Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Toto Wolff

Die goldenen Jahre der silbernen Pfeile sind vorbei, glaubt Christian Nimmervoll, und beginnt mit der historischen Aufarbeitung einer glanzvollen Ära

Titel-Bild zur News: Toto Wolff und Andy Cowell

Andy Cowell (rechts) hat das Team von Toto Wolff im Sommer 2020 verlassen Zoom

Liebe Leser/-innen,

die goldenen Jahre der silbernen Pfeile, die scheinen vorbei zu sein in der Formel 1.

Seit 2014 hatte Mercedes den anerkannt besten Motor. Ich erinnere mich noch daran, 2013 Gast bei Mercedes in Brixworth gewesen zu sein, und lange bevor das erste Rennen mit den neuen Hybrid-Powerunits gefahren war, war das Team felsenfest davon überzeugt, dass man für die neue Ära der Formel 1 den richtigen Motor hat.

Dem war dann auch so. Acht Jahre lang war gegen Mercedes kein Kraut gewachsen, achtmal hintereinander gewann man die Konstrukteurs-WM. Und im Sog des Werksteams schwangen sich mit Mercedes-Power auch Kundenteams wie Williams und Force India zu Höchstleistungen auf.

Doch 2022 bricht in der Formel 1 ein neues Zeitalter mit einem neuen Reglement an, und das scheint neue Sieger zutage zu fördern. Ferrari kann plötzlich wieder Rennen gewinnen, und Red Bull merkt man die Spuren des WM-Duells 2021 doch nicht so an, wie das viele erwartet hatten.

Mercedes dafür schon.

Nur noch Nummer 3: Hat Helmut Marko recht?

Helmut Marko sagt, Mercedes hat nur noch den drittbesten Motor. Überraschend wäre das nicht. Nach so vielen Jahren des Erfolgs bricht jede Welle einmal in sich zusammen. Mercedes ist lang genug darauf geritten und hat viele Wackler erfolgreich gemeistert, ehe man vom Brett stürzte.

Sollte sich meine Prognose, dass die goldenen Mercedes-Jahre vorbei sind, bewahrheiten, wird in den nächsten Wochen die historische Aufarbeitung einer glanzvollen Ära beginnen. Und in der kommt man meiner Meinung nach an einem Datum nicht vorbei: dem 1. Juli 2020.

Das ist der Tag, an dem Andy Cowell, der langjährige Chef der Mercedes-Motorenschmiede in Brixworth, seine Aufgaben in der Formel 1 niedergelegt und an seinen Nachfolger Hywel Thomas übergeben hat.


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Ich habe Toto Wolff am Sonntagabend nach dem Rennen in Saudi-Arabien eine recht einfache Frage gestellt. Erstens, habt ihr wirklich nur noch den drittbesten Motor, und zweitens, wie hilfreich wäre es jetzt, jemanden mit der Erfahrung von Andy Cowell im Team zu haben?

Man hätte natürlich auch fragen können, ob der schwache Motor ein direktes Ergebnis des Cowell-Abgangs im Sommer 2020 ist; das hätte aber keine Antwort bekommen, weil Wolff mit einem Ja indirekt Cowells Nachfolger Hywel Thomas öffentlich diskreditiert und kritisiert hätte, und dass das nicht passieren würde, das war mir schon vorher klar.

Mein Landsmann flüchtete sich stattdessen in diplomatische Stehsätze. Es sei jetzt wichtig, nicht nur auf einzelne Bereiche des Autos mit dem Finger zu zeigen. Man ziehe gemeinsam an einem Strang, und das Defizit, das man habe, sei "größer als ein Motorendefizit".

Was er nicht sagte: dass die Annahme, der Mercedes-Motor sei nur noch die Nummer 3 im Feld, falsch ist - und das alles mit dem Abgang von Andy Cowell rein gar nichts zu tun hat.

Dabei ist es nicht weiter verwunderlich, dass Mercedes die Auswirkungen der Abgänge einiger guter Mitarbeiter jetzt langsam zu spüren beginnt. Cowell ist ja nicht der Einzige, der Brixworth in den vergangenen Monaten verlassen hat.

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Ben Hodgkinson zum Beispiel ist der Lead-Ingenieur einer ganzen Gruppe von Motorentechnikern, die Mercedes in Richtung Red Bull Powertrains verlassen. Er beginnt am 24. Mai bei seinem neuen Arbeitgeber. Weitere Namen, von denen man weiß, dass sie ihm folgen, sind Steve Blewett, Omid Mostaghimi, Pip Clode, Anton Mayo und Steve Brodie.

Bitter ist das alles für Lewis Hamilton. Man muss ihn nicht mögen, um Mitleid mit ihm zu empfinden. Zuerst wird ihm durch eine mindestens fragwürdige Entscheidung von Michael Masi in Abu Dhabi der greifbar nahe scheinende achte WM-Titel gestohlen, und ein paar Wochen später sitzt der sportliche Absturz seines Teams so tief, dass der Schumacher-Rekord in weite Ferne gerückt ist.

Hamilton hat die Hoffnung, dass sich Mercedes wieder aufrappeln wird, noch lange nicht aufgegeben. Wolff übrigens auch nicht. Und sogar ich bin der Meinung, dass man Mercedes noch nicht abschreiben sollte.

Aber die Realität ist: Der W13 ist als Paket aktuell irgendwo zwischen 0,6 und 0,9 Sekunden langsamer als die Spitze der Formel 1, und selbst wenn Mercedes das mit einem Gewaltakt technischer Entwicklung aufholen sollte, während man davon ausgeht, dass Ferrari und Red Bull gleichzeitig keine großen Schritte gelingen, wird es mindestens Wochen, wenn nicht sogar Monate dauern, bis Hamilton aus eigener Kraft Rennen gewinnen kann.

Bis dahin ist der WM-Zug aber wahrscheinlich längst abgefahren, und bis Hamiltons Vertrag Ende 2023 ausläuft, bleibt ihm nur noch ein weiterer Versuch, Michael Schumachers ewigen Rekord zu knacken.

Vielleicht ist es für die Geschichtsschreibung der Formel 1 ja auch ganz gut, wenn sich zwei Fahrer mit je sieben Titeln den Rekord teilen. Es würde dem Lebenswerk Michael Schumachers nicht gerecht, sollte seine Bestmarke nicht einmal zwei Jahrzehnte überdauern.

Zum Weiterlesen abschließend noch ein Tipp: Auf Motorsport.com gibt's die Schwesterkolumne "Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat" von Stefan Ehlen. Er hat diese nach Saudi-Arabien dem Formel-1-CEO Stefano Domenicali gewidmet.

Ihr

Christian Nimmervoll

Hinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's nicht in erster Linie "Breaking News" aus dem Grand-Prix-Zirkus, sondern vor allem Einordnungen der wichtigsten Entwicklungen hinter den Kulissen.

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