• 01.10.2012 17:33

  • von Dominik Sharaf

Wie die Formel 1 Orwell vor Neid erblassen ließe

Mit welchem Tempo der Datenverkehr in der Königsklasse heute abläuft, welche Visionen Magneti Marelli hat und wie der Motorsport der Zukunft aussehen könnte

(Motorsport-Total.com) - Für viele Motorsport-Fans ist eine Horrorvision: Autos, die wie auf einer Carrera-Bahn von der Boxenmauer gesteuert und bedient werden können. Entmündigte Fahrer, die Computern mehr vertrauen als dem eigenen Geschick. Rennsport, der statt mit Öl und Gummi nur noch mit Bits und Bytes betrieben wird. Trotz allem technischen Fortschritt ist deren Machbarkeit Zukunftsmusik. Da die FIA früh eingegriffen hat, als derartige Tendenzen aufkamen, wird es auch vorerst nicht soweit kommen.

Titel-Bild zur News: Sender und Antenne für die Datenübertragung

Kleines Teil, große Wirkung: Sender für die Datenübertragung Zoom

Doch es gibt Elemente einer solchen Science-Fiction-Welt, die schon heute Realität sind: Telemetrie wird an die Boxenmauer und das TV-Produktionszentrum, seit dieser Saison auch in das Büro der Rennleitung, kommuniziert. Die Flaggensignale werden passend zum jeweiligen Streckenabschnitt, in dem sich das Fahrzeug gerade befindet, im Cockpit angezeigt. DRS wird von der Rennleitung per Fernsteuerung aktiviert. Dahinter stecken drei faseroptische Ringe, die auf jedem Grand-Prix-Kurs liegen.

750 Millionen Zahlen im Rennverlauf

Einer für das Fernsehen, einer für die FIA und ein verschlüsselter für die einzelnen Teams - ihre privaten Netzwerke. Hinzu kommt ein viertes, experimentelles Netzwerk namens "V2xRacing", das Magneti Marelli betreibt. In diesem Projekt könnte der Schlüssel zu dem liegen, was alle Traditionalisten der Motorsport-Welt wohl endgültig vergraulen würde. Auch das ist noch Zukunftsmusik, die Gegenwart ist aber beeindruckend genug.

Ein aktuelles Formel-1-Auto sendet während eines Rennens rund 750 Millionen Zahlen an die Box. "Vor 20 Jahren wurden die Daten stoßweise übermittelt, wenn die Wagen an den Boxen vorbeigefahren sind. Mit dem technologischen Fortschritt kamen sie irgendwann ich Echtzeit an, aber mit Lücken, die nachher ausgefüllt wurden", meint Peter Van Manen, geschäftsführender Direktor bei McLaren Electronic Systems (MES) und erklärt, was heute auf den Strecken passiert.

Das Geschehen ähnelt dem in einem Handynetzwerk, bei dem sich die Sender von Station zu Station hangeln - je nachdem, wo sie sich gerade befinden: "Die Autos bewegen sich zwischen Antennen, die die Daten an die Box spielen", schildert Van Manen. Eine wichtige Eigenschaft lassen die Verbindungen jedoch vermissen, weil sie verboten ist: Bi-Direktionalität. Konkret heißt das: Der Wagen kommuniziert mit der Box, die Box aber nicht mit dem Wagen. Das hatte die FIA im Jahre 2002 verfügt.

Probleme aus Hochgeschwindigkeitszügen bekannt

Auch so sind die Datenmengen schwindelerregend: In 100 Rennminuten fließen 40 Gigabyte, wenn man alle 24 Boliden zusammenrechnet - so viel wie in einem großen Krankenhaus in einem Monat. "Da muss ein Netzwerk verlässlich sein", bemerkt Van Manen mit Blick auf die hohen Geschwindigkeiten, Bremsmanöver und Richtungswechsel, bei denen die Kommunikation stattfindet. "Es läuft reibungslos. Anders als bei einem Handynetzwerk wissen wir, wo sich die Wagen befinden werden und kennen die Umgebung", erklärt der MES-Verantwortliche.

Das Problem ist eines, das es auch im Alltag gibt: bei Zugnetzwerken. Jenseits der Marke von 100 Kilometern pro Stunde im ICE oder TGV neigen diese dazu, den Dienst zu versagen. "Hier reden wir über Autos, die über 320 Kilometer pro Stunde auf dem Tacho haben - da sind unsere Probleme nicht anders", erläutert Van Manen die extremen Bedingungen, unter denen Daten in der Formel 1 reisen müssen. Aber was steckt hinter dem vierten Netzwerk von Magneti Marelli?

"Wir haben die gleichen Probleme wie ein Hochgeschwindigkeitszug." Peter Van Manen

Es handelt sich um ein Projekt, mit dem alle vernetzen Partner - also die Teams, die FIA und die TV-Produktion - vorsorgt werden sollen. "Wie auf einem Flughafen", vergleicht Roberto Dalla. "Wir kommen mit unseren Computern herein, schalten sie ein, verbinden uns. Warum also nicht auch in der Formel 1?", fragt sich der Motrorsportchef von Magneti Marelli. "Die Teams sollten in der Lage sein, an den Strecken anzukommen, ihr Equipment auszupacken und mit jedem zu kommunizieren."

Der Bolide, die rollende Jukebox

Die Lösung dafür, die der italienische Zulieferer seit dem Saisonauftakt in Melbourne bei jedem Grand Prix testet, soll Kosten reduzieren, für mehr Sicherheit sorgen und Erkenntnisse für Serienwagen fördern. Die Eckdaten des Systems sind beeindruckend: 54 Megabyte pro Sekunde fließen, die Übertragungszeiten sind verschwindend gering. "Wir haben mit bekannter Technologie, nämlich Wireless LAN, angefangen - wir können diesen Standard bemühen und ihn anpassen", erklärt Dalla.

Im Moment leistet Magneti Marelli Überzeugungsarbeit bei den Teams und der FIA. Das Unternehmen will damit punkten, dass mit höheren Bandbreiten die Verarbeitung des fünffachen Datenvolumens möglich wäre. Außerdem arbeitet es mit einer Technik, die dem Voice-over-IP-Dienst Skype sehr ähnlich ist. Dalla geht ins Detail: "Heute haben wir Funk für Telemetrie und Funk für Audio. Können wir die Stimmübertragung digitalisieren, können wir auch eine bessere Sprachqualität erreichen, weil sie sich besser rekonstruieren lässt."

Datenübertragung für Stimme, Telemetrie und Video

Datenübertragung für Stimme, Telemetrie und Video Zoom

Einfach gesagt heißt das: Analoge Daten sind nach der Übertragung schwierig wieder zusammenzusetzen, was zu Qualitätsproblemen führt - wie bei einem Puzzle. Digitales Material besteht nur aus Einsen und Nullen, es gibt weniger Fehler und im Umkehrschluss bessere Qualität. Keyvan Sangelaji sprich von dem Klang einer mp3-Datei: "Kristallklar. Man könnte Musik aus dem Auto herunterladen, kein Witz", sagt der Magneti-Marelli-Technikchef. "Wir haben es mit 'Johnny B. Goode' schon ausprobiert." Allerdings in einem Testfahrzeug, nicht im Formel-1-Boliden.

Direkter Funkverkehr zwischen Piloten denkbar

Und es geht noch mehr, denn auch Videos flogen bei so hohen Bandbreiten schon durch die Luft. "Das System ist noch nicht ausgereift, es wird noch entwickelt. Aber wir sind zuversichtlich, dass wir sehr bald am Ziel sind", führt Sangelaji aus. Trotz aller Nähe zum Endprodukt: Mit dem Wireless-LAN aus dem Elektromarkt hat das Formel-1-System wenig gemein. "Es ist ein klar definierter Standard: das Niveau der Hardware, der Treiber, der Software. Wir verwenden nur den Chipsatz", sagt er weiter.

Der Rest wäre gar nicht kompatibel, würde nicht die Bandbreiten ermöglichen, die Magneti Marelli will. "Es ist das gleiche Prinzip, aber letztendlich ist es dann doch kein Wireless-LAN, wie wir es kennen", stiftet Sangelaji Verwirrung. Eine mögliche Anwendung der Technik besteht in der Kommunikation von Auto zu Auto, was die Sicherheit erhöhen könnte. Denn momentan läuft noch alles über die Rennleitung ab, direkten Austausch gibt es nicht - Gedankenexperimente schon.

Als Michael Schumacher in Spa-Francorchamps im Jahr 1998 David Coulthard ins Heck knallte, als der ihn eigentlich hatte vorbeilassen wollen, wäre direkte Kommunikation vielleicht ein Mittel gewesen, den Unfall zu verhindern. Auch Sangelaji denkt an den Vorfall: "Es würde die Sicherheit bei starkem Regen erhöhen, wenn das rote Licht nicht mehr sichtbar ist. Wir könnten dann Informationen ins Cockpit senden wie bei einer automatischen Abstandsregelung im Straßenauto."

Steuert bald das Netzwerk statt dem Fahrer?

Wann es wirklich soweit sein wird, bleibt offen. Dalla gibt sich zurückhaltend: "Alles, was ich sagen kann, ist, dass unser Vorstand voll hinter V2xRacing steht." Dabei sind sogar Systeme, die gänzlich ohne menschliche Hilfe auskommen, längst keine Science Fiction mehr. Volkswagen hat es bereits geschafft, einen Audi TTS ohne Piloten die Strecke des Pikes-Peak-Bergrennens in Utah abfahren zu lassen - im Renntempo. Google werkelt an einer Lösung, die es bereits jetzt schaffte, über 400.000 Kilometer zurückzulegen - mit nur einem einzigen Malheur.

Der Schlüssel für den Erfolg solcher Systeme liegt darin, möglichst wenig Informationen von Außen einzugeben, wie Ex-Formel-1-Konstrukteur Gary Anderson erklärt: "Sie befehlen dem Auto, dass es nach rechts oder links lenken, bremsen oder beschleunigen soll. Den Rest erledigt der Wagen basierend auf den Parametern." Dass derartige Technik keinen Einzug in die Formel 1 der Gegenwart gefunden hat, ist einem strikten Reglement zu verdanken.

Timo Glock

Macht Funkverkehr das rote Licht bald überflüssig? Zoom

Denn die FIA hat entschieden reagiert, als die neue Technik aufkam. Damit haben die Regelhüter auf lange Sicht eine Vision verhindert, die Traditionalisten vorkommen muss wie aus George Orwells "1984" oder "Matrix". "Du brauchst keinen Starter, keine Streckenposten oder ein Safety-Car. Das Netzwerk kann alles erledigen. Gibt es einen Unfall, bremst es die Autos, bis sie die Gefahrenstelle passiert haben", erklärt Anderson.

Auch die schwarz-weiß karierte Flagge wäre obsolet, würde ein Computer die Formel-1-Renner nach der Zieldurchfahrt "einfrieren". Dalla wird vorsichtig, wenn es um fundamentale Schritte wie diesen geht: "Lassen wir den Sport entscheiden, wie er die Technologie einsetzen will."