Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Lando Norris

Wie das Boxenfunkprotokoll eine Schwäche des McLaren-Teams aufzeigt und warum der verpasste Sieg für Lando Norris vielleicht sogar ganz gesund war

Liebe Leser/-innen,

Titel-Bild zur News: Große Enttäuschung bei Lando Norris (McLaren) nach dem Grand Prix von Russland in Sotschi 2021

Die Enttäuschung war Lando Norris nach dem Rennen in Sotschi anzusehen Zoom

die Formel 1, sie kann grausam sein. Nach dem Grand Prix von Russland, nach diesem begeisternden Drama, da kann's natürlich nur einen geben, der letzte Nacht "schlecht geschlafen" hat, nämlich Lando Norris.

Herzzerreißend die Szene, als er nach dem Rennen im Parc ferme auf Lewis Hamilton zuging, um, ganz der faire Verlierer, zum Sieg zu gratulieren. Ein paar Minuten später kamen die Gratulationen in der Siegerpressekonferenz zurück: "Lando ist noch so jung. Er hat noch viele Rennen vor sich, die er gewinnen wird", sagte der siebenmalige Weltmeister da.

Kurz darauf nahm ich an der Medienrunde von Andreas Seidl teil, dem McLaren-Teamchef. In Zeiten der globalen Pandemie finden diese Medienrunden nach den Rennen nicht vor Ort in der jeweiligen Hospitality des Teams statt, sondern online. Die meisten Teams setzen auf Zoom als Meetingsoftware, McLaren macht's mit Webex (weil Webex-Mutter Cisco ein Sponsor ist).

Als Seidl die erste Frage gestellt bekam, nämlich wie letztendlich die Entscheidung entstanden ist, die McLaren den Sieg gekostet hat, atmete er einmal tief durch. Es war zu sehen und zu spüren: So kurz nach dem Doppelsieg in Monza war die Enttäuschung, nicht gleich das nächste Rennen gewonnen zu haben, enorm. So nah und doch so fern.

Und Seidl war durchaus selbstkritisch. Man könne Norris keinen Vorwurf machen, sagte er. Draußen zu bleiben, das sei eine "gemeinsame Entscheidung" gewesen. Das klang für mich aber ehrlich gesagt anders, als Norris' Renningenieur in Runde 49 fragte, "Was denkst Du über Inters?", und Norris klipp und klar sagte: "Nein."


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Also sprach ich Seidl ganz konkret drauf an, ob er Norris vielleicht nur in Schutz nehmen wollte. Der verneinte aber. Man müsse daraus lernen und solche Ansagen, wenn das Team sicher ist, dass ein Boxenstopp am gescheitesten ist, klarer vornehmen. Norris, so argumentierte er, wäre sicher an die Box gekommen, hätte man ihn eindeutig reinbeordert. "Firm Call" war die Formulierung, die Seidl verwendete.

Also einmal die letzten sechs Runden am Boxenfunk angehört. Und tatsächlich: Abgesehen von der einen Frage, ob er nicht auf Intermediates wechseln möchte, kam vom Renningenieur keine klare Ansage, die Reifen zu wechseln. Und Norris hatte ganz eindeutig das Gefühl, das Rennen auch mit Slicks im Regen gewinnen zu können.

Runde 49, Valtteri Bottas und drei weitere Fahrer sind die Ersten, die auf Intermediates wechseln. Boxenfunk an Norris: "Strecke sehr rutschig von hier bis Kurve 10. Viele Autos rutschen weg." Aber der ist viel zu konzentriert und antwortet: "Ja, halt die Klappe!"

Wenige Augenblicke später wird er informiert: "Hamilton hat es gemacht, er hat auf Inter gewechselt." Gleichzeitig wird der Regen stärker. Norris scheint zu dämmern, dass das von jetzt an ein schwieriges Unterfangen wird: "Ja, ich seh's. Wir müssen jetzt draußen bleiben."

Zwischendurch fordert er geistesgegenwärtig blaue Flaggen ein (Antwort: "Wir sind dran!") und überrundet Nikita Masepin, der sich ganz frech gleich zurückrundet.

In Runde 51, durchs Omega, wird dann klar: Jetzt regnet es zu stark. Norris fährt fast nur noch Schritttempo, trotzdem rutscht er gleich dreimal neben die Strecke.

"Verdammt. Es ist so nass, Jungs. Ich muss an die Box. Ich schaffe das nicht", sieht er ein. Und rutscht auf den letzten Metern vor der Boxengasse nochmal ab, als man ihm gerade sagt: "Boxengasse sehr rutschig."

In der letzten Runde liefert sich Norris ein Duell mit Altstar Kimi Räikkönen, das er auf den letzten Metern doch noch gewinnt. Da ist es am Boxenfunk aber schon ruhig. "P7", wird er informiert - und es gibt keine Antwort mehr. Norris nippt mit dem Helm nach vorn, nimmt die Hände vom Lenkrad. Selbst aus der Cockpitkamera über seinem Helm kann man die Enttäuschung regelrecht fühlen.

Norris und McLaren haben sich den verlorenen Sieg letztendlich selbst zuzuschreiben. Aber vielleicht ist das für die Zukunft eine lehrreiche Erfahrung. So wird man sich hinsetzen und die Ursachen für das Versagen analysieren.

Sonst hätte man (schon wieder) gefeiert und womöglich nach zwei Siegen hintereinander ein übersteigertes Selbstvertrauen entwickelt. Ich bin mir sicher: Zu jung zu viel Erfolg zu haben, das muss für die weitere Karriere nicht zwangsläufig positiv sein.

Man könnte Norris jetzt vorwerfen, dass er nicht die richtigen Instinkte hatte, als es drauf ankam. Stimmt. Aber die hatte Lewis Hamilton auch nicht.

Toto Wolff erzählte via Zoom-Call vom Flughafen aus, dass man schon sehr "adamant" sein musste, um Hamilton zum Boxenstopp zu überreden, also darauf bestehend. Genau das, was McLaren laut Seidls selbstkritischer Analyse nicht gemacht hat.

Das ist eben momentan noch der Unterschied zwischen einem herausragenden Team wie Mercedes und einem sehr guten wie McLaren.

Norris deswegen als Verlierer des Wochenendes zu nominieren, tut mir fast ein bisschen im Herz weh. Er war der tragische Held von Sotschi, für die TV-Zuschauer natürlich der "Driver of the Day". Auf Motorsport-Total.com können Fahrernoten vergeben werden. Vielleicht wird er ja auch bei uns zum Fahrer des Rennens erkoren. Verdient hätte er es.

Ich finde sowieso, dass der 21-Jährige eine echte Bereicherung für die Formel 1 ist. Mit seiner kleinen Statur und seinem knuffigen Gehabe löst er bei mir (und bei vielen Fans) instinktiv sowas wie einen Vaterinstinkt aus. Man möchte ihn beschützen, tröstend in den Arm nehmen; er tut einem nach so einem Rennen wie gestern leid.

Bei Nikita Masepin, da will ich ehrlich sein, würde sich mein Beschützerinstinkt in Grenzen halten.

Ich habe mich köstlich amüsiert, als Norris die Geschichte erzählt hat, wie er beim Essen mit seinem Chef Zak Brown über die Vertragsverlängerung verhandeln musste. Man kann sich das richtig vorstellen, wie Brown sagt, dass es jetzt Summe X mehr geben soll als bisher, und Norris innerlich jubelt, aber äußerlich ganz auf cool macht. Von solchen Erwachsenendingen der "Big Boys", das hat er ganz offen zugegeben, hatte er damals keine Ahnung.

Davon, wann der richtige Zeitpunkt ist, in einem Rennen wie in Sotschi auf Intermediates zu wechseln, bis gestern auch nicht. Das hat er jetzt gelernt. Verträge verhandeln auch. Ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er mit diesem Wissen und seinem Talent seinen ersten Grand Prix gewinnt. Und Zak Brown beim nächsten großen Abendessen noch ein paar Millionen drauflegen muss ...

Übrigens: Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat, nämlich Max Verstappen, das hat mein Kollege Stefan Ehlen (Hier geht's zu seiner Facebook-Seite!) in der Schwesterkolumne auf Motorsport.com Deutschland aufgeschrieben.

Ihr

Christian Nimmervoll

Hinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's nicht in erster Linie "Breaking News" aus dem Grand-Prix-Zirkus, sondern vor allem Einordnungen der wichtigsten Entwicklungen hinter den Kulissen.