Kolumne zum WEC-Auftakt: ACO noch nicht reif für das Goldene Zeitalter

Die WEC wird 2023 wieder stärker ins Licht der Öffentlichkeit treten - Zuvor jedoch muss der ACO noch einiges in den Griff kriegen - 2022 ist die letzte Chance dafür

Titel-Bild zur News: Die WEC steht kurz vor einem Goldenen Zeitalter, doch dieses ist bedroht

Die WEC steht kurz vor einem Goldenen Zeitalter, doch dieses ist bedroht Zoom

(Motorsport-Total.com) - Liebe Freunde der gehypten Hypercars,

da ist es wieder, dieses Gefühl beim Saisonstart im letzten Jahr vor etwas ganz Großem. Es ist durchaus bekannt: ILMC 2011, WEC 2013 oder auch andere Kategorien, wenn die große Reglementsrevolution noch ein Jahr entfernt ist (IndyCar 2017 sei als Beispiel genannt). Irgendwie ist da das Gefühl: Können wir nicht ein Jahr vorspulen? Was viele von uns angesichts der aktuellen Weltereignisse wohl wirklich gerne tun würden ...

Aber das Jahr 2022 ist für die Langstrecken-Weltmeisterschaft von ganz besonderer Wichtigkeit. Denn derzeit ist der Veranstalter ACO nicht ansatzweise bereit, kommendes Jahr mit zehn - okay, jetzt wohl "nur" noch neun - Herstellern so richtig durchzustarten - falls ByKolles nicht wieder rausgemobbt wird.

Die Vorfreude auf 2023 ist natürlich riesig. Doch wer hinter die Kulissen schaut, wird auf zahlreiche Baustellen stoßen, die in diesem Jahr dringend gelöst werden müssen. Denn 2023 schaut die Öffentlichkeit wieder genau hin und da darf man sich nicht blamieren.

LMH-Balancing schwierig genug - und LMDh kommt erst noch

Die allergrößte Baustelle ist die Balance of Performance (BoP). Hier bestehen Defizite, bei denen es schwer vorstellbar ist, wie das alles in weniger als zwölf Monaten gelöst werden soll. 2023 wird zum ersten Mal einer der größten Preise - wenn nicht der größte Preis überhaupt - im Motorsport mit einem BoP-Reglement vergeben: Der Gesamtsieg bei den 24 Stunden von Le Mans.

Dieses Jahr fahren Le-Mans-Hypercars (LMH) gegen einen altgedienten LMP1, der in sein vergangenes Jahr geht. 2023 treffen die LMH auf die neuen LMDh-Boliden, die noch ein völlig unbeschriebenes Blatt sind.

Bislang hat das nicht wirklich hingehauen. Bis auf eine Poleposition war der Alpine chancenlos gegen den Toyota. Auch haben ACO und FIA wenig Weitsicht bewiesen, dass der Alpine aus Homologationsgründen nur über einen 75-Liter-Tank verfügt. Hätte man durchaus drauf kommen können. Es hat bis Le Mans gedauert, bis man das überhaupt in der BoP überhaupt einmal nominell festgehalten hat.


Fotos: WEC 2022: 1.000 Meilen von Sebring


Glickenhaus hatte wiederum auch nur eine wirkliche Siegchance im Jahr 2021 - in Monza, wo man zuvor eifrig getestet hatte. Ansonsten war schon das Balancing zwischen LMH-Hybrid und -non-Hybrid eine Herausforderung. Glickenhaus verlor in Le Mans vier Runden auf Toyota durch reinen Speed auf einen Toyota, der ursprünglich für ein anderes Reglement gebaut wurde.

Rückblende: Im Herbst 2019 stand ein LMH-Reglement fest. Dieses wurde dann aber umgeschrieben - statt 750 PS sollten die LMH nun 850 PS bekommen. Diese Regel, die James Glickenhaus öffentlich gemacht hat, wurde als "Lex Aston Martin" bekannt. Die Briten hatten sich mit der Leistungssteigerung durchgesetzt, nur um sich schnell wieder zurückzuziehen.

Dann wurde im Januar 2020 die LMDh-Revolution verkündet. Daraufhin wurde das LMH-Reglement im Mai 2021 wieder umgeschrieben, als Toyota mit der Entwicklung des GR010 Hybrid schon längst auf der Zielgeraden war. Letztlich musste das Fahrzeug 60 Kilogramm leichter gemacht werden als ursprünglich vorgesehen (davon sind mittlerweile 30 Kilo durch die BoP schon wieder verkonsumiert).

Toyota trat 2021 mit einem Auto an, das für ein ganz anderes Reglement konstruiert war. Für 2022 kommen die großen Änderungen am Hybridboost hinzu, der jetzt erst ab 190 km/h eingeschaltet werden darf. Allradantrieb hat einfach zu viele Vorteile. Die Maßnahmen, mit denen der Toyota mittlerweile eingebremst wird, muten bereits ziemlich verzweifelt an. Und mit den LMDh-Boliden wurde bislang nicht einmal angefangen.

Folgerichtig durfte Toyota den GR010 Hybrid für 2022 umbauen, ohne Entwicklungsjoker zu verwenden. Erst jetzt wird der Bolide auf dem Stand sein, der für das jetzt gültige LMH-Reglement geeignet ist. Doch wurde er so sehr eingebremst, dass wir in Sebring schon wieder darüber diskutieren, ob die LMP2 die Hypercars schlagen können.

Der Toyota GR010 Hybrid wurde ursprünglich für ein anderes Reglement gebaut

Der Toyota GR010 Hybrid wurde ursprünglich für ein anderes Reglement gebaut Zoom

Eine weitere Baustelle, die es dringend zu lösen gilt. Dass Toyota diese Engelsgeduld mitbringt, dass sein Multi-Millionen-Dollar-Flaggschiff nur geringfügig schneller fährt als ein 500.000-Euro-LMP2, darf man schon bewundern. Das werden andere Hersteller aber sicher nicht so entspannt sehen. Zumal die Diskussion nicht mehr neu ist.

Doch selbst, wenn der ACO es schafft, diese Probleme binnen eines Jahres zu lösen - und das wäre bereits eine äußerst starke Leistung -, so ist da immer noch größte Problem. Dieses wurde bei den beiden Finalrennen 2021 so richtig ersichtlich.

Wenn die Hersteller die BoP umgehen

Wenn die Saison 2021 eines gezeigt hat, dann, dass selbst zwei Fahrzeuge, die eigentlich eine bekannte Größe darstellen und nach einem fixen Reglement gebaut sind, kaum gegeneinander anzugleichen waren.

Die automatisierte Balance of Performance hat jahrelang gut funktioniert. Doch 2021 - ausgerechnet in jenem Jahr, als die GTE Pro nur vier Autos von zwei Herstellern sah - versagte das System plötzlich. Es war nur eine Frage der Zeit, denn auch hier gilt: je stärker das Schwert, desto stärker der Schild.

Ferrari hat überraschend verbissen um den Titel in der GTE Pro gekämpft. Die Italiener haben die BoP-Macher dabei ziemlich an der Nase herumgeführt. Der Verdacht bestand im Fahrerlager schon länger, dass Ferrari einen Weg gefunden hat, die automatisierte BoP so geschickt zu umgehen, dass ein "Sandbagging" selbst in Mikrosektoren nicht auffällt.

Die Situation eskalierte bei den beiden Bahrain-Rennen, als das Langstreckenkomitee von FIA und ACO mit der "Black Ball"-Regel eingriff und Ferrari Ladedruck nahm. Die Proteste der Italiener waren heftistg und beim 6-Stunden-Rennen fuhren beide Ferrari hoffnungslos hinterher.

6h und 8h Bahrain 2021, Analyse

Differenz Top 40 Prozent schnellste Runden 6h vs. 8h Bahrain - Die GTE-Pro-Ferraris steigerten sich überdurchschnittlich Zoom

Für das 8-Stunden-Rennen erhielt Ferrari die Hälfte des verlorenen Ladedrucks zurück - und sorgte plötzlich für das spektakuläre Finale auf Augenhöhe mit Porsche. Um das Ganze einzusortieren: Es ging um zwölf PS.

Der eigentliche Skandal war nicht der Abschuss

Kurzum: Ferrari hat beim 6-Stunden-Rennen beschissen. Das muss klar und deutlich so gesagt werden. Und es lässt sich anhand von Zahlen belegen: Im Durchschnitt der 40 schnellsten Runden waren die Ferraris #51 und #52 rund 1,8 Sekunden schneller als beim 6-Stunden-Rennen.

Natürlich war das 8-Stunden-Rennen insgesamt schneller, da überwiegend bei Dunkelheit gefahren wurde, während das Ersatzrennen für Fuji eine Hitzeschlacht in der Wüste war. Doch schauen wir uns drei Kontrollfahrzeuge aus der GTE Am an, eines von jedem Hersteller.

Wer sich fragt, warum nicht die GTE-Pro-Porsches als Vergleich: Porsche konnte glaubhaft darlegen, dass man im 6-Stunden-Rennen nach einiger Zeit Dampf rausgenommen hat, weil die 911 RSR-19 überlegen in Führung lagen. Es bestand kein Zwang, mehr als 30 Sekunden Vorsprung rauszufahren und das Material bei der Hitze unnötig zu belasten.

Der Vergleich mit den GTE-Am Fahrzeugen zeigt deutlich, wie sehr Ferrari beim 6-Stunden-Rennen Performance zurückgehalten hat. Alle drei Fahrzeuge fuhren im 8-Stunden-Rennen ungefähr eine Sekunde im Durchschnitt der schnellsten 40 Prozent ihrer Runden schneller als im 6-Stunden-Rennen.

6h und 8h Bahrain 2021, Analyse

Top 40 Prozent schnellste Runden - 6h vs. 8h Bahrain Zoom

Selbst der Ferrari der "Iron Dames" #85, der genau wie die AF-Corse-Boliden 0,04 bar mehr Ladedruck im 8-Stunden-Rennen zur Verfügung hatte, konnte sich nicht ansatzweise so stark verbessern wie die Werks-488er. Im Gegenteil: Die Verbesserung fiel hier sogar am geringsten aus.

Und das ist noch nicht alles: Auch bei den 24 Stunden von Daytona fiel Ferrari durch Sandbagging auf - und kam erneut davon. Auch hier lässt sich anhand von Zahlen darlegen, wie sehr Ferrari Performance zurückgehalten hat.

Wenn es schon mit zwei Autos nicht klappt...

Machen wir uns nichts vor: Wenn Ferrari das so geschickt kann, können andere das auch. Es gibt mindestens einen weiteren Hersteller, der das Spiel ebenso beherrscht. Das fiel nur dummerweise zufällig auf, als ein Amateurfahrer in Fuji in einem Freien Training versehentlich voll stehen ließ und im ersten Sektor absolute GTE-Bestzeit fuhr, vor allen GTE-Pro-Boliden.

Tricksen, Täuschen und Tarnen also schon hier an allen Ecken. Doch wir müssen uns eingestehen: So schön die GTE-Pro-Kämpfe gewesen sein mögen, vom Prestige her ist der Gesamtsieg bei den 24 Stunden von Le Mans noch einmal eine ganz andere Nummer.

Je höher der Einsatz ist, umso raffinierter werden die Tricks. Und es steht nun einer der ultimativen Preise im Motorsport zur Debatte. Hat Ferrari beim Finale 2021 vielleicht schon einmal für 2023 geübt? Schauen, wie weit man gehen kann? Das wird man nur bei AF Corse wissen.

Jedenfalls war mein Gedanke nach dem Rennen zufällig genau derselbe wie bei Porsche: Wenn es FIA und ACO bislang nicht hinbekommen, zwei Autos, die nach demselben Reglement aufgebaut und seit Jahren eine bekannte Größe sind, fair gegeneinander anzugleichen, weil die Hersteller tricksen, wo es geht: Wie soll das dann bei neun Herstellern funktionieren, bei denen die Hälfte der Fahrzeuge momentan noch nicht einmal existiert, und noch wesentlich mehr auf dem Spiel steht?

Die LMDh-Boliden sind momentan noch eine völlig unbekannte Größe

Die LMDh-Boliden sind momentan noch eine völlig unbekannte Größe Zoom

Beim jetzigen Stand der Dinge drohen die 24 Stunden von Le Mans 2023 zu einer BoP-Farce zu werden. Das gilt es zu verhindern, sonst könnte die wunderbare Hypercar-Welt sehr schnell wieder zusammenbrechen. Momentan ist mir nicht klar, wie der ACO das alles innerhalb eines Jahres bewerkstelligen will.

So sehr wir uns alle freuen, dass die WEC aus ihrer Sauregurkenzeit bald herauskommt: Die Hürden, die für ein faires Rennen 2023 zu nehmen sind, sind gigantisch. 2022 mag noch einmal ein Übergangsjahr sein, doch dieses von außerordentlicher Wichtigkeit, wenn das Goldene Zeitalter wirklich golden werden soll.

Euer


Gerald Dirnbeck

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