WEC-Kolumne: Das Sicherheitsparadox von FIA und ACO

3:15 Minuten in Le Mans sind ein Problem, doch bei Reifenwärmern riesige Gefahren einzugehen nicht - Es ist an der Zeit, Sicherheit im Motorsport neu zu denken

(Motorsport-Total.com) - Liebe Freunde der Hypercars,

Titel-Bild zur News: Unfall von Brendon Hartley im Spa-Qualifying: Die WEC-Slicks sind kalt glatt wie Eis

Unfall von Brendon Hartley im Spa-Qualifying: Die WEC-Slicks sind kalt glatt wie Eis Zoom

Rennfahrern kann man vieles nachsagen, aber einen Mangel an Sarkasmus sicher nicht. "Wie viele Chassis müssen wohl zerstört und neu aufgebaut werden, um die CO2-Einsparung der Reifenwärmer wieder aufzuzehren?", lautet ein geflügeltes Wort, wenn im Fahrerlager über das Verbot von Reifenwärmern diskutiert wird. (So liefen die 6h Spa 2023)

So auch beim Prolog der Langstrecken-Weltmeisterschaft in Sebring. Nachdem James Calado mit seinem Ferrari 499P auf kalten Reifen abgeflogen war, wurden mahnende Stimmen laut. "Wir riskieren im Laufe der Saison schwere Unfälle, wenn wir mit kalten Reifen aus der Box fahren", sagte er damals unserem englischsprachigen Schwesterportal 'Motorsport.com Global'.

Auch Sebastien Buemi könnte sich nach Ende seiner Rennfahrerkarriere als Prophet versuchen. Ebenfalls nach dem Prolog in Sebring: "Das Schlimmste ist der Geschwindigkeitsunterschied zwischen kalten und warmen Reifen. Das ist hier in Sebring schon gefährlich. Aber wartet erst einmal Spa ab."

Eineinhalb Monate später stehen wir hier und haben bei den 6 Stunden von Spa zum Teil schwere Unfälle gesehen, die auf das Verbot der Reifenwärmer zurückzuführen sind. Sogar Profis verloren die Kontrolle bei Geschwindigkeiten, die selbst Straßenautos erreichen. Im Freien Training kam es zu einem Unfall, genau wie Buemi es vorausgesagt hatte.

Man fasst sich an den Kopf: Wie kann dieselbe FIA, für die die Sicherheit im Motorsport an oberster Stelle steht, derart handeln? Da werden im Namen der Sicherheit legendäre Rennstrecken durch Schikanen zerschnitten, Auslaufzonen quadratkilometerweise asphaltiert, offene Cockpits abgeschafft, Autos per Reglement langsamer gemacht - nur um dann auf diese Weise eine noch größere Gefahr zu beschwören.


Fotos: WEC 2023: 6 Stunden von Spa, Rennen


Um es kurz zu machen: Das Verbot von Reifenwärmern ist nicht falsch, aber es ist der falsche Zeitpunkt. IndyCar, Super GT und viele andere Serien zeigen, dass guter und sicherer Motorsport auch ohne Reifenwärmer möglich ist. Aber diese Serien machen das schon seit vielen Jahren.

Die aktuelle Kombination aus Reifen und Boliden in der WEC ist für eine solche Maßnahme momentan nicht geeignet - egal ob Goodyear oder Michelin, egal ob Hypercar, LMP2 oder GTE. Eine neue Reifengeneration müsste entwickelt werden, die sich leicht aufwärmen lässt.

Die Warnungen waren deutlich zu vernehmen - etwa als der siegreiche Porsche beim IMSA-Rennen in Long Beach das gesamte Rennen auf einem Reifensatz absolvierte, weil das Aufwärmen frischer Reifen nach dem Boxenstopp zehn Minuten gedauert hätte.

Das Problem geht über die WEC hinaus

Das viel größere Problem: Wieder einmal zeigt sich ein Sicherheitsparadoxon, das bei der FIA in verschiedenen Serien schon lange vorherrscht. Offensichtliche Gefahren werden sofort angegangen, latente Gefahren einfach in Kauf genommen.

Erinnern wir uns an die Nürburgring-Nordschleife im Frühjahr 2019. Kurz vor dem Saisonstart kam von der FIA die "Empfehlung", angesichts der immer schneller werdenden GT3-Boliden die Leistung in der SP9 um fünf Prozent zu reduzieren.

Alle schlugen die Hände über dem Kopf zusammen, denn dadurch wurde es alles andere als sicherer. Die GT3-Fahrzeuge wurden zu immer riskanteren Manövern in den Kurven gezwungen, weil sie auf den Geraden nicht mehr an langsameren Fahrzeugen vorbeikamen.

Glücklicherweise gelang es dem Technikausschuss des ADAC Nordrhein mit viel Sachverstand, im Laufe der Zeit langsam wieder zu den alten Leistungswerten zurückzukehren. Aber bis heute dürfen die Fahrzeuge der Klasse SP9 auf der Nordschleife nicht mit der Leistung der GT3-Boliden auf anderen Strecken fahren.

Ein weiteres Beispiel: Als 2017 die letzte Generation der World Rally Cars in der Rallye-Weltmeisterschaft eingeführt wurde, die deutlich schneller war als ihre Vorgänger, griff die FIA rigoros durch, als auf einigen Wertungsprüfungen die Durchschnittsgeschwindigkeit von 130 km/h überschritten wurde - ein interner Schwellenwert bei der FIA.

Die Rallyes mussten ihre Streckenführung teilweise drastisch ändern. Prominentestes Opfer war die Ouninphja-Prüfung der Rallye Finnland, das Aushängeschild der Rallye. Sie wird seit 2018 nur noch in geringen Teilen befahren.

Stattdessen wurden neue Prüfungen auf engeren Nebenstraßen hinzugefügt. Wer die Fahrer fragte, bekam eine eindeutige Antwort: Sicherer war es auf diesen engeren Wegen sicher nicht. Aber Hauptsache, die Durchschnittsgeschwindigkeit stimmte wieder auf dem Papier.

Zurück zur Le Mans-Szene: Auch auf dem Circuit de la Sarthe waren die Boliden sowohl der FIA als auch dem ACO zu schnell. Beide Seiten hatten die Leistungsausbeute der LMP1-Boliden nach dem Reglement von 2014 völlig unterschätzt. Im Jahr 2015 wären Qualifyingzeiten von 3:12 Minuten möglich gewesen. Doch aus Angst vor Kurzschlussreaktionen verzichteten die Hersteller auf eine solche Zeitenjagd.


Fotostrecke: Unfall von Brendon Hartley im 6h-Spa-Qualifying

In einem ersten Schritt wurde die Systemleistung der damaligen Hybrid-Raketen in Le Mans ab 2016 auf 1.000 PS begrenzt. Mit der Einführung der Hypercar-Klasse verfolgt der ACO das Ziel, wieder auf 3:30 Minuten im Renntrimm zu kommen. Auch hier wurde eine vermeintlich große Gefahr bekämpft, nur um dann die Reifenwärmer zu verbieten, was zu noch gefährlicheren Situationen führen kann.

Hört endlich auf die Fahrer!

Warum reagiert der Automobil-Weltverband einerseits mit solcher Härte, fördert aber andererseits Maßnahmen wie den stehenden Restart in der Formel 1 oder das Verbot von Reifenwärmern in der WEC, was wesentlich gefährlicher ist? Warum ist man blind für diese Gefahr?

Hier müssen wir auf die menschliche Psychologie schauen. Die Evolution hat uns Menschen sehr erfolgreich darauf getrimmt, konkreten Gefahren sofort zu begegnen. Wenn unsere Vorfahren einem wilden Raubtier gegenüberstanden, mussten sie sofort handeln - angreifen oder fliehen. Auch wenn das Raubtier vielleicht gar keinen Hunger hatte.

Weniger erfolgreich war der Evolutionsprozess leider dabei, uns Angst vor einer Maus einzuflößen, die lebensgefährliche Krankheitserreger in sich trägt. Unsere Vorfahren hielten sie für völlig harmlos - obwohl die Folgen weitaus dramatischer sein konnten als bei jedem Raubtier. Es braucht Expertise und den menschlichen Verstand, um die Gefahr zu erkennen. Oft aber reagieren wir erst, wenn die Gefahr konkret geworden ist.

Das gilt auch für die Öffentlichkeit: Hätten wir diese Kolumne nach dem Prolog in Sebring geschrieben, wäre sie wahrscheinlich nicht auf halb so viel Interesse gestoßen wie jetzt, nachdem etwas passiert ist. (Interessante Hintergründe zur menschlichen Gefahreneinschätzung)

Übersetzt in den Motorsport: Ob 3:15 Minuten in Le Mans, 7:45 Minuten auf der Nordschleife oder 150 km/h auf der Rallye-Prüfung - die Zahlen sind das Raubtier. Die Gefahr ist objektiv für jeden sofort erkennbar. Einen Aufprall mit 200 km/h überlebt man eher als einen mit 300 km/h. Einfache Logik.

Die Folgen eines Verbots von Reifenwärmern sind nur mit Fachkenntnis und Verstand zu verstehen. Und hier wurden offensichtlich alle Signale überfahren. Die eigentlichen Experten, die Fahrer, wurden wieder einfach übergangen, wie auf der Nordschleife oder im Rallyesport.

Jetzt ist der Schlamassel von Spa passiert und plötzlich ist das Verbot der Reifenwärmer eine konkrete Gefahr, die für jeden sichtbar ist. Mein Tipp: Schon in Le Mans sind die Öfen wieder da. Alles andere wäre an Fahrlässigkeit auch kaum zu überbieten.

Dennoch bleibt die Botschaft: Hört in Sachen Sicherheit endlich auf die Fahrer! Ein Nordschleifen-Fahrer eines kleinen Autos würde sich auf der Döttinger Höhe lieber mit 320 km/h überholen lassen, wenn der andere dafür in der Flugplatz-Doppelkurve nur 40 statt 70 km/h Überschuss hätte.

Ein Rallyefahrer kann auf einer weitläufigen Prüfung mit 150 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit sicherer sein als auf einer mit 100 km/h, wenn die Bäume direkt am Streckenrand stehen. (Der jüngste tragische Unfall ereignete sich bei äußerst niedriger Geschwindigkeit, doch die FIA spricht gleich wieder über das Tempo der Rally1-Boliden)

Und Le Mans ist mit 1.500 PS und Reifenwärmern sicherer als mit 700 PS und ohne. Es ist an der Zeit, sich beim Sicherheitsdenken von nackten Zahlen zu lösen und das Thema ganzheitlich zu betrachten.

Der nächste Gefahrenhammer steht schon bevor

Das nächste Ei hat man sich für die 24 Stunden von Le Mans mit dem neuen Safety-Car-Reglement schon ungeniert ins Nest gelegt. Vielleicht noch nicht für dieses Jahr, denn die Abstände zwischen den Hypercars sind derzeit noch so groß, dass ein Grande Finale im Stile der 24 Stunden von Daytona 2023 wohl noch nicht zustande kommen wird.

Aber lassen wir die Hersteller ihre LMH- und LMDh-Boliden zu Ende entwickeln und verstehen. Dann stehen wir in Zukunft vor dem möglichen Szenario eines 30-minütigen Showdowns mit zwölf Hypercars in einer Runde, die um den größten Einzelsieg kämpfen, den es im Motorsport zu gewinnen gibt.

Dank BoP mit gleichen Voraussetzungen. Klassische Langstreckenfaktoren wie Materialschonung, unterschiedliche Stintlängen und Philosophien werden durch die Gleichschaltung komplett ausgeblendet. Auch hier zeigt ein Blick auf die Nordschleife, zu welcher Verrohung das geführt hat. (Ich habe das hier schon einmal thematisiert)

Was ist nun gefährlicher? Ein Rennen mit 1.500 PS starken LMP1-Boliden wie 2015, als der Sieger eine Runde Vorsprung auf den Zweiten und zwei Runden Vorsprung auf den Dritten hatte? Oder ein 30-Minuten-alles-oder-nichts-Haufdrauf-Rennen zwischen einem Dutzend 700 PS starker Hypercars, die noch dazu Slalom um notdürftig zusammengeflickte GT-Fahrzeuge fahren müssen, die sich irgendwie ins Ziel schleppen wollen?

Sollte dieses Szenario eintreten und dabei etwas passieren, sagt nicht, dass wir nicht gewarnt hätten. So wie es die Fahrer nach dem WEC-Prolog 2023 in Sebring vor dem Verbot der Reifenwärmer getan haben.

Euer


Gerald Dirnbeck