Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: der Formel-1-Fan
Warum Lewis Hamilton mit seiner Forderung recht hat und es trotzdem zu einfach wäre, Michael Masi zum Sündenbock für die Farce von Spa zu machen
Liebe Leser/-innen,
© Motorsport Images
Die Fans haben in Belgien kein Rennen gesehen, das man Rennen nennen könnte ... Zoom
wie ich sie liebe, diese Rennen, bei denen ich mich mitten in der Nacht nochmal vor die Kamera setzen muss, um den Usern irgendwelche Paragrafen aus dem Regelbuch zu erklären, die auf den ersten Blick kein Mensch versteht und bei denen man ganz genau lesen muss, um die Entscheidungen der FIA in der Formel 1 nachvollziehen zu können.
Ironie off.
Was war das für ein ... "Rennen"! Max Verstappen gewinnt in Spa. George Russell auf dem Podium. Sebastian Vettel hervorragender Fünfter. Hätte uns dieses Ergebnis vorher jemand verkaufen wollen, wir hätten aus deutschsprachiger Sicht wahrscheinlich einen hohen Preis dafür bezahlt.
Die Realität war dann aber leider ziemlich frustrierend.
Trotzdem hat meiner Meinung nach nicht FIA-Rennleiter Michael Masi am schlechtesten geschlafen. Die Summe seiner Entscheidungen hat den gestrigen Rennsonntag zu dem gemacht, was es war, nämlich zu einer einzigen Farce. Und trotzdem kann ich die individuellen Entscheidungen durchaus nachvollziehen.
Warum ein Montagsrennen nicht möglich war
Nehmen wir die Idee, auf Montag auszuweichen. Geht nicht. So ein Grand Prix hängt nicht nur an zehn hochbezahlten Teamchefs und 20 Fahrern, sondern vor allem an hunderten Ehrenamtlern, die am Montag nicht im Privatcharter in den Kurzurlaub düsen, sondern echten Jobs nachgehen müssen.
Ich habe es schon in unserem Formel-1-Livestream am Sonntagabend erklärt: Der Notarzt, der am Rennwochenende freiwillig ausgeholfen hat, kann seinem Chef im Krankenhaus schlecht erklären, dass er montags nicht zum Job kommt, weil da ein Autorennen ist.
Selbst die Formel 1, für mich die schönste Nebensache der Welt, ist in ihrer Bedeutung enden wollend.
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Oder die Verschwörungstheorie, geäußert auch von Herren wie Lewis Hamilton oder Sebastian Vettel, dass es nur ums Geld ging. Masi schwört hoch und heilig, dass es kurz nach 18:00 Uhr ein Fenster gegeben hat, in dem die Chance bestand, dass das Wetter besser werden könnte. Selbst die Teams hätten das so gesehen und ihn darauf hingewiesen.
Carlos Sainz sagt's ganz richtig: Wenn (wenn!) dem wirklich so war, dann ist es richtig, dass man so lange zugewartet und es dann nochmal probiert hat. Okay, man musste letztendlich einsehen, dass ein Rennen zu gefährlich gewesen wäre. Aber dass bis zum Schluss alles versucht wurde, den zehntausenden Fans vor Ort in Spa ein Rennen zu bieten, das finde ich nicht verwerflich.
Die Sache mit dem Anspruch auf Rückerstattung ...
Eins sollte man an der Stelle vielleicht auch mal klarstellen: Die Fans, so schätze ich das zumindest ein, hätten so oder so keinen Rechtsanspruch auf Rückerstattung des Ticketpreises gehabt, ganz egal ob nun zwei Runden "Rennen" gefahren wurden oder nicht. Bei Freiluftsport wie der Formel 1 kann sowas halt passieren.
Und auch die Formel 1, das behauptet zumindest deren CEO Stefano Domenicali steif und fest, hätte so oder so vom belgischen Veranstalter des Grand Prix die vollen X Millionen, die im Vertrag mit Rechteinhaber Liberty Media vereinbart sind, erhalten. Aus kommerzieller Sicht, sagt er, hätten die zwei Alibirunden hinter dem Safety-Car keinen Unterschied gemacht.
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Dann ist da noch das Weichei-Argument. Nein, ich meine nicht den Ferrari-Sponsor (den schreibt man Weichai), sondern das weiße Ding mit dem gelben Kern, das ich zum Frühstück am liebsten nicht zu hart und mit zu viel Salz esse.
Ich muss zugeben: Regenrennen sind (fast) immer die geilsten Events, die ich in nunmehr 22 Jahren Motorsportjournalismus erlebt habe. Aber es geht dabei halt nicht nur ums Erleben für die Fans, sondern auch ums Überleben für die Fahrer.
Warum die Vergleiche zwischen der modernen Formel 1 und der früheren Formel 1 ebenso wenig zulässig sind wie die Vergleiche zwischen der Formel 1 und irgendwelchen GT-Rennserien (man denke nur an die Gischt), das habe ich im Dialog mit meinem Freund Kevin Scheuren im Livestream am Sonntagabend schon erklärt.
Aber vor allem zählt für mich das Argument: Wäre ich Michael Masi, ich würde nicht den Eltern eines jungen Mannes erklären wollen, dass das irgendwie doof gelaufen ist mit dem Tod ihres Sohnes, weil den Fans eh schon so kalt war, die Pommes in den Foodtrucks alle und irgendwie alle darauf gedrängt haben, das Rennen durchzuboxen.
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Und ja, das mag nach Weichei-Argument klingen, aber in Eau Rouge ist erst vor zwei Jahren ein junger Mann gestorben, es hat in der W-Serie bei Regen mächtig geknallt und am Samstag hat Lando Norris dort Glück gehabt, dass keiner mit vollem Karacho vorbeigefahren ist, als sein McLaren zurück auf die Strecke geschleudert wurde - wie das in einem Rennen halt viel öfter passiert als in einem Qualifying.
Also: Im Großen und Ganzen war die Art und Weise, wie Masi entschieden hat, ziemlich alternativlos.
Und trotzdem ist der Formel-1-Fan für mich der, der letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat.
Ich weiß, wie das ist, wenn man seit Monaten für das Ticket gespart hat und seit Wochen auf den Grand Prix hinfiebert. 1999 habe ich, damals Schüler am Gymnasium, mir ein Gold-Ticket am A1-Ring in Spielberg geleistet. Ganz allein, 17 Jahre jung, bin ich also in den Zug gestiegen, bewaffnet nur mit einem Schlafsack, um mir Alex Wurz & Co. live anzuschauen.
Die Idee war, im Kornfeld neben der Strecke zu schlafen. Das ist praktisch, weil einen da erstens keiner sieht und zweitens niemand Geld dafür verlangt. Der Bauer, dem ich zwei Quadratmeter Weizen zertreten habe, hat mir das inzwischen hoffentlich verziehen!
Soweit war das dann auch ein tolles Wochenende, aber irgendwann, ich glaube, es muss am Samstag gewesen sein, begann es dann halt zu regnen. Die Idee mit dem Bett im Kornfeld war irgendwie plötzlich nicht mehr so spitze, und der Rennsonntag mit großteils nassen Klamotten auch kein Spaß mehr.
Heute ist das eine wunderbare Geschichte, die selbst Christian Horner und seine Frau Geri schon zum Lachen gebracht hat, und mit der sich der eine oder andere Leser meiner Kolumne hoffentlich identifizieren kann.
Aber ich will ganz ehrlich sein: 1999, als ich das live miterlebt habe, war das einfach nur scheiße!
Hut ab: Ihr seid das Herz und die Seele der Formel 1!
Ich finde die Fans, die vor Ort in Spa durchgehalten haben und sich nicht die Laune verderben haben lassen, bewundernswert. Ihr seid das Herz und die Seele der Formel 1! Für mich ging regelrecht die Sonne auf, als immer wieder Zuschauer gezeigt wurden, die ausgelassen getanzt und gefeiert haben. Wahrscheinlich schon mit dem einen oder anderen Bierchen intus, aber was soll's? Alkohol soll ja auch ein bisschen wärmen bei solchem Sauwetter ...
Die- oder derjenige, der jetzt einen Tausender für Tickets für sich, seine Frau und seine zwei Kinder hingelegt hat, stundenlang gefahren ist, um überhaupt nach Spa zu kommen, auf den letzten Kilometern ewig im Stau stand, eine der überteuerten Pensionen buchen musste, 45 Minuten von der Strecke entfernt, weil's in der Nähe eh nix mehr gab - den kann ich verstehen, wenn er heute ein bisschen sauer ist, dass er letztendlich nichts, aber auch wirklich gar nichts gesehen hat.
Ja, irgendwann einmal kann man erzählen: Spa 2021, dieses verrückte Rennen, das abgesagt wurde - ich war dabei! Aber das ist ein bisschen wie mit dem Haus bauen oder mit Schwangerschaften: Schön wird's immer erst Jahre später, wenn alles fertig ist und man vergisst, wie oft man währenddessen geblutet und geweint hat.
Daher halte ich es ganz mit Lewis Hamilton und finde: Ihr solltet zumindest einen Teil des bezahlten Geldes zurückbekommen. Anteilig 50 Prozent des Ticketpreises für den Sonntag (Freitag und Samstag haben ja stattgefunden). Oder alternativ ein Gratisticket für den nächsten Grand Prix in Spa.
Dass euch das Milliardenbusiness Formel 1, das euch gestern im Regen stehen hat lassen, nicht einen Cent zurückgibt, das wäre jedenfalls nicht fair.
Gut geschlafen hat letzte Nacht übrigens auch einer: George Russell. Wohlverdient. Warum, das analysiert mein Kollege Stefan Ehlen in seiner Schwesterkolumne auf Motorsport.com Deutschland.
Ihr
Hinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's nicht in erster Linie "Breaking News" aus dem Grand-Prix-Zirkus, sondern vor allem Einordnungen der wichtigsten Entwicklungen hinter den Kulissen.
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