• 19.04.2011 13:19

  • von Stefan Ziegler

Der neue Qualifikations-Modus: Fluch oder Segen?

Wer in Q1 zur Bestzeit fährt, startet in Lauf zwei von der Pole-Position: Dieses System findet im Fahrerlager der WTCC noch nicht sehr viele Freunde

(Motorsport-Total.com) - Pünktlich zur neuen Rennsaison der WTCC führten die Verantwortlichen einen neuen Qualifikations-Modus ein, um das mutwillige Zurückfallen im ersten Rennen eines Wochenendes zu verhindern. Im vergangenen Jahr war es mehrfach vorgekommen, dass Piloten plötzlich langsam wurden, um zum Rennende auf Rang acht einzulaufen. Diese Position sicherte ihnen Startplatz eins im zweiten Lauf.

Titel-Bild zur News: Gabriele Tarquini

Der Kampf um die Startplätze hat an Schärfe gewonnen: Taktieren ist angesagt

Ein solches Taktieren wird es 2011 nicht mehr geben - zumindest nicht im Rennen, denn ab sofort ist einzig und alleine die Qualifikation maßgeblich für die Startaufstellung beider Läufe: Q1 ergibt in Kombination mit dem Top-10-Shootout Q2 die Reihenfolge für Rennen eins. In Rennen zwei startet das Feld erneut gemäß der Ergebnisse von Q1, die Top 10 fahren in umgekehrter Reihenfolge los.

Ein Modus, der WTCC-Promoter Marcello Lotti sehr zusagt. "Ich finde diese Regelung klasse. Den Anstoß dazu gaben uns die Hersteller. Im vergangenen Jahr war es nämlich recht einfach, im ersten Rennen um den achten Platz zu kämpfen. Gleichzeitig war es auch gefährlich. Der Name des Fahrers, der sich 2010 mehrfach auf diese Position zurückbremste, ist mir gerade entfallen", witzelt Lotti.

Der Italiener spielt freilich auf Chevrolet-Pilot Alain Menu an, der sich bei mehreren Gelegenheiten aus den vorderen Rängen zurückfallen ließ, um schließlich in Lauf zwei aus der ersten Startreihe antreten zu können. Für ein solches Verhalten wurde der Schweizer zum Beispiel in Brands Hatch mit einer Strafe belegt. 2011 schoben die Verantwortlichen derlei Aktionen komplett einen Riegel vor.

Lotti findet Gefallen am neuen Modus

"Wir wollten etwas verändern und entschieden uns dazu, die Qualifikation dafür herzunehmen", erklärt Lotti. "Bei diesen neuen Regeln kannst du nicht zocken, denn das Risiko ist zu groß. In den letzten Augenblicken von Q1 gibt es viele Autos, die noch den Sprung in die Top 10 schaffen könnten. Die Fahrer können einfach nicht den zehnten Platz anpeilen. Ich finde das gut", gibt Lotti zu Protokoll.

"Unterm Strich muss es doch darum gehen, sich die Teilnahme an Q2 zu sichern." Marcello Lotti

"Unterm Strich muss es doch darum gehen, sich die Teilnahme an Q2 zu sichern. Warum sollte man dieses Ergebnis nicht dazu verwenden, die Startaufstellung für Lauf zwei festzulegen?", fragt der Promoter der Tourenwagen-WM. "Für die Privatiers stellt das doch eine gute Lösung dar, damit auch sie einmal von vorne losfahren können. Anders wäre das wohl nur schwierig zu bewerkstelligen."

Dass die unmittelbar Beteiligten diese Ansicht nicht teilen, ist Lotti bewusst. "Manche Piloten machten bereits negative Stimmung gegen dieses System und meinten, es sei einfach, in Q1 auf Platz zehn zu fahren. Wir haben ja gesehen, wie einfach es ist", meint der Italiener im Hinblick auf Brasilien. "Einer, der auf Position zehn spekulierte, schied vorzeitig aus." Überraschung: Es handelte sich um Menu...

Muller hält nichts vom Quali-System

Dessen Teamkollege Yvan Muller (Chevrolet) ist einer der großen Gegner des neuen Modus', wie er 'Motorsport-Total.com' im Fahrerlager von Curitiba verriet. "Dieses Thema beschäftigt mich sehr. Es geht mir einfach nicht aus dem Kopf. In der Nacht von Samstag auf Sonntag hatte ich nur diesen einen Gedanken. Für mich ist es einfach nur sehr frustrierend", hält der WTCC-Titelverteidiger fest.

"Wir nun haben, ist aber ein bisschen zu viel des Guten. Es ist eine Lotterie." Yvan Muller

"Wir fahren in einer Weltmeisterschaft und da kann es nicht darum gehen, den WM-Titel mit Glück zu erobern. Glück gehört natürlich zum Rennsport dazu, gar keine Frage. Was wir nun haben, ist aber ein bisschen zu viel des Guten. Es ist eine Lotterie", sagt Muller. "Wäre ich in der Qualifikation nur ein Zehntel langsamer gewesen, hätte ich für Lauf zwei den zweiten oder dritten Startplatz gehabt."

"Vielleicht hätte ich das zweite Rennen dadurch gewonnen. Mit dieser Geschichte habe ich einfach ein Problem", stellt der französische Rennfahrer klar und schildert die erste Qualifikation des Jahres - nach dem neuen System - aus seiner Sicht: "Nach dem ersten Versuch in Q1 stand ich auf der Pole-Position. Ich war nicht der Schnellste, sondern hatte einfach nicht so viel Tempo herausgenommen."¿pbvin|0|3543|wtcc|0|1pb¿

WM-Punkte für das Zeittraining?

"Da dachte ich mir: 'Oh verflixt, ich stehe auf der Pole-Position!' So etwas habe ich mir in 32 Jahren Rennsport noch nie gedacht. Kannst du dir das vorstellen?", meint Muller. "Diese Regelung ist nicht sonderlich gut. Ich hoffe, es lässt sich eine bessere Lösung finden. Wenn nicht, dann werde ich mich eben damit arrangieren müssen", erklärt der Weltmeister. Einen Vorschlag hat Muller schon parat.

"Die umgekehrte Startaufstellung an sich geht eh in Ordnung." Yvan Muller

"Wie wäre es denn, wenn es für Q1 ein paar WM-Punkte geben würde? Das würde dich für deine Leistung belohnen und im zweiten Rennen würde wirklich das schnellste Auto von Platz zehn aus losfahren", erläutert Muller. "Die umgekehrte Startaufstellung an sich geht eh in Ordnung. Das tut der Show gut und schafft Abwechslung. Nur: Der jetzige Modus ist nicht besonders glücklich, finde ich."

Tiago Monteiro (Sunred) stimmt seinem früheren Teamkollegen zu und bezeichnet das neue System als "kompletten Blödsinn". "Es ist jetzt keine Qualifikation mehr, sondern eine reine Lotterie. Da könnten wir ja auch gleich Hölzchen ziehen", wettert der Portugiese. "Das Verrückte daran ist: Weshalb muss ich als Rennfahrer nun plötzlich davon ausgehen, dass die anderen nicht voll fahren?"

Wer sich auf Platz zehn bremst, gewinnt

Damit hatte Monteiro beim Saisonauftakt nicht gerechnet. Der 24-jährige SEAT-Pilot fuhr in Q1 zur Bestzeit und erzielte damit nichts anderes als Startplatz zehn im zweiten Lauf. "Wahrscheinlich hätten wir es in Q1 einfach etwas langsamer angehen lassen sollen. Das war ein strategischer Fehler auf unserer Seite. Wir hätten ein bisschen Tempo herausnehmen sollen", hält Monteiro rückblickend fest.

"Man kann nur schwer vorhersehen, was die anderen tun." Tiago Monteiro

"Man kann aber nur schwer vorhersehen, was die anderen tun. Ich bin jedenfalls nicht zufrieden mit diesem System. Ich weiß auch nicht, wie es im Fernsehen rüberkommt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es den anderen Fahrern gefällt. Ich halte es nicht für die richtige Herangehensweise", sagt der frühere Formel-1-Fahrer. Tom Coronel (ROAL) ist anderer Ansicht und sieht die positiven Seiten.

"Wir haben ein neues System und damit muss man sich anfreunden", erläutert der Niederländer. "Es ist immerhin besser als 2010. Da war es doch so, dass dein Wochenende hinüber war, wenn du im ersten Rennen einen Ausfall hattest. Das war ein Problem. So etwas kommt dich teuer zu stehen. Jetzt ist es anders, denn nun hast du im Fall der Fälle noch eine zweite Chance in Rennen zwei."

Neuer Modus: Erst einmal abwarten?

"Ich halte es für eine gute Entwicklung für die Meisterschaft. Das schafft mehr Spannung", meint Coronel. "Außerdem siehst du als TV-Zuschauer eh nicht, ob ein Fahrer nun mit Absicht zwei Zehntel langsamer war oder nicht. Das merkst du nicht. Du darfst halt nicht zu viel rechnen. Wer sich zu viele Gedanken darüber macht, wird von diesem System bestraft. Das ist eigentlich das Schöne daran."

"Das aktuelle System ist das beste, das wir je hatten." Tom Coronel

"Das aktuelle System ist das beste, das wir je hatten. Das ist eine politische Antwort, aber so ist es nun einmal. Die WTCC macht gute Fortschritte", gibt Coronel zu Protokoll. Der einzige Deutsche in der Tourenwagen-WM, Franz Engstler (Engstler), plädiert ebenfalls dafür, das Gute an der neuen Lösung in den Vordergrund zu stellen: "Man sollte nicht immer alles gleich negativ sehen."


Fotos: WTCC in Curitiba


"Gehen wir es positiv an und hoffen, dass es ausgeglichen ist. Das Feld ist unglaublich stark und es geht eng zu. Da hat man als Veranstalter sicher nichts falsch gemacht", sagt Engstler. Er halte den neuen Modus "nicht unbedingt für glücklich", glaube aber, "dass das Taktieren erst zur Jahresmitte richtig an Fahrt gewinnen wird". Dann könne man sein neues Fahrzeug deutlich besser einschätzen.

Zu viele Regeln für die Zuschauer zuhause

"Im Moment muss jeder schauen, seine Runde auf den Punkt zu bringen. Ich denke nicht, dass man da sagen kann: 'Ich fahre jetzt eine Zehntel schneller oder langsamer.' Das ist zumindest bei uns nicht drin. Wenn man sein Auto ein bisschen besser kennt und den Spielraum hat, dann kann man vielleicht ein bisschen taktieren", meint der Privatier. Vollkommen schmeckt ihm das System allerdings nicht.

"Meine Meinung ist, dass ich nach einem guten Q1 nicht bestraft werden sollte." Franz Engstler

"Meine Meinung ist, dass ich nach einem guten Q1 nicht bestraft werden sollte", sagt Engstler. Für Fredy Barth (SEAT-Swiss) ist nun zu viel taktisches Kalkül im Spiel: "All das versteht ja kein Mensch mehr. Das ist ja selbst uns langsam etwas zu viel des Guten. Wie soll denn ein Außenstehender mitkriegen, was genau da abläuft?", fragt der Schweizer. Er befürwortet "ein normales Qualifying".

"Dann kann man die Startaufstellung meinetwegen umdrehen und die Favoriten müssen sich wieder nach vorne kämpfen. Das ist doch toll. Die Fans wollen ja schließlich Geschwindigkeit und Duelle sehen. Gewinnen tut eh immer nur der Beste. Von daher ist ja nichts verfälscht", meint Barth. Ob das aktuelle System "die Fans vom Hocker reißt", wisse er nach dem ersten Event nicht zu sagen.

Dahlgren zuckt (noch) mit den Schultern

Volvo-Fahrer Robert Dahlgren (Polestar) hält sich aus dieser Diskussion heraus. "Wir haben noch nicht den erforderlichen Spielraum, um wirklich darüber nachzudenken, in Q1 auf Platz zehn zu fahren", gesteht der Schwede. "Wir kämpfen derzeit um den Einzug in Q2. Im Augenblick ist das also noch kein Thema für uns, doch in ein paar Wochen könnte es vielleicht ganz anders aussehen."

"Für mich kann es jedenfalls nur gut sein, denn wenn sich jemand verzockt." Robert Dahlgren

"Für mich kann das jedenfalls nur gut sein, denn wenn sich jemand verzockt, habe ich möglicherweise die Chance, in Q2 an den Start zu gehen", meint der WTCC-Neuling und merkt an: "Ich denke, für die Fahrer und ihre Rennställe wäre es am besten, wenn es eine Qualifikation gäbe, in der man zu jedem Zeitpunkt einfach nur Vollgas geben müsste." Optionen für das Zeitfahren hat man schließlich genug.

"Man kann natürlich auch für beide Rennen die gleiche Startaufstellung hernehmen, doch dann hat man zwei identische Rennen", sagt Coronel. "Deswegen dreht man ja einige Plätze herum, um die Läufe noch interessanter zu machen. Man hat zwei unterschiedliche Rennen. Logisch wäre: Zwei Qualifikationen, da wir ja nun zwei Rennen fahren. Dann hätte man mehr Möglichkeiten."

Weitere Ideen für die Qualifikation

"Ich kann aber durchaus verstehen, dass es da auch kommerzielle Gesichtspunkte gibt, welche die Verantwortlichen in Betracht ziehen müssen", meint der "fliegende Holländer" und fügt hinzu: "Wir haben halt das Konzept, dass im ersten Rennen der Schnellste gewinnt. In Lauf zwei bieten wir den aus kommerzieller Sicht wichtigen, spannenden Rennsport. So einfach ist das", erläutert Coronel.

"Wenn man im Rennen eins ein Problem hatte, hat man noch immer eine Chance in Lauf zwei." Fredy Barth

Barth bringt noch eine andere Idee ins Spiel: "Wenn man schon eine Veränderung machen will, dann fände ich die Variante der Superbike-WM nicht schlecht. Für das erste Rennen gibt es eine ganz normale Qualifikation, die Startaufstellung des zweiten Laufs setzt sich aus den schnellsten Rennrunden zusammen. Damit hat man eine sportliche Komponente, die das Rennen gestaltet."

"Wenn man im Rennen eins ein Problem hatte, hat man dadurch noch immer eine Chance in Lauf zwei. Da kann auch nicht taktiert werden, was ich recht spannend finde", sagt der Schweizer. Und falls alle Stricke reißen? "Dann sollten die Verantwortlichen ein paar schöne Gridgirls hinstellen. Auf diese Weise bleiben die Leute auch am TV. Die Masche zieht überall - und das schon seit Jahrzehnten..."

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