Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Niels Wittich
Eine subjektive Analyse: Was die FIA am Freitagabend verschlafen hat, warum man die Rennleitung nicht kategorisch verteufeln sollte und wie sie improvisieren musste
Liebe Leserinnen und Leser,
© Motorsport Images
FIA-Rennleiter Niels Wittich und sein Team brauchen jetzt dringend Lösungen Zoom
ich bin mir ziemlich sicher, dass viele von euch schlecht geschlafen haben. Es dauerte bis 21:45 Uhr in Spielberg, ehe das Rennergebnis feststand. Und es war diesmal nicht eine Strafe, die nachträglich ausgesprochen wurde, sondern es waren zwölf! Vier davon trafen einen einzigen Fahrer: Esteban Ocon. Diejenigen unter euch, die früh schlafen gegangen sind, weil sie am Montag früh zur Arbeit müssen, wussten also am Sonntagabend noch nicht, wie der Grand Prix von Österreich 2023 ausgegangen ist.
Ihr werdet das aushalten. Wir Journalisten, die wir phasenweise kaum weniger verwirrt waren, auch. 28 Kolleginnen und Kollegen, darunter mein Stellvertreter Stefan Ehlen und ich, saßen um 22:00 Uhr noch im Medienzentrum am Red-Bull-Ring. Für diese Zeit ungewöhnlich viele. Viele waren auch schon abgereist, weil sie Flüge oder Züge gebucht hatten und nicht länger warten konnten. Schwamm drüber.
Im Juli 2022 habe ich Niels Wittich, dem FIA-Rennleiter, eine WhatsApp geschrieben. Er kam damals bei manchen medialen Diskussionen nicht gut weg (Stichwort: Piercingaffäre & Co.), und ich bot ihm einen inoffiziellen Dialog an, damit auch seine Perspektive in der Diskussion abgebildet wird.
Er hat dieses Angebot nie angenommen. Was ich verstehen kann. Seitdem sich Michael Masi (nicht nur) in Abu Dhabi 2021 die Finger verbrannt hat, hält die FIA übertriebene Transparenz rund um den Rennleiter für keine wahnsinnig gute Idee mehr. No Offense. Ich würde das wahrscheinlich genauso handhaben.
Ich kann mir gut vorstellen, was am Montag medial los sein wird, und dass Wittich jemanden gut gebrauchen könnte, der ihn verteidigt. Lang geschlafen kann er nicht haben. Besonders gut eigentlich auch nicht. Denn er und seine Kollegen aus der Rennleitung wissen: Österreich 2023, das ist nicht gut gelaufen.
Tracklimits-Handhabung: Die Vorgeschichte
Wittich kann dafür wahrscheinlich am allerwenigsten. Die Regeln, nach denen er und die Rennkommissare zu entscheiden hatten, wurden zum größten Teil schon vor seiner Zeit aufgestellt. Früher wurden die Tracklimits von Strecke zu Strecke unterschiedlich gehandhabt; manchmal sogar von Kurve zu Kurve. Keiner blickte mehr durch, warum man in Kurve X über die weiße Linie fahren durfte, in Kurve Y aber nicht.
Die FIA tat das einzig Richtige und räumte damit auf. Wer über die Tracklimits fährt, dem wird die Rundenzeit gestrichen. Punkt. Eine klare Regel, die jeder versteht. Und an der es erstmal nichts auszusetzen gibt, finde ich. Klarheit ist immer gut.
Schwierig wird Klarheit an dem Punkt, an dem es, wie am Sonntag auf dem Red-Bull-Ring, rund 1.200 (!) Meldungen von möglichen Fällen gibt. Das führte zu paradoxen Situationen. Weil die Rennleitung mit dem Abarbeiten der Fälle live nicht mehr hinterherkam.
Fall Hülkenberg zeigt Absurdität auf
Die Meldung, dass Nico Hülkenberg wegen Tracklimits auf der Watchlist stand, tauchte beispielsweise erst auf dem offiziellen FIA-Monitor auf, als der Haas-Pilot längst ausgeschieden war. Um ihm die schwarz-weiß karierte Warnflagge zu zeigen, hätte man einen Sportwart in die Haas-Hospitality schicken müssen.
Das ist den Zuschauern vor den TV-Bildschirmen kaum vermittelbar, und denen auf den Tribünen vor Ort noch weniger. Auch wenn ich die Rennleitung ausdrücklich in Schutz nehmen möchte.
Prüfung von 1.200 Fällen: Wie läuft das ab?
Denn: Um Irrtümer auszuschließen, wird jede gemeldete Situation einzeln begutachtet. Das bedeutet im aufwändigsten Fall, dass sich Menschen die Aufnahmen der Streckenkameras anschauen. Das dauert pro Situation, so wurde uns das zumindest am Sonntagabend erklärt, zwischen drei und zehn Sekunden. Akkordarbeit.
Selbst wenn man davon ausgeht, dass dazwischen keine Pausen eingelegt werden, dauert die Begutachtung von 1.200 Situationen theoretisch rund viereinhalb Stunden. Diskussionen zwischen den FIA-Schiedsrichtern, wenn die sich mal nicht sofort einig sein sollten, nicht eingerechnet.
Praktisch geht es wesentlich schneller. Denn nicht alle 1.200 Situationen wurden nach dem Rennen akribisch durchforstet. Zunächst hieß es, man müsse sich nur einen "Bruchteil" genauer anschauen; gegen 23:00 Uhr, bereits nach dem Urteil, wurde mir dann gesagt, man habe "eine Mehrheit" der 1.200 Situationen nochmal geprüft. Teilweise automatisch, teilweise von Menschenhand (beziehungsweise -auge).
83 Verstöße, 12 Strafen, 8 Fahrer
Insgesamt wurden nach abgeschlossener Prüfung im FIA-Urteil 83 nachträgliche Verstöße dokumentiert - die, die bereits während des Rennens geahndet wurden, nicht eingeschlossen. 83 Verstöße, die zu zwölf zusätzlichen Strafen gegen acht Fahrer führten.
Nach einem komplexen Schlüssel. Der geht so: Wer das erste Mal viermal über die Tracklimits fährt, kassiert fünf Sekunden; beim fünften Verstoß gibt's dann zehn Sekunden. Ein Kunststück, das etwa Yuki Tsunoda schon während des Rennens vollbracht hatte, noch vor der Nachuntersuchung.
Wer also insgesamt fünf Verstöße und zwei Strafen mit insgesamt 15 Sekunden auf dem Konto hat, der wird genullt - und dann beginnt das Spiel wieder von vorn. Also wieder fünf Sekunden für viermal, und dann zehn Sekunden beim nächsten Mal.
Ocon schaffte so nicht weniger als 30 Sekunden nachträgliche Strafe: fünf plus zehn plus fünf plus zehn.
Rennkommissare mussten improvisieren
Das Spannende daran: Dass nach den ersten beiden Strafen genullt wird, steht in keinem FIA-Regelbuch geschrieben, und es gab auch keinen Präzedenzfall dafür. Das haben sich die Rennkommissare in Spielberg spontan so überlegt, und damit vermutlich einen Präzedenzfall für die Zukunft geschaffen. Es sei denn, man formuliert dafür jetzt eine neue Richtlinie. Was ich mir nicht vorstellen kann, weil die Formel 1 so ein Chaos hoffentlich nie wieder erleben wird.
Als ich am Sonntagabend aus dem FIA-Büro ging, rief mir jemand hinterher: "Wenn's dann hoffentlich Kiesbetten gibt, ist das alles eh hinfällig." Stimmt: Wo Kiesbetten sind, braucht's keine Tracklimits.
Keine Kiesbetten: Sind wirklich die Motorräder schuld?
Bereits vor dem Start habe ich in der Startaufstellung mit Safety-Car-Fahrer Bernd Mayländer über das Thema geplaudert. Einfach Kiesbetten hin, waren wir uns einig, wäre für die Formel 1 die beste Lösung. Aber: Geht nicht, wegen der Motorräder. Der Red-Bull-Ring ist bekanntlich keine reine Formel-1-Strecke. Auf fast allen permanenten Rennstrecken werden Veranstaltungen auf vier und zwei Rädern ausgetragen.
Ein von den Formel-1-Machern immer wieder vorgebrachtes Argument, das bei weitem nicht so schwarz-weiß ist wie die Warnflagge. Denn auch bei den Motorrädern gibt's, sagen mir meine Kollegen aus unserem Zweiradressort, die gleichen Diskussionen über Tracklimits, asphaltierte Auslaufzonen und Kiesbetten. Ob sich da vielleicht am Ende nur der eine auf den anderen ausredet? Hm.
24 Stunden von Spa 2020: Ein mahnendes Beispiel
Eine ganz einfache Lösung wäre: Vergesst die Tracklimits - und lasst die Fahrer so fahren, wie sie es für am schnellsten halten. Dass das nicht auf allen Strecken möglich ist, wissen Motorsportfans, die die 24 Stunden von Spa 2020 verfolgt haben. In der Bus-Stop-Schikane war die schnellste Linie zehn Meter neben der markierten Fahrbahn. Die Videos von den Trainings muten heute noch an wie Motorsport-Slapstick.
Ich bin aber der Meinung: Auf einer Strecke wie dem Red-Bull-Ring würden so bizarre Szenen nicht passieren. Wer zu viele Meter verschenkt, den straft die Stoppuhr. Bus-Stop in Spa ist diesbezüglich ein ziemlich spezieller Fall.
Die Tracklimits einfach fallen zu lassen, mag nicht auf jeder Strecke eine bessere Option sein. Aber in Spielberg wäre es das gewesen.
Warum hat am Freitag keiner Initiative ergriffen?
Und das ist es, was sich Wittich meiner Meinung nach als Vorwurf gefallen lassen muss: Am Freitagabend hätte man sich, statt stur an alten Regeln festzuhalten, im Sinne des Sports eine pragmatische Lösung einfallen lassen können. Denn da war, nach 47 gelöschten Rundenzeiten im Qualifying, jedem klar, dass es am Sonntag Chaos geben wird, wenn alles beim Alten bleibt.
Aber das übliche Fahrerbriefing am Freitagabend wurde kurzfristig abgesagt (angeblich auf Wunsch der Fahrer selbst, weil es bereits davor ein Treffen gegeben hatte). Vielleicht hätte sich da sonst der gesunde Menschenverstand durchgesetzt, vielleicht wäre da einer aufgestanden und hätte gesagt: "Lasst uns das mit den Tracklimits hier einfach mal vergessen - und uns ab Montag darüber nachdenken, wie wir das Problem dauerhaft lösen können."
Unverständnis bei TV-Kommentatoren
Das ist nicht passiert. Und so mussten sich österreichische Formel-1-Fans um ORF-Kommentator Ernst Hausleitner Sorgen machen, der ob der Undurchsichtigkeit des Rennens während der Live-Übertragung mit dem GPDA-Vorsitzenden Alexander Wurz beinahe einen Herzinfarkt erlitten hätte.
Einer von Hausleitners ironisch gemeinten Vorschlägen während des Rennens gefiel mir besonders gut: Wenn alle 20 Fahrer schon vor dem Rennen eine Fünfsekundenstrafe kassieren, kann ja jeder bedenkenlos ein paar Mal drüberfahren.
Wer hätte da schon gedacht, dass eine Fünfsekundenstrafe bei vielen Fahrern nicht einmal im Ansatz ausreichen würde ..?
Euer
Noch nicht genug gelesen? Hier geht's zur Schwesterkolumne "Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat" von Stefan Ehlen.
Hinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's nicht in erster Linie "breaking News" aus dem Grand-Prix-Zirkus, sondern vor allem streng subjektive und manchmal durchaus bissige Einordnungen der wichtigsten Entwicklungen hinter den Kulissen der Formel 1.
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