powered by Motorsport.com

Fluch oder Segen? Formel 1 versinkt im Reifenchaos

Wie ein Temperaturunterschied von zehn Grad Red Bull völlig aus der Bahn warf, wen Vettel und Webber als WM-Kandidaten sehen und wieso die Teams verzweifeln

(Motorsport-Total.com) - Zahlreiche Überholmanöver. Fünf verschiedene Sieger in fünf Rennen auf fünf unterschiedlichen Fabrikaten. Außenseiter, die plötzlich Rennen gewinnen. Ein völlig unberechenbarer Titelkampf. In der Erfolgsära von Michael Schumacher und Ferrari vor rund zehn Jahren hätte man es wohl kaum für möglich gehalten, dass es sich bei diesen Eckdaten um die Formel 1 handelt, schließlich wurde die Königsklasse des Motorsports damals schon zynisch als "Formel Fad" bezeichnet.

Titel-Bild zur News: Sebastian Vettel

Nicht einmal Weltmeister Vettel hat bei den Reifen den Durchblick

Davon kann anno 2012 nicht mehr die Rede sein. "Für mich gibt es sechs Sieger in fünf Rennen", freut sich Ex-Formel-1-Pilot Alex Wurz in der 'SportWoche'. "Fünf verschiedene Piloten und die Formel 1 selbst." Doch nicht alle teilen die Euphorie des Österreichers. Kritik an der aktuellen Formel 1 kommt aber nicht nur von manchen Akteuren der Topteams, die ihre Felle davon schwimmen sehen, sondern sogar von Fans und Experten, denen die Formel 1 inzwischen zu undurchschaubar geworden ist.

Lauda wünscht sich wieder "logische Rennen"

"Ich persönlich finde in meinen dummen Kommentaren überhaupt keinen Weg zu verstehen, was hier los ist", gibt Niki Lauda, der als TV-Experte tätig ist, gegenüber 'ServusTV' in seiner unnachahmlichen offenen Art zu. "Es ist toll, dass es fünf Rennen mit fünf verschiedenen Siegern gegeben hat, das können wir uns einfach nicht erklären. Wenn das so weitergeht, sind wir bis Ende des Jahres alle konfus."

Daher wünscht sich der Österreicher eine Rückkehr zu "etwas halbwegs berechenbarem. Im vergangenen Jahr, als Sebastian mit dem Red Bull fast alles gewonnen hat, war es fast schon langweilig. Jetzt ist es aber so konfus, dass man nicht mehr folgen kann. Bis jetzt war es gut, aber jetzt muss die Kehrtwende zu logischen Rennen erfolgen."

"Ich persönlich finde in meinen dummen Kommentaren überhaupt keinen Weg zu verstehen, was hier los ist." Niki Lauda

Wer knackt das Reifenpuzzle?

Doch wie ist es möglich, dass dieses Jahr plötzlich Teams Rennen gewinnen, die im Vorjahr noch am Ende des Feldes lagen? Oder, dass Piloten, die bei einem Rennen um den Sieg fahren, wenige Tage später überrundet werden? Der Schlüssel liegt ganz klar im schwarzen Gold der Formel 1, den Pirelli-Reifen.

"Die Reifen sind der entscheidende Faktor im Moment", bestätigt Red-Bull-Teamchef Christian Horner. "Man muss die Reifen verstehen, muss wissen wie sich unterschiedliche Temperaturen und Bedingungen auswirken." Kein leichtes Unterfangen, denn Pirelli hat dieses Jahr einen Reifen gebaut, der nur in einem extrem kleinen Temperaturfenster funktioniert.

Das sorgt bei den Technikern für rauchende Köpfe. Das beste Beispiel ist Mercedes: In Melbourne und Sepang war die Truppe um Nico Rosberg und Schumacher in den Rennen wegen des enormen Reifenverschleiß' chancenlos, in Schanghai hatten plötzlich alle Teams Probleme, weil sie die Reifen nicht auf Temperatur brachten - nur bei den "Silberpfeilen" harmonierten Reifen, Asphalt, Auto, Wetter und Fahrstil.

Pastor Maldonado, Fernando Alonso

Barcelona: Viel Reifengummi auf der Strecke und ein Williams in Front Zoom

"Das ist ein Puzzle", weiß Horner. "Das Team, welches am konstantesten ist, setzt sich durch." Doch während Vettel im Vorjahr in den ersten neun Rennen nie schlechter war als Zweiter, gleicht seine aktuelle Saison einer Achterbahnfahrt - das beweisen die Positionen zwei, elf, fünf, eins und sechs. Selbst das Weltmeisterteam, das auch dieses Jahr den WM-Leader stellt, konnte das Reifenpuzzle noch nicht zusammenfügen.

Horner gibt Verwirrung zu

Das ist für das österreichische Team mit Sitz in Milton Keynes frustrierend, denn es beweist, dass selbst die enormen Ressourcen von Red Bull und der beste Designer der Formel 1 in den eigenen Reihen nicht ausreichen, um der Reifen Herr zu werden. "Warum wir in der WM führen, das ist verwirrend", gibt selbst Horner zu. "Es ist schwer zu verstehen, was die Reifen machen. Was die Reifen brauchen, wissen wir auch nicht hundertprozentig. Das weiß wohl kaum jemand. Derjenige, der das am schnellsten auf die Reihe bekommt, wird sich durchsetzen."

Wer das sein wird, kann man im Moment noch nicht abschätzen, obwohl man nach dem Grand Prix von Bahrain bereits geglaubt hatte, dass Red Bull das Reifenrätsel geknackt hat, ehe die Weltmeister-Truppe in Barcelona einen Rückschlag hinnehmen musste.

Red-Bull-Piloten haben Ahnung, wer um WM fährt

Weltmeister und WM-Leader Vettel hütet sich gegenüber 'ServusTV' jedenfalls davor, den Hauptkonkurrenten um den Titel zu nennen. Das sei "im Moment" nicht möglich. Dennoch ortet er Tendenzen. "Es lässt sich schon herauskristallisieren, wer im engeren Kreis ist. Abgesehen von hoffentlich uns beiden wird ein Fernando dabei sein, weil er einfach einer der besten ist, weil er konstant ist. Genauso beide McLaren-Fahrer. Aber wenn es so weiter geht? Ich habe schon gescherzt und gesagt, vielleicht steht in Monaco Timo Glock auf der Pole, was ich ihm gönnen würde."

Teamkollege Mark Webber schätzt die Situation ähnlich ein und glaubt damit ebenfalls nicht, dass eines der Überraschungsteams Williams und Sauber mithalten wird können. "Es sind die üblichen Verdächtigen, die immer sehr konstant fahren", vermutet der "Aussie" gegenüber 'ServusTV'. "Fernando, Seb, Button, Lewis, ich, Kimi. Alles ist offen im Moment."

"Vielleicht steht in Monaco Timo Glock auf der Pole." Sebastian Vettel

Webber fällt auf, dass der WM-Leader derzeit 61 Punkte auf seinem Konto hat: "Das ist recht wenig." Tatsächlich handelt es sich um einen Negativrekord seit Einführung des neuen Punktesystems 2010. Dabei hatte man nach der turbulenten Auftaktphase im Vorjahr, als die Teams mit den plötzlich abbauenden neuen Pirelli-Reifen völlig überfordert waren, damit gerechnet, dass sich die Konstrukteure dieses Jahr bereits auf die Pneus eingestellt haben. Eine Tendenz, die sich im Vorjahr abgezeichnet hatte, als die Überraschungsmomente und die Anzahl der Stopps im Laufe der Saison immer geringer wurden.

Wie das Wetter Red Bull aus der Bahn warf

Doch warum fangen dieses Jahr alle wieder bei Null an, obwohl die Reifen nach wie vor vom gleichen Hersteller stammen? "Die Reifen haben sich völlig verändert gegenüber dem Vorjahr", erklärt Horner den Grund. "Sie verhalten sich ganz unterschiedlich, auf unterschiedlichen Asphaltbelägen, auf unterschiedlichen Strecken."

Da können schon mal die Nerven blank liegen. "Kann mir einer erklären, wie der Maldonado von einem Satz Reifen zum nächsten acht Zehntel in Sektor drei gewinnt? Wohl gemerkt, nicht auf eine Runde, sondern nur in einem Sektor", wunderte sich Red Bulls Motorsportkonsulent Helmut Marko nach dem Barcelona-Wochenende gegenüber 'auto motor und sport'. "Und weiß einer, warum unser Auto innerhalb von zwei Stunden plötzlich seinen ganzen Grip verliert?"

Sebastian Vettel

Sebastian Vettel diskutierte in Barcelona viel mit den Pirelli-Technikern Zoom

Horner liefert die Erklärung und verweist auf das fragile Netz aus unterschiedlichen Parametern, dessen Zusammenspiel sich enorm auswirkt. "Am Samstag waren wir noch enorm schnell und hatten dann Probleme im Qualifying. Da ging es nur um zehn Grad Temperaturunterschied, eine etwas andere Windrichtung, das hat schon viel ausgemacht. Wir haben eine Menge cleverer Leute im Team, die sich darauf konzentrieren, das herauszufinden."

Leistungsdichte verschärft Reifenproblem

In den Rennen bringt dann auch noch die große Leistungsdichte die Teams an die Grenze. Weil das Niveau so ausgeglichen ist, setzen manche Strategen auf eine unkonventionelle Herangehensweise, damit man nicht ständig im Pulk fahren muss und sein Tempo selbst bestimmen kann. Dass man dadurch die Reifen zusätzlich belastet, versteht sich von selbst, da man oft länger auf einem Satz bleiben muss, will man keinen zusätzlichen Stopp einlegen.

Doch vor allem Red Bull sieht sich oft zu solchen Schritten gezwungen, wenn man nicht wie in den vergangenen Jahren von vorne starten kann. Der Grund ist der geringe Topspeed des RB8, der Überholmanöver erschwert. Das beste Beispiel war Webbers aussichtsloser Kampf gegen Force-India-Pilot Nico Hülkenberg in Spanien, an dem der "Aussie" trotz deutlich besseren Materials nicht vorbeikam.

Kein Wunder, dass Vettel und Webber oft die ersten an der Box sind. "Man kommt rein und wechselt, wenn nichts mehr weitergeht", bestätigt der Weltmeister, dass die teils sehr frühen Stopps vor der zehnten Runde nicht immer auf den hohen Verschleiß zurückzuführen sind. "Man holt sich einen frischen Satz, kann wieder attackieren, hat freie Fahrt. Sowas spielt auch mit rein. Die Fahrer, die als erste reingekommen sind, hätten vielleicht noch zwei, drei, vielleicht fünf Runden länger fahren können."

Leidet der Fahrspaß?

Mercedes-Star Schumacher hatte in den vergangenen Jahren immer wieder gemeint, dass das Fahren mit den weniger haltbaren Reifen, die Qualifying-Tempo im Rennen verunmöglichen, den Spaßfaktor im Cockpit massiv beschneiden. Vettel ist anderer Meinung: "Es ist immer noch was ganz besonderes, so ein Auto überhaupt fahren zu dürfen. Es ist unheimlich schwer, das zu beschreiben. Und das wird hoffentlich auch so bleiben, auch wenn die Reifen abbauen."

Auch von Resignation aufgrund der kaum zu durchblickenden Situation will der 24-Jährige nichts wissen: "Das wäre jetzt glaube ich falsch, wenn man denkt, dass die Fahrer heute mit dem Gefühl aufstehen, keine Hoffnung mehr zu haben oder den Glauben an die Formel 1 verloren haben - das ist Schwachsinn. Der Spaß, die Faszination und der Wille, das letzte Bisschen noch herauszuholen, sind nach wie vor ungebrochen - das hat sich ja nicht verändert. Auch wenn die Reifen vielleicht stärker abbauen als vor zwei drei Jahren. Aber es gibt immer Dinge, an die man sich als Fahrer anpassen muss."

"Es ist Schwachsinn, dass die Fahrer heute keine Hoffnung oder den Glauben an die Formel 1 verloren haben." Sebastian Vettel

Der Red-Bull-Pilot sieht trotz der größeren Bedeutung auch nach wie vor den Fahrer als entscheidendes Element: "Ich glaube, dass man immer noch den Unterschied machen kann, auch wenn man hie und da vielleicht ein bisschen ausgeliefert ist." Horner ist währenddessen bewusst, dass die Reifen dieses Jahr "ein größerer Faktor sind als sie es jemals waren".

Durchhalteparolen bei Red Bull

Und obwohl das ein Mitgrund dafür ist, dass sein Rennstall die Dominanz der vergangenen Jahre verloren hat, sieht er das Positive. "Das Gute daran ist, dass es für alle gleich ist. Wir wissen, dass wir die gleichen Reifen wie alle anderen haben. Wir als Team müssen das auf die Reihe kriegen und das so gut optimieren, wie es nur geht. Das Team, das das schafft, steht am Ende des Jahres vorne."

Würde es einem Fahrer helfen, den Kontakt zu Pirelli und Motorsportchef Paul Hembery zu intensivieren, um dem Geheimnis der Reifengeneration 2012 auf den Grund zu gehen? Der Brite meinte, dass es immer wieder Piloten gibt, die ihn um Daten bitten würden, um bei der Abstimmungsarbeit besser durchzublicken.

Webber hält dies aber für wenig zielführend und sieht es als Aufgabe der Fahrer und Teams an, das Reifenrätsel zu entschlüsseln. "Die Fahrer haben technisch gesehen nichts mit dem Reifen zu tun", sagt der Routinier. "Im Reifenkrieg haben die Reifenhersteller sehr intensiv mit uns Fahrern zusammengearbeitet, aber Pirelli ist der einzige Reifenlieferant, und die kriegen das sehr gut hin. Es liegt daher an uns - den Fahrern, den Ingenieuren, dem Team -, dieser Lage Herr zu werden. Wir haben zwei Reifenmischungen und eine gewisse Streckentemperatur, und da müssen wir das Optimum herausholen."