten, eher abhalten. Wenn man das angeblich nicht umsetzen kann, dann frage ich mich, wie die Teams in der WEC ihre LMP1-Autos mit komplett geschlossenen Cockpit ausstatten können..."

Sind sich die Autos viel zu ähnlich?

Sarah Stevens (E-Mail): "Wenn man sich die neuen Autos anschaut, dann sieht man kaum Unterschiede oder gar neue Innovationen. Ist es auch für dich so, dass es weniger aufregend ist als noch vor zehn oder 20 Jahren, als die Autos noch mehr Unterschiede aufwiesen?"
Anderson: "Vergiss mal die Aufregung - es ist sogar jetzt noch schwieriger etwas über die neuen Autos zu schreiben! Wenn sie alle gleich lackiert wären, könnte man sie kaum auseinander halten. Es ist etwas schade, dass Innovationen fast komplett verschwunden sind. Werden wir jemals einen neuen Colin Chapman, Gordon Murray oder Adrian Newey finden?"

"Wir sprechen immer davon, dass wir Nachwuchspiloten eine Chance geben müssen. Und was ist mit jungen Ingenieuren? Sie brauchen ebenso solche Herausforderungen. Wie eben bei der Frage von Dan Hawthorn schon angerissen: Es ist immer schwierig, über das hinaus zu denken, was gerade vor dir fährt - wenn die Regularien so eng gestrickt sind."

"Vielleicht ist es Zeit für eine ganz neue Formel. Maximal 100 Leute pro Team, 100 Kilogramm Sprit, zehn Millionen Pfund Budget und am Ende der Boxengasse ein zwei Meter breites und ein Meter hohes Tor. Wenn man die ersten drei Vorgaben erfüllt und der Wagen durch das Tor passt, dann ist es legal."

Calum Edward (Twitter): "Glaubst du, dass die neuen 2017er-Regeln trotz mehr Abtrieb ein solches Verhältnis von Aerodynamik und mechanischem Grip bringen werden, sodass ein Auto dem anderen besser folgen kann?"
Anderson: "Die Details der Regeln sind noch in der Diskussion. Alles, was den Einfluss der Aerodynamik erhöht, verschlimmert auch die Probleme beim Folgen eines anderen Fahrzeuges. Es ist egal, ob es über Ground-Effekt kommt oder nicht, die Verluste durch die Turbulenzen bleiben. Wenn wir bei den aktuellen Werten für Abtrieb bleiben, aber den Aero-Schwerpunkt von Flügeln hin zum Unterboden verschieben, dann wäre das ein guter Schritt. In Kombination mit breiteren Reifen würde sich alles von der Aerodynamik zum mechanischen Grip verschieben. Das wäre eine gute Lösung."