• 16.10.2014 22:02

  • von Gary Anderson (Haymarket)

Ross Brawn: Der Schlüssel zum Mercedes-Erfolg

Gary Anderson blickt auf die bewegte Geschichte des frischgebackenen Konstrukteursweltmeisters aus Brackley zurück: Ross Brawn legte den Grundstein

(Motorsport-Total.com) - Dass Mercedes die Konstrukteurs-Weltmeisterschaft 2014 gewinnen würde, stand im Grunde seit Monaten fest. Beim Grand Prix von Russland ging die vier Jahre dauernde Vormachtstellung von Red Bull endgültig zu Ende. Für das im britischen Brackley ansässige Team war es kein einfacher Weg zum Erfolg. Die Vergangenheit des Rennstalls ist geprägt von Höhen und Tiefen und von mehreren Besitzern.

Titel-Bild zur News: Ross Brawn

Ross Brawn legte den Grundstein für die Mercedes-Erfolge in der Saison 2014 Zoom

Als man zur Saison 1999 als British American Racing (BAR) die Formel-1-Bühne betrat, sagte Adrian Reynard, dass es das Ziel sei, beim ersten Rennen auf der Pole-Position zu stehen. Daran erinnere ich mich noch genau. Doch das Team erlebte ein böses Erwachen. Es gibt viele Leute, die denken, die Formel 1 sei einfach. Ich kann versichern, dass sie alle sehr schnell auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden.

Die BAR-Erfolgserlebnisse waren in der Saison 1999 äußerst rar gesät. WM-Punkte waren Fehlanzeige. Ganze neunmal sah man die Zielflagge. Das beste Ergebnis war Platz sieben von Ricardo-Zonta-Ersatz Mika Salo beim Grand Prix von San Marino in Imola. In der Saison 2000 lief es besser, was nicht zuletzt daran lag, dass ein Honda-Triebwerk den im Vorjahr verwendeten Supertec-Motor ablöste. BAR brachte es auf 20 WM-Punkte, in erster Linie dank der vier vierten Plätze von Jacques Villeneuve.

2001: Erstes Podium für BAR zweieinhalb Jahre nach Debüt

Jacques Villeneuve

Barcelona 2001: Jacques Villeneuve erringt den ersten Podestplatz für BAR Zoom

In der Saison 2001 holte Villeneuve in Spanien und Deutschland die ersten Podestplätze für BAR. Teamkollege Olivier Panis hatte ebenfalls seinen Anteil an den 17 WM-Punkten des Teams in jener Saison. Nach einer durchwachsenen Saison 2002 ging 2003 der Fortschritt weiter. Jenson Button stieß als Teamkollege von Villeneuve zum Team und behielt mit zwei vierten Plätzen die Oberhand gegenüber dem Ex-Weltmeister. Als Team fuhr BAR 26 WM-Punkte ein, so viele wie nie zuvor.

2004 schien dann das Jahr des Durchbruchs zu sein. Der unangefochtene Teamleader Button und Honda-Held Takuma Sato brachten es zusammen auf elf Podestplätze und 119 WM-Punkte. Die Konstrukteurs-Weltmeisterschaft schloss BAR auf Platz zwei ab, wenn auch mit großem Rückstand auf das dominierende Ferrari-Team. 2005 konnte man auf diesen Erfolgen jedoch nicht aufbauen. Ganze zwei Podestplätze, in Summe 38 WM-Punkte und politische Probleme kennzeichneten die Saison. So musste man aufgrund eines untergewichtigen Autos zwei Rennen aussetzen. Im Hintergrund spielten sich längst Veränderungen ab.

2006: Übernahme durch Honda und erster Sieg

Honda hatte schon Ende 2004 45 Prozent der Anteile übernommen, wollte aber die Richtung des Teams noch stärker mitbestimmen. Der einzige Weg, dies zu erreichen, war eine komplette Übernahme. Diese erfolgte zur Saison 2006. Der Anfang war kein schlechter. Beim Grand Prix von Ungarn holte Button für das neu strukturierte Team den ersten Sieg. Er und Rubens Barrichello brachten es zusammen auf 86 WM-Punkte. Das Eis schien gebrochen und das Team, das bereits abgeschrieben war, schien auf dem richtigen Weg. Dank des Budgets von Honda schien alles möglich.

Jenson Button

Jensons Buttons Sieg in Budapest 2006 blieb eine Eintagsfliege für das Honda-Team Zoom

Doch die Saison 2007 war ein einziges Desaster. Jenson und Rubens fuhren mit einem fürchterlichen Auto nicht mehr als sechs WM-Punkte ein. Bei Honda wusste man, dass die Dinge grundlegend schiefliefen und traf jene Entscheidung, die unterm Strich die Basis für die in der laufenden Saison unter dem Namen Mercedes eingefahrenen Erfolge legen sollte: Man verpflichtete Ross Brawn.

Ross ist ein Mensch, der ganz genau weiß, was notwendig ist, um zu gewinnen. Er hatte großen Anteil an allen sieben WM-Titeln von Michael Schumacher und - wichtiger noch - formte aus dem strauchelnden Ferrari-Team eine Mannschaft, die über Jahre an der Spitze fuhr. Es ist bezeichnend, dass Ferrari seit Brawns Abschied nur einen einzigen Titel, den Konstrukteurstitel 2008, errungen hat.

Hätte Brawn derartige Erfolge auch mit Honda erringen können? Ihm wurde die Blankovollmacht übertragen und er realisierte sehr schnell, dass man die Saison 2008 abschreiben müsse um sich vollends auf die zur Saison 2009 neu eingeführten Regeln konzentrieren zu können. 2009 war für ihn ein realistisches Ziel für Erfolge und er sollte Recht behalten.

Brawn opfert Saison 2008 für WM-Jahr 2009

Die vom Team in der Saison 2008 eingefahrenen 14 WM-Punkte sollten nicht mehr als die unvermeidbare Konsequenz einer kompletten Konzentration auf das darauffolgende Jahr sein. Doch im Zeichen der Weltwirtschaftskrise zog sich Honda wie ein begossener Pudel nach Japan zurück. Die nicht vorhandene Performance und die finanzielle Situation hätten es einfach gemacht, das Team zuzusperren. Honda wollte einfach schnell weg. Man überließ das Team - zusammen mit einem Scheck, um 2009 weitermachen zu können - Brawn und den anderen Führungskräften. Honda sah in diesem Weg eine günstige Fluchtstrategie.

Jenson Button, Rubens Barrichello

Im Übergangsjahr 2008 brachten Button/Barrichello kein Bein auf den Boden Zoom

Brawn war gerade dabei, das Team umzukrempeln und das Auto für die Saison 2009 zu entwerfen und zu entwickeln, als er den Anruf aus Japan erhielt, dass sich Honda komplett zurückziehen würde. Für ihn war das nichts anderes als ein Schock. Was ihn im Glauben weiterzumachen bestärkte, war die Erkenntnis, wie gut das neue Auto ist.

Als das Auto - lange nach allen anderen - zum ersten Mal auf die Teststrecke ging, war die gesamte Welt, darunter auch Brawn und Button, überrascht. Das Auto tat genau das, was sich Jenson von einem Auto wünschte. Mit einem Mercedes-Motor im Heck verfügte man über das entsprechende Paket, um den WM-Titel zu gewinnen.

Die Trendwende beim Vergleich der Jahre 2007/2008 (Honda) und 2009 (Brawn) ist dramatisch, wie die folgenden Zahlen belegen. Man kann nur erahnen, wie sehr sich Honda rückblickend gewünscht haben muss, nicht den Stecker gezogen zu haben...

2007: Kein Podestplatz, kein Sieg, sechs WM-Punkte (zwei Prozent der erreichbaren Punkte)
2008: Ein Podestplatz, kein Sieg, 14 WM-Punkte (vier Prozent der erreichbaren Punkte)
2009: 15 Podestplätze, acht Siege, 172 WM-Punkte (56 Prozent der erreichbaren Punkte)

Doch es war kein einfacher Weg. Zwar waren die Ergebnisse gut genug, um 2009 beide WM-Titel zu gewinnen, doch die Zukunft stand in den Sternen. Ausgaben mussten zurückgeschraubt, Mitarbeiter mussten entlassen werden. Unterm Strich ging es darum, was man aus dem 2009er-Auto noch herausholen konnte und einfach darum, zu überleben.

Nach zwei WM-Titeln: Brawn verkauft das Team an Mercedes

In Wahrheit spielte der Wechsel zum Mercedes-Motor im Zusammenhang mit dem Erfolg eine große Rolle. Honda glaubte immer, den besten 2,4-Liter-V8-Motor gebaut zu haben, doch dem war einfach nicht so. Es geht nicht immer nur darum, wie viel Leistung ein Motor hat. Es gibt so viele andere Faktoren, die dazu beitragen, dass das Gesamtpaket des Motors ein gutes ist. Mit einem Honda-Motor im Heck hätte der 2009er-Brawn sicherlich Erfolge eingefahren. Es ist aber nicht sicher, dass es für diese Kombination zum WM-Titel gereicht hätte.

Jenson Button, Ross Brawn

2009 gewann Brawn-Pilot Button den Fahrer-, das Team den Konstrukteurstitel Zoom

Während Button und Barrichello in der Saison 2009 von Erfolg zu Erfolg fuhren, arbeiteten Brawn und die Mitbesitzer des Teams im Hintergrund an einem Deal, den Rennstall an Mercedes zu verkaufen. Die Idee sah ein effizientes, schlüsselfertiges Weltmeisterteam vor. Michael Schumacher kehrte aus dem Ruhestand zurück und Nico Rosberg wurde als Teamkollege unter Vertrag genommen. Man sprach bereits vom Gewinn eines weiteren WM-Titels.

Die Auswirkungen der in der Saison 2009 vorgenommenen Kürzungen waren aber unübersehbar. Plötzlich war klar, dass es Zeit brauchen würde, sich von Hondas Rückzug zu erholen. Mercedes fand ein solides Team vor, das aber weit davon entfernt war, ein großartiges Team zu sein. Die richtigen Leute für eine effiziente Zusammenarbeit findet man nicht mal eben in fünf Minuten. Es war klar, dass der Aufschwung Zeit brauchen würde.

Die ersten beiden Jahre des neuen Mercedes-Teams waren nicht von Erfolg gekrönt. 2010 sprangen ganze drei Podestplätze heraus, 2011 kein einziger. Im Jahr 2012 allerdings gab es Anzeichen für den Aufschwung: Rosberg gewann den Grand Prix von China.

2010: Drei Podestplätze, kein Sieg, 214 WM-Punkte (26 Prozent der erreichbaren Punkte)
2001: Kein Podestplatz, kein Sieg, 165 WM-Punkte (20 Prozent der erreichbaren Punkte)
2012: Drei Podestplätze, ein Sieg, 142 WM-Punkte (17 Prozent der erreichbaren Punkte)

Anschließend die Trendwende: Schumacher trat zurück. Für die Saison 2013 wurde Lewis Hamilton als neuer Teamkollege von Rosberg verpflichtet. Das Tempo des Autos war besonders in der ersten Saisonhälfte beeindruckend. Ohne die im Vergleich zu den anderen Teams massiven Probleme mit dem Reifenverschleiß an der Hinterachse hätte Mercedes viel mehr Rennen gewonnen und viel mehr WM-Punkte eingefahren.

Ende 2013: Doppelspitze Wolff/Lowe löst Brawn ab

Zum Ende der Saison verließ Brawn das Team. In Wahrheit war seine Arbeit längst erledigt. Die von ihm angestoßenen Verpflichtungen hochkarätiger Techniker wie Aldo Costa, Geoff Willis und Bob Bell sowie der Aufbau einer Struktur, welche die verstärkt vorhandenen Mercedes-Ressourcen optimal zu nutzen versteht, waren der Schlüssel zum Erfolg, den wir in der Saison 2014 beobachten.

Paddy Lowe und Toto Wolff

Paddy Lowe und Toto Wolff: Seit Brawns Abschied die Mercedes-Spitze Zoom

Zusammen mit der hervorragenden Arbeit der Techniker in Brixworth, die es verstanden haben, einen Antriebsstrang zu bauen, der nicht nur der beste im Feld ist, sondern auch sehr gut ins Chassis integriert ist, kommt unterm Strich ein Team heraus, das nur dann schlagbar ist, wenn es sich selbst schlägt.

Das Management ist inzwischen ein anderes. Paddy Lowe und Toto Wolff bilden eine Doppelspitze. Das ist nicht besser, nicht schlechter, einfach anders. Anhand dessen, was wir bisher gesehen haben, muss man es ihnen hoch anrechnen, was das Team nach Brawns Abschied erreicht hat.

Da es Ross geschafft hat, die Struktur so funktionieren zu lassen wie er sich das vorstellte, sollte man davon ausgehen können, dass es so weitergeht - bis jemand entscheidet, etwas verändern zu müssen oder - was wahrscheinlicher ist - bis sich jemand in den Vordergrund schieben will...

2013: Neun Podestplätze, drei Siege, 360 WM-Punkte (44 Prozent der erreichbaren Punkte)
2014: 26 Podestplätze, 13 Siege, 565 WM-Punkte (82 Prozent der erreichbaren Punkte)

Die Frage ist, ob es Mercedes gelingt, eine Achterbahnfahrt wie sie für das in Brackley stationierte Team seit der Gründung typisch ist, zu vermeiden. Mit Blick auf die Performance in der Saison 2014 scheint es wenig Zweifel zu geben, dass man auch 2015 äußerst konkurrenzfähig sein wird. 2015 wird aber auch das Jahr sein, in dem wir herausfinden, ob das Team das Zeug hat, ohne eine leistungsfähige Figur wie Brawn dauerhaft Erfolg zu haben.


Fotostrecke: Mercedes: Der Weg zum Konstrukteurstitel

Red Bull hat die Messlatte mit vier aufeinanderfolgenden Konstrukteurstiteln hoch gelegt. Mercedes muss diese Marke egalisieren oder sogar noch verbessern, um wirklich als erfolgreich zu gelten. Die Saison 2014 sollte jedenfalls kein Strohfeuer bleiben. Schließlich wird Erfolg nicht nur daran gemessen, wie gut du selbst deine Sache machst, sondern auch daran, wie gut oder schlecht sich die Konkurrenz schlägt.

Das 2014er-Paket von Red Bull reicht bei weitem nicht an die Performance der vergangenen Jahre heran. Mercedes kann sich aber nicht darauf verlassen, dass Red Bull über Jahre hinweg den Underdog spielt. Bei Ferrari arbeitet man hart daran, in die Erfolgsspur zurückzufinden. Wir dürfen nicht vergessen, dass Williams als Kundenteam dem Werksteam von Mercedes auf den Fersen ist und wir stehen kurz vor der Rückkehr von McLaren-Honda. Es gibt also reichlich Potenzial für eine deutlich stärkere Konkurrenz 2015.

Wäre Brawn noch am Ruder, würde er längst daran arbeiten, den langfristigen Erfolg des Teams sicherzustellen. Genau das ist es, was man auch vom neuen Management erwarten muss. Wie man bei Red Bull gelernt hat, dauert eine Erfolgsserie in der Formel 1 nicht ewig an. Vielmehr muss man seinen Platz an der Spitze des Feldes Jahr für Jahr aufs Neue rechtfertigen.